Der ständige Vertreter bei der Nato Jacques Pitteloud erzählt, was ihn seine Kriegserfahrung gelehrt hat, wo er die grösste Gefahr für Europa sieht – und was die neutrale Schweiz nun tun muss.

Ein Diplomat sei ein Mann, «der zweimal nachdenkt, bevor er nichts sagt», frotzelte einst Churchill. Er dachte dabei wohl kaum an Charaktere wie Jacques Pitteloud. Der 62-Jährige empfängt uns in Brüssel in einem neoklassizistischen Gebäude an der Place du Luxembourg, wo er seit dem vergangenen Herbst als Botschafter der Schweiz für Belgien und die Nato amtet. «Bienvenue!», sagt er mit sonorer Stimme, die den ehemaligen Kettenraucher verrät. Er ist ein Hüne, das Gesicht kantig, das Haar silbrig.

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«Schillernder, als die Schweiz erlaubt», schrieb die «Weltwoche» einmal über ihn. Und tatsächlich lässt seine Biografie keinen anderen Schluss zu. Pitteloud stammt aus einer Walliser Politikerdynastie, schlug nach Jusstudium und Doktortitel in Zürich aber einen anderen Weg ein. Er startete Ende der 1980er Jahre als Mitarbeiter von Aussenminister René Felber. Mehr seinem Naturell entsprach der Wechsel zum Schweizer Nachrichtendienst, wo sich der Generalstabsoffizier, Panzergrenadier und Kampfsportler rasch einen Namen machte – als Mann für heikle Fälle.

In seiner Freizeit rettete er Angehörige von Schweizern vor dem Genozid in Rwanda und fahndete in Europa nach Kriegsverbrechern, alles mit dem Segen des Bundes. Pitteloud wurde, noch nicht 40-jährig, Koordinator der Schweizer Nachrichtendienste und damit zum obersten Spion der Schweiz, bevor er als «Botschafter für Spezialmissionen» ins Aussendepartement wechselte.

Regelmässig sorgte er dort für Schlagzeilen, etwa als er brisante Auslandeinsätze einer Schweizer Sondereinheit plante – in Somalia und Libyen. Seiner Karriere schadete es nie: Als Botschafter war er in Kenya, als Chef Ressourcen die Nummer drei im Aussendepartement, von 2019 bis 2024 Botschafter in Washington. Und nun also Brüssel.

Monsieur l’Ambassadeur, Sie kennen den amerikanischen Präsidenten Donald Trump aus Ihrer Zeit in Washington. Wie überrascht sind Sie über das, was täglich aus dem Weissen Haus verkündet wird?

In der Aussen- und Sicherheitspolitik ist eine komplett neue Mannschaft am Werk. Ich ging davon aus, dass es unter Präsident Trump anders würde – aber nicht so brutal anders, gerade gegenüber Europa. Hier in Brüssel sind die Politiker und Diplomaten alarmiert. Das gilt gerade auch für die Nato. Die Deutungen gehen noch weit auseinander: Ist das nur Teil seiner disruptiven Politik, um danach den besten Deal herauszuholen? Oder müssen wir von einem ganz düsteren Szenario ausgehen?

Das wäre?

Der Worst Case wäre, wenn die Amerikaner ihren nuklearen Schutzschirm aus Europa abziehen würden. Mit Frankreich und Grossbritannien verbleiben zwei Atommächte. Aber wofür und zu welchem Preis würden sie ihre beschränkten Kapazitäten einsetzen? Wenn das Baltikum angegriffen würde?

Was ist Ihre Antwort?

Ich weiss es auch nicht. Entscheidend ist jedenfalls die Position Washingtons: Stehen die USA unmissverständlich zu Artikel 5 der Nato-Satzung, also dem Bündnisfall bei einem Angriff auf einen Mitgliedstaat, dann stehen die Chancen gut, dass es zu keinem Krieg in Europa kommen wird. Wenn die Message aus dem Weissen Haus ist, dass die Europäer für sich selbst schauen sollen, selbst bei einer weiteren Aggression Russlands, dann wird es gefährlich.

Was macht Sie so sicher, dass Russland über die Ukraine hinaus expansive Ambitionen hat?

Zwei Jahre vor Kriegsausbruch sass ich in Washington mit einem ranghohen Mitglied der Administration zusammen. Ich sagte: Merke dir meine Worte, Präsident Wladimir Putin wird demnächst einen Konflikt entfachen. Er fragte, wie ich darauf komme. Ich antwortete: Wieso sollte ein Land mit dem BIP von Italien eine solch überdimensionierte Armee aufbauen, obwohl weit und breit kein Feind in Sicht ist? Das ist das Einmaleins des Nachrichtendienstes. Heute ist die russische Wirtschaft eine komplette Kriegswirtschaft. Das baut man nicht so schnell wieder um.

Wie schätzen Sie die Strategie Präsident Trumps ein?

Die Signale aus Washington sind uneindeutig, um es diplomatisch auszudrücken. Es gibt ein interessantes Interview von Oprah Winfrey mit Präsident Trump aus dem Jahr 1988. Ich habe es kürzlich wieder geschaut. Schon damals sagte er: Mit unseren Feinden finden wir schon eine Lösung; das Problem ist vielmehr, dass wir von unseren Freunden ausgenommen werden. Das würde er sofort stoppen, wenn er Präsident wäre, sagte er. Präsident Trumps geopolitisches Konzept ist offenbar die Monroe-Doktrin: Die USA haben eine klar definierte Interessensphäre, in der sie auch militärisch intervenieren. Und beim Rest sagen sie: Das ist nicht unser Problem.

Sie klingen besorgt.

Ich beschäftige mich seit fünfzig Jahren mit Militärgeschichte und der Kunst der Kriegsführung. Und die heutige Situation zeigt: Die Machtpolitik ist zurück. Die Welt ist wieder eine Bismarcksche Welt der Grossmächte, in der die Gesetze des Stärkeren zählen. Die Zeiten des regelbasierten Wertesystems sind vorderhand vorbei. Und wenn das Völkerrecht nicht mehr viel zählt, kommen Machthaber auf die Idee, Grenzen zu verschieben. Wenn der Internationale Strafgerichtshof diskreditiert wird, dann werden Kriegsverbrechen zunehmen. Hier sehe ich eine wichtige diplomatische Aufgabe der neutralen Schweiz: Sie muss sich für die Einhaltung des Völkerrechts einsetzen. Es schützt die Kleinen, nicht die Grossen.

Woher kommt Ihre Faszination für den Krieg?

Als junger Mann wollte ich wissen, was Krieg bedeutet. Ich kannte das nur aus den Geschichtsbüchern sowie von Trockenübungen im Militär- und Nachrichtendienst. Ich reiste nach Jugoslawien, nach Rwanda, nach Myanmar. Ich sah das absolut Böse. Wer den Krieg erlebt hat, will nie mehr dorthin zurück. Das unermessliche menschliche Leid, die Verrohung der Gesellschaft, die blitzschnelle Verwandlung von Menschen in Mörder, die Toten. Das vergisst man nie mehr.

Bereuen Sie es, dass Sie in dieser weltpolitisch turbulenten Zeit nicht mehr in Washington stationiert sind, sondern in Brüssel?

Überhaupt nicht. Schon als ich mich für Washington beworben hatte, war Brüssel meine zweite Präferenz. Alle paar Jahre den Posten zu wechseln, ist sinnvoll: Man bekommt sonst zu viel Routine, verliert die Phantasie, den Blick von aussen, gerade in Washington mit seinen Polit-Bubbles. Jetzt bin ich im Zentrum der Europäischen Union gelandet und kann meine sicherheitspolitische Expertise als ständiger Vertreter der Schweiz bei der Nato einbringen.

Die Schweiz ist nicht Mitglied der Nato. Was tun Sie dort überhaupt?

Meine Aufgabe ist es, dem Bundesrat zu berichten, wie die Nato die Weltlage einschätzt, in welche Richtung sie sich entwickelt, was sie von der Schweiz erwartet und was mögliche sinnvolle Kooperationen wären. Und natürlich erkläre ich der Nato unseren Schweizer Standpunkt.

Was nicht so leicht sein dürfte. Die Schweiz hat zwar die Sanktionen gegen Russland übernommen, aber mit ihrem Kurs viel Kritik einstecken müssen. Etwa als sie Nato-Staaten die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial an die Ukraine verbot. Scott Miller, der ehemalige amerikanische Botschafter in Bern, verglich die Nato mit einem Donut – und die Schweiz sei das Loch in der Mitte.

Die Schweiz hat innerhalb von Europa immer eine besondere sicherheitspolitische Stellung gehabt. Das weiss man auch bei der Nato. Und es zweifelt niemand daran, dass wir die gleichen Werte teilen, dass wir kein Brückenkopf für autokratische Regime sind – wie wir es im Kalten Krieg nie für den Kommunismus waren. Es gibt Verständnis für unsere Neutralität und die politischen Realitäten in einer direkten Demokratie. Die Nato-Vertreter, mit denen ich mich austausche, nehmen die Schweiz sehr ernst: als eine der bedeutendsten Wirtschaftsmächte Europas, die zudem im Hochtechnologiebereich führend ist. Als eine multilaterale Partnerin, die Gute Dienste anbietet. Ich habe noch nie die Forderung gehört, wir müssten jetzt endlich beitreten.

Aber?

Die Nato sieht uns kritisch, wenn es um unsere Waffenexportgesetze geht. Oder wenn zu Unrecht behauptet wird, wir würden die russischen Spione auf unserem Territorium gewähren lassen. Sie erwartet, dass wir uns mehr engagieren. Die Schweiz darf nicht das Loch im Donut werden.

Wo muss die Schweiz mehr leisten?

Die Nato hat in den letzten Jahren sehr genau registriert, wie der hybride Krieg intensiviert wurde. Wir befinden uns formal im Frieden, aber es gibt täglich Angriffe aller Art, gerade im Bereich von Cyber, Spionage und Sabotage. Sie machen nicht halt vor den Schweizer Grenzen, weil wir neutral sind. Jeder Staat, der mitmacht bei den defensiven Massnahmen der demokratischen Nachbarn, steigert die Abwehrfähigkeit des Kontinents – und letztlich seines eigenen Territoriums.

In der politischen Debatte in der Schweiz geht oft vergessen, dass die Neutralität nie ein Selbstzweck war. Sondern ein aussenpolitisches Instrument, um das Überleben des Kleinstaats zu sichern.

So ist es. Aber diese Differenziertheit fehlt heute meistens. Es gibt in der Schweiz nicht wenige Neutralitätsabsolutisten, die nur für sich schauen wollen, ohne Kooperation und Solidarität, egal was in der Welt passiert. Sie sagen: Wenn alle so wären wie wir, gäbe es keinen Krieg. Das stimmt, aber halt nur theoretisch. Wir müssen zudem realistisch sein: Es ist nichts gratis auf der Welt. Wir sollten mehr machen im Bereich Cybersecurity, Schutz von kritischen Infrastrukturen von kontinentaler Bedeutung und Logistik. Wir sollten mehr mit der Nato üben. Aber nicht den Bündnisfall. Wir sind ja auch kein Mitglied.

Was bekommen wir dafür?

Ich erzähle Ihnen eine Anekdote zur modernen Kriegsführung. Ende der 1980er Jahre präsentierten die Amerikaner, wie ihre Luftwaffe und ihre Artillerie künftig miteinander kommunizieren konnten. Hierzulande belächelte man das als Science-Fiction. Dann bewiesen die USA im Golfkrieg, dass sie es konnten. In den 2000er Jahren zeigten sie uns mit schönen Powerpoint-Präsentationen die Zukunft des «digitalized battlefield». Die Amerikaner wussten früh, dass der Krieg der Zukunft ein Krieg der Daten sein wird. Staaten, die heute keinen Zugang zu diesen Datenautobahnen haben, sind blind und ausgeliefert.

Das heisst, die Rede von der autonomen Verteidigung ist ohnehin ein Witz?

Selbst das hochgerüstete Israel ist auf die Hilfe der USA angewiesen. Das Modell Israel, also der Versuch einer autonomen Verteidigung, würde uns mindestens 25 Milliarden Franken pro Jahr kosten. Das ist politisch aussichtslos. Die andere Extremvariante ist: Wir wursteln uns weiter durch und behaupten einfach, wir seien verteidigungsfähig. Aber wenn uns ein Aggressor testet, sind wir leider verloren. Das ist unseriös. Wir müssten unsere Soldaten in den Krieg schicken und sagen: Sorry, Leute, wir haben zu wenig aufgerüstet, weil wir politisch keinen Konsens fanden. Und einen Zugang zu relevanten Daten haben wir auch nicht, aber kämpft doch mal! Der sinnvolle Mittelweg ist: Wir optimieren möglichst schnell unsere Armee und überlegen uns, wie wir Zugang zu wichtigen Daten bekommen, ohne die Neutralität aufgeben zu müssen.

Es ist die unbequeme Wahrheit unserer bewaffneten Neutralität: Die Schweiz ist weder verteidigungsfähig noch sicherheitspolitisch irgendwo angebunden.

Im Kalten Krieg hatten wir eine der grössten Armeen Europas. Wir hatten eine starke Rüstungsindustrie. Der Eintrittspreis war brutal hoch: Jeder Aggressor wäre dumm gewesen, uns anzugreifen. Heute könnten wir uns nicht wirklich verteidigen, wenn wir vom Mittelmeerraum mit ballistischen Lenkwaffen beschossen würden. Weil wir nicht am kontinentalen Alarm- und Erfassungssystem angeschlossen sind. Wir produzieren kaum mehr Rüstungsgüter im Land. Der Moralismus hatte gesiegt: Möglichst keine eigenen Waffen herstellen und exportieren! Die Finnen und die Schweden zeigen, dass es anders geht. Sie waren bis zum Ukraine-Krieg neutral – und niemand zweifelte an ihrer Neutralität, obwohl sie damals mit der Nato viel stärker interoperabel waren, als wir es heute sind. Ihr Beispiel zeigt auch: Es gibt keinen Beitritt auf Raten, keine Salamitaktik. Man ist entweder dabei oder nicht.

Experten bezweifeln, dass wir mit unserer Milizarmee an Nato-Übungen teilnehmen könnten. Braucht es Profis für die moderne Kriegsführung?

Es gibt neue Waffensysteme, die so komplex sind, dass Amateure überfordert wären. Aber das ist nicht die Regel. Ich bin überzeugt, dass die Schweizer Milizarmee gut genug aufgestellt ist. Nehmen wir den Schlüsselbereich Cyber: Die besten Informatiker sind keine Berufssoldaten, sondern arbeiten in der Privatwirtschaft. Bei uns leisten sie Dienst, wir profitieren von den zivilen Tätigkeiten unserer Soldaten.

Nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs standen die Zeichen auf Internationalisierung der Armee. Mit Donald Trumps Zurückweisung der Europäer sehen sich die Isolationisten in der Schweiz wieder gestärkt. Sie wollen mit einer Initiative eine starre Neutralität in der Verfassung verankern.

Genau jetzt, wo die Lage so unübersichtlich und unsicher ist, wäre es fatal, die Handlungsfähigkeit des Bundesrats mit der Annahme dieser Initiative einzuschränken. Seien wir realistisch: Politisch sind die Abschaffung der Neutralität und der Beitritt zur Nato undenkbar. Aber Interoperabilität ist das Gebot der Stunde. Sie bedeutet keine schleichende Mitgliedschaft. Sondern: besserer Zugang zu Rüstungsgütern und Daten, bessere Preise, keine teuren und langwierigen Helvetisierungen mehr. Und für den Fall, dass wir angegriffen würden und die Neutralität ohnehin obsolet wäre, könnten wir mit den befreundeten Staaten zusammenspannen, mit denen wir schon trainiert haben.

Wieso ist das Thema so stark emotionalisiert?

Die Landesverteidigung hat die Gemüter schon immer erhitzt – von den linken Armeeabschaffern bis zu den rechten Neutralitätsfetischisten. Doch mit dem Angriffskrieg Russlands ist eine akute Bedrohungslage sichtbar geworden. Viele Menschen haben Angst. Und manche finden dann plötzlich, Herr Putin sei ja gar nicht so schlimm, die Ukrainer und Amerikaner trügen ja auch Schuld am Krieg – das Narrativ aus dem Kreml. Das löst wiederum heftige Gegenreaktionen aus.

Sie galten als Ewiggestriger und Kalter Krieger, weil Sie schon in den 1990er Jahren davor gewarnt hatten, die Armee kaputtzusparen. Spüren Sie eine Genugtuung, dass Sie recht bekommen haben?

Ich hätte mich bei diesem ernsten Thema gerne geirrt. Aber wer sich ein bisschen mit Geschichte auskennt, wusste, dass die Dekaden, die wir nach 1989 in Westeuropa erlebten, eine absolute Anomalie darstellten. Wer damals wie ich in Kriegsgebieten war, der sah, dass die Welt nicht plötzlich friedlicher geworden war – und der Mensch auch nicht intelligenter. In der Schweiz wiegte man sich dreissig Jahre lang in der Illusion, dass Machtpolitik nicht mehr existiere. Der Bund verfasste einen sicherheitspolitischen Bericht nach dem anderen. Nichts darin war visionär. Papier ist geduldig, aber Krieg ist es nicht. Jetzt haben wir keine Zeit zu verlieren.

Bevor Sie als Botschafter nach Washington gingen, waren sie einer der Kronfavoriten für die Spitze des Nachrichtendiensts. Ihre damaligen Konkurrenten haben den Posten in der Zwischenzeit bekleidet. Nun wird er wieder frei – heisst der nächste NDB-Chef also Jacques Pitteloud?

Dazu äussere ich mich nicht.

Aber Interesse hätten Sie?

Kein Kommentar heisst kein Kommentar.

Sie wurden früher von rechts aussen als «Internationalist» und «Rambo» angefeindet. Gab es keine Opposition bei Ihrer Ernennung zum ständigen Vertreter bei der Nato?

Sie haben «Kriegsgurgel» vergessen! Was soll ich dazu sagen. Ich bin seit 37 Jahren im Dienst des Bundes, bin Patriot, habe einen Leistungsausweis. Und während der Zeit in Washington haben auch namhafte Vertreter des rechten Flügels gemerkt, dass es mir immer um die Verteidigung der Schweizer Interessen geht. Nicht um Ideologie oder persönliche Meinung.

Sie bleiben bis zum Schluss ein Diplomat amerikanischer Art, hemdsärmelig, mit Ecken und Kanten.

Mein Beispiel zeigt, dass unser System in Bern ziemlich gut funktioniert: Man kann anders sein und wird trotzdem nicht eliminiert. Ich war meinen Vorgesetzten immer dankbar, dass sie mir den Rücken gestärkt haben, wenn ich mit meinen Methoden in die Kritik geraten war. Aber auch sie wussten wohl: No risk, no fun! Wenn man sich strikt an die bürokratischen Gepflogenheiten hält, bewegt man noch nichts. Es war nie mein Ziel, am Ende meiner Karriere auf ein paar Apéros mit Champagner und hohen Politikern zurückzublicken. Ich will etwas bewegen, im Interesse der Schweiz.

Aber Sie haben auch schon zu viel riskiert und sind gescheitert. Zum Beispiel, als Sie beabsichtigten, Schweizer Soldaten auf Piratenjagd ans Horn von Afrika zu schicken. Oder als Sie mit einer hochgeheimen Kommandoaktion die Schweizer Geiseln aus den Fängen des libyschen Diktators Muammar al-Ghadhafi retten wollten.

Im Fall der EU-Mission gegen die Piraten unterschätzte ich die Dynamik im Parlament, agierte zu forsch und bekam die Quittung dafür. Im Geiseldrama mit Libyen war die Lage so verzwickt, dass wir alle Möglichkeiten prüfen mussten, auch eine Exfiltration – sonst hätten wir unseren Job nicht gemacht. Dazu stehe ich noch heute.

In den USA sind Sie auch als Ornithologe in Erscheinung getreten: Die Aufnahme eines seltenen Papstfinken wurde sogar in der «Washington Post» abgedruckt. Was fasziniert Sie an der Vogelbeobachtung?

Es ist Jagd, ohne zu töten. Für mich ist das eine Passion und ein Ausgleich zum Büroalltag. Ornithologie ist viel mehr als Vögel beobachten. Man wird eins mit der Natur, das Licht ändert, Tiere kommen und gehen.

Dann müssen Sie sich in der wenig abwechslungsreichen Landschaft der Umgebung Brüssels ziemlich langweilen.

Belgien ist für die Vogelbeobachtung leider tatsächlich weniger spannend als Nordamerika, weil es hier fast die gleichen Vogelarten wie in der Schweiz gibt. Dafür ist es weniger gefährlich: In den USA können Sie nicht einfach irgendwo mit Tarnkleidern ins Gelände – es sind so viele Schusswaffen im Umlauf.

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