Wer den Zweiten Weltkrieg altersmässig im Nacken spürte, für den verkörperten die Vereinigten Staaten das Versprechen von Freiheit und Modernität. Dann stand plötzlich auf allem «made in China».
Vor bald dreissig Jahren – ein riesiger Sprung für mich, ein mickriger Schritt für eine Gesellschaft – wohnte ich ein erstes Jahr lang in Amerika. Von Europa kam ich in das mächtigste Land der Welt, dessen Vorfahren vor nicht allzu langer Zeit unseren Kontinent verlassen hatten; es schien mir, als wäre es erst gestern geschehen. Meine Frau war Visiting Professor in Virginia, dem ältesten und aristokratischsten Gliedstaat: nicht im Norden, aber auch nicht in Deep South.
Es stellte sich heraus, dass Lynchburg besser war als New York oder irgendein Loch im Mittleren Westen, um Amerika einigermassen so zu erleben, wie es wirklich war (und nicht den Traum davon), und eine Ahnung davon zu bekommen, auf welchen Weg sich das Land gemacht hatte. Bewegte es sich überhaupt?
Zu Beginn ähnelte es verdächtig jenem Amerika, das mich in Europa bereits Ende der fünfziger Jahre erreicht hatte: Comiczeitschriften, Coca-Cola, Jazz und Rock, Film und Fernsehen, Boxen, Glenn Millers uniformierte Big Band, der Wilde Westen, Popcorn oder der leicht parfümierte Duft von Taschenbüchern aus schlechtem Papier.
Kein anderes Land hat mich weder davor noch danach in seinen Dingen – sieht man von Fussball oder eingelegtem Hering einmal ab – so für sich eingenommen. Und der Feind war besiegt. In «splendid isolation» war Amerika der Herr der Welt, einzigartig reich und überdies grosszügig.
Meine Bewunderung war grenzenlos.
In meiner Jugend kamen unsere amerikanischen Verwandten, sogenannte WASPs («White Anglo-Saxon Protestants»), nach Schweden, um uns zu besuchen – zwei grossgewachsene und dünne, beinahe ausserirdisch anmutende jugendliche Alte in purpurroten wattierten und unverwüstlichen Jeans. Mit ihnen kamen Freiheit und Modernität samt märchenhaften Geschenken an die schwedische Familie: Ich bekam ein richtiges Mikroskop mit Reagenzgläsern, Chemikalien und konservierten Insekten. Es hätte mein Leben für immer prägen können.
Dann reisten sie ab. In Europa, wo sie ja ihre Wurzeln hatten, sollten sie zwei Monate lang eine Grand Tour unternehmen, eine Art sentimentale Bildungsreise, wenn auch sehr amerikanisch, oberflächlich und effektiv. «My God», noch eine Schlossruine? «Enough of castles!» Fahren wir weiter!
Nicht das Gestern, die Zukunft zählt
Fast zwei Generationen später war Virginia anders. Nicht auf dramatische Weise: Die Verbindungen mit Europa waren nach wie vor lebendig, aber für den, der genau hinschaute, reduziert auf einen zivilisatorischen Firnis. War es das letzte Mal, dass Europa sich in Erinnerung rief?
Meine Frau gab einen Spezialkurs über Osteuropa, das kurz davor vom Kommunismus befreit worden war. Mehrere Stipendiaten kamen von dort, die Mehrzahl bildeten allerdings junge Amerikaner, die zudem in Deutsch und Französisch von ebenso amerikanischen Lehrern unterrichtet wurden, die aber über das mangelnde Interesse und darüber, wie wenig in den dummen Köpfen der Studenten hängenblieb, zu seufzen begonnen hatten. Heute kommen die Stipendiaten aus Südostasien, und es wird Chinesisch unterrichtet, Französisch oder Deutsch hingegen kaum mehr.
China?
Das Land und seinen potenziellen Schlagschatten gab es damals schon in brillanten Zeitschriftenessays, die keiner las, und in der Kaufhauskette Walmart mit heute mehr als zwei Millionen Angestellten. Dorthin pilgerte der baseballbemützte Amerikaner in seinem fetten Pick-up, um mit dem, was er als Wechselgeld in der Tasche hatte, alles nur Denkbare zwischen Himmel und Erde zu kaufen; das Auto wurde für zirka einen Dollar pro Gallone (fast vier Liter) betankt.
Auf beinahe allem, was man bei Walmart in die Hand nahm, stand unten «made in China». Nirgendwo «made in Europe». Ich war erstaunt, wie sehr der Amerikaner sich rühmte, den «bösen» Kommunismus besiegt und die Welt in einer Weise geschrumpft zu haben, dass China jetzt auf dem Weg war, sich eine Monopolstellung zu verschaffen, die den Alltag hier am Laufen hielt.
China war nicht wie die Sowjetunion zusammengebrochen. Im Gegenteil.
Konnte das langfristig gutgehen?
War es naiv? Oder schlicht prinzipienlos? Das starke moralische – moralisierende – Engagement war zwar noch vorhanden, aber die Sicht auf den Kommunismus und die Welt war so nonchalant, als hätte es derartige Gefahren niemals richtig gegeben. Das Gestern zählte nicht, nur die Zukunft, die bis in den kleinsten Moment Amerika gehörte. Unser Europa zählte nicht: Nach dem Fall der Mauer sollten dort jetzt alle fast automatisch Demokraten werden. Etwas anderes gab es nicht. Den Gedanken, dass man in einem künftigen Amerika vielleicht mit Stäbchen essen könnte, hätte man für einen schlechten Scherz gehalten, wäre er nicht so vollkommen absurd gewesen.
Erschreckende Unversöhnlichkeit
Die Nation hielt noch zusammen. Die innere Spaltung Virginias war wohl als diskreter Schatten vorhanden; Schwarze behandelte man mit eingelernter Toleranz, mit einer Zurückhaltung, als gehörten sie nicht hierher: Zwischen einem früheren Sklaven, jetzt Friseur oder Müllfahrer, und einem Universitätsprofessor gab es trotz allem einen Unterschied.
Und die Weissen? Untereinander waren sie immer noch solidarisch – obwohl zwei Kolleginnen mittleren Alters aus dem Lehrpersonal plötzlich vor einer schicken Villa aus unserem Auto sprangen, um kurz vor der Regionalwahl Schilder mit dem Namen des republikanischen Kandidaten aus dem (Kunst-)Rasen zu reissen.
Und wir? Die Gäste, die den Wagen lenkten? Für einen Europäer war das alles ein ziemlich harmloser Unfug, fast folkloristisch. Aber wir irrten uns. Was wir sahen, war der idyllische Auftakt dazu, was sich heute als breite Kluft mitten durch Amerika zieht.
Meine Frau wurde streng darauf hingewiesen, nicht mehr die Tür zu schliessen, wenn sie in ihrem Dienstzimmer mit einem Studenten sprach. Sie verstand nicht, warum, bis jemand sie dezent aufklärte: Ohne Zeugen laufe sie Gefahr, wegen Nötigung angeklagt und verurteilt zu werden.
Im Fernsehen ironisierte ein eingeladener Franzose auf höfliche Weise Präsident Clintons Seitensprung mit Monica Lewinsky, mokierte sich über das unreife und provinzielle amerikanische Moralisieren und den Umstand, dass man daraus eine Staatsaffäre machte, obwohl es sich noch nicht einmal um eine Geliebte handelte. So primitiv (das sagte er selbstverständlich nicht)! Mit entschlossener Brutalität wurde er von zwei amerikanischen Kollegen sofort niedergemacht. «America first!»
Damals war mir nicht klar, was diese erschreckende Unversöhnlichkeit zerstören könnte, sollte sie sich nach innen, nicht nach aussen richten.
Heute ist es so weit. Es herrscht Isolationismus. Europa ist verschwunden: Statt um Freihandel geht es darum, für den Schutz vor den Russen zu kassieren; sonst lassen wir das. Das heutige Amerika ist mit sich selbst beschäftigt. Nicht zum ersten Mal. Aber – wie viele behaupten – selbstbezogener als je zuvor.
Historisch gesehen ist das schnell gegangen, während ich, unsicher und sentimental, in einem anderen Amerika hängengeblieben bin. Gewiss ist nur, dass «meine» zwei Amerikas von früher nicht mehr von Bedeutung sind – und dass sie weit mehr miteinander verbindet als mit dem neuen, das jetzt entsteht.
Der schwedische Schriftsteller Richard Swartz lebt in Stockholm, Wien und Sovinjak (Istrien). – Aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer.