Firmen und Politiker verzweifeln an den Konsumenten. Sie hätten sich in den vergangenen drei Jahren so stark verändert wie in den letzten dreissig Jahren nicht, sagt der deutsche Trendforscher Marc Schumacher. Aber was wollen die Konsumenten? Und warum haben sie so schlechte Laune?
Herr Schumacher, Sie bezeichnen sich als Futurist. Gleichzeitig behaupten Sie, dass wir alle zu viel von der Zukunft gehabt hätten und nun unter einem Post-Future-Hangover litten. Einem Zukunftskater also. Was meinen Sie damit?
Wir haben uns für die Zukunft unglaublich viel vorgenommen. Wir haben als Gesellschaft gesagt: Natürlich bringen wir Arbeit und Familie in Einklang. Selbstverständlich managen wir Migration und Integration. Wir wollen das Gendern ernst nehmen. Wir wollen den Planeten retten. Mehr Frauen in Führungspositionen. Body-Positivity. Und, und, und. Suchen Sie sich etwas aus!
Und heute stehen wir da und haben nichts erreicht?
Die Leute machen den Realitätscheck und merken: Weit sind wir nicht gekommen. Vom Klimaschutz sind wir weiter weg denn je. Body-Positivity ist kein Thema mehr, Ozempic wird gespritzt, dass es knallt. Weder mache ich mich da darüber lustig, noch will ich es auf die leichte Schulter nehmen. Aber die Leute denken sich: Vielleicht sollten wir das alles anders priorisieren.
Sie kommen aus dem Marketing und beschäftigen sich mit dem Konsumenten. Was will der denn anders haben?
Der Konsument hat sich in den vergangenen drei Jahren so stark verändert wie in den letzten dreissig Jahren nicht. Die Gesellschaften in den hochentwickelten Volkswirtschaften erleben eine Permakrise: Es begann mit der Finanzkrise und der Euro-Krise, dann kamen Flüchtlingskrise, Klimawandel, Corona, Krieg und Inflation. Das führte dazu, dass sich die Menschen neu orientieren. Man spricht von einer Enthabitualisierung.
Der Abkehr von gewohnten Verhaltensmustern.
Nehmen wir Corona als Beispiel. In Büchern und in Keynotes wird die Pandemie gerne als «the new normal» beschrieben, also als die neue Normalität. Das ist wahrscheinlich die brutalste Untertreibung, die man annehmen kann. In der Pandemie hat es unglaublich viele erzwungene Verhaltensveränderungen gegeben. Ganz viele Dinge gingen nicht mehr, und man musste sich binnen kürzester Zeit anpassen.
Können Sie ein Beispiel machen?
Die Digitalisierung hat einen enormen Sprung gemacht, plötzlich konnte man sich alles überallhin liefern lassen. Aus der Konsumentenperspektive ist das zuerst einmal eine relativ gute Sache. Daraus ist dann eine Anspruchsinflation gewachsen. Die entsteht, wenn ein Konsument mit hohen Erwartungen auf ein Unternehmen trifft, das alles noch genauso schlecht – oder gut – macht wie vor fünf Jahren. Ein gutes Beispiel sind die Callcenter von Airlines. Da entwickelte sich gar nichts. Und dann denkt sich der Konsument: Nehmt ihr mich eigentlich noch ernst?
Kennen die Unternehmen ihre Kunden nicht mehr?
In der Marketinglehre sprechen wir seit zwanzig Jahren davon, dass der Kunde im Mittelpunkt stehe. Um ehrlich zu sein, kommen wir aber erst dank neuen Technologien langsam dorthin. Das ist positiv für den Konsumenten, aber es verändert ihn in seiner Erwartungshaltung.
Wie passen Ihre Theorien zusammen: Alles wird besser und bequemer, aber der Konsument hat trotzdem einen Zukunftskater?
Objektiv betrachtet ist in den hochentwickelten Volkswirtschaften vieles signifikant besser geworden in den letzten fünfzig Jahren. Ob das jetzt Fortschritt in der Gesundheit ist oder bei der Ernährung. Gleichzeitig gibt es die sogenannte «cost-of-living crisis». Und die geht viel weiter als die Inflation. Es geht um bestimmte Dinge, die früher in der Breite der Gesellschaft machbar waren: in die Ferien fahren, ein Haus kaufen, Kinder zur Uni schicken. All die Versprechen sind eine Art Bindeglied westlicher Demokratien gewesen. Das war der Kitt der Gesellschaft. Und das kommt jetzt unter Druck.
Gebrochene Zukunftsversprechen und ein ausbleibender Fortschritt: Wächst eine Null-Bock-Generation heran?
In Europa beobachten wir etwas, was wir «end of ambition» nennen: das Ende dieses unbedingten Aufstiegswillens. Ich glaube, wenn Aufstiegsversprechen und diese grossen gesellschaftlichen Narrative nicht mehr halten, ist das die grösste Gefahr für westliche Demokratien. Es ermöglicht die Polarisierung. Und es ermöglicht den Populismus.
Dann hat die Wiederwahl von Donald Trump auch etwas mit dem verkaterten Konsumenten zu tun?
Es hat ausschliesslich mit dem Konsumenten zu tun! Und dass wir das nicht sehen, ist an sich schon hochproblematisch: Siebzig Prozent der Deutschen haben einen Sieg für Kamala Harris prognostiziert. Das liegt daran, dass wir nicht vermitteln konnten, wie die Lebensrealität der Amerikaner wirklich ist.
Wer ist «wir»?
Bestimmte elitäre Kreise, also die akademischen, urbanen Bubbles. Dazu gehören auch Teile des Marketings und der Medien. Wir haben uns ein Stück weit entkoppelt von der Breite der Gesellschaft.
Dass Politiker die Menschen falsch einschätzen, ist das eine. Unternehmen aber investieren viel Geld, um ihre Zielgruppen zu erforschen. Warum liegen auch sie daneben?
Wir leben in einer neuen Kommunikationsrealität. Die, die laut sind und am meisten aufbegehren, bekommen am meisten Präsenz. Die Woke-Bewegung zum Beispiel ist auch deswegen möglich, weil Menschen, die wissen, dass sie eigentlich eine kleine Gruppe sind, sich unglaublich viel Gehör verschaffen. Das findet sich dann in der medialen Blase wieder, hat aber mit den Anliegen der breiten Bevölkerung relativ wenig zu tun.
Viele Unternehmen haben sich dieser Themen angenommen. VW hüllte sich als Zeichen der Solidarität gegenüber der LGBTQ-Bewegung in Regenbogenfarben, und in den USA werden vielerorts Diversity-Manager eingestellt. Ist das alles falsch?
Ich möchte den positiven Effekt dieser Diskussion nicht kleinreden. Wir setzen uns heute ganz anders mit den Themen Diversity oder weibliche Ermächtigung auseinander, und das ist richtig. Aber parallel dazu ist etwas anderes passiert: Manager haben aus der Verunsicherung heraus fast jedes Thema bedient und sich damit lächerlich gemacht. Viele Marketingkampagnen sind zur Folklore geworden. Das war kontraproduktiv.
Wie geht man besser mit dem Konsumenten um?
Wir tun gut daran, ihn ernster zu nehmen und ihm besser zuzuhören. Und wir werden ein besseres Angebot formulieren müssen. Wenn wir ihn weiter bevormunden, demütigen oder ihm Dinge vorschreiben, wird es eng.
Sollten die Unternehmen ihre Diversity-Aktionen wieder zurückfahren?
Nicht jeder muss überall mitmachen, und nicht alle müssen einen mögen. Das aushalten zu können, macht eine gute Marke aus.
Bekommen Marken in einer Welt voller – wie Sie es sagen – desillusionierter Konsumenten mehr Bedeutung?
Einer Marke wird in Zukunft mehr Verantwortung zukommen als in der Vergangenheit. Was waren denn früher die Bindeglieder einer Gesellschaft? Die Kirche, die Familie, die Volkspartei, das Leitmedium und der Arbeitgeber, bei dem man jahrzehntelang angestellt war. Diese Orientierungsfunktionen gibt es so nicht mehr, das ist alles fragmentiert. Wer sagt jetzt, wo es langgeht? Unternehmen und Marken müssen diese Vertrauenslücke füllen.
Ist das nicht etwas viel verlangt? Letztlich wollen die meisten Firmen einfach Geld verdienen.
Ich glaube, dass Marken wie etwa Nike, Apple oder Gucci schon da angekommen sind. Diese Unternehmen haben eine Leitlinienkompetenz, die weit über die Funktionalität ihres Produktes hinausgeht. Ich bringe gerne dieses Beispiel: Wenn Nike ein Hotel eröffnet, fahren wir alle hin. Wenn Marriott einen Schuh macht, kaufen wir ihn aber nicht. Warum? Weil Nike eine Orientierungsfunktion hat und Marriott nicht. Man spricht von «the everything brand» – einer Marke, die alles kann.
Ist Donald Trump eine «everything brand»?
In einem gewissen Sinne: Ja. Wir leben in extremen Zeiten: Wir haben eine Aufkündigung und teilweise Rückabwicklung von Globalisierung. Wir haben herausfordernde Demografien. Wir haben die Transformation von Industrien durch Technologie. Wir haben die Anforderung an Dekarbonisierung von Industrienationen. Wir haben geopolitische Spannungen wie nie. Die Menschen suchen neue Antworten.
Was bedeutet das für die anstehenden Wahlen in Deutschland?
Was die Leute den politischen Eliten nicht mehr durchgehen lassen, sind weichgespülte, auf politische Korrektheit ausgelegte Durchhalteparolen. Die Leute wollen verstehen: Wie gehen wir das an? Sie führen eine Repriorisierung durch, stellen Wirtschaft nach vorne, Sicherheit nach vorne, wollen wissen, wie man mit einer globalen Migration umgeht. Und wenn sich da weiterhin alle wegducken und sich dahinter verstecken, dass man bestimmte Dinge besser nicht mehr sagt, dann gute Nacht.
Sie sind aber gnädig mit den Wählern.
Warum? Ich masse mir nicht an, über die Menschen zu urteilen. Sie sind der Souverän.
Auch für die Konsumenten zeigen Sie viel Verständnis. Selbst wenn sie etwa bei den chinesischen Billig-Apps Temu und Shein einkaufen. Dabei verstossen diese mutmasslich gegen Gesetze. Müssen Konsumenten nicht auch Verantwortung übernehmen?
Wer bei Temu und Shein bestellt, hat ökonomische Zwänge. Wenn ich mich jetzt da hinstelle und sage, die sind alle blöd, leiste ich zur Diskussion keinen Beitrag.
Der Onlinehandel wächst extrem. Was passiert mit den Innenstädten, gehen die stationären Detailhändler bald ein?
Das wird seit zwanzig Jahren behauptet, aber ich glaube das nicht. Es gibt eine bemerkenswerte Zahl aus den USA: Dort gab es Anfang dieses Jahres mehr als vier Prozent mehr Ladenlokale als noch vor der Pandemie. Und jetzt ist Amazon da drüben auch nicht ganz unerfolgreich.
Was bedeutet das?
Wir erleben ein Mass an Digitalität in der Gesellschaft, das uns überfordert. Es ist einfach zu viel geworden, und es wird mit dem Thema der generativen KI ja noch einmal eine ganz andere Brennstufe gezündet. Durch diese Überdigitalisierung kommt es zu etwas, was man den Bedeutungszuwachs des Analogen nennt.
Die Menschen gehen bewusst raus?
Schauen Sie sich die Restaurants an, die sind voll. Flugzeuge: voll. Konzerte: crazy voll! Taylor Swift und Coldplay füllen mehrere Mal in Reihe das Olympiastadion, Adele spielt zehn Tage nacheinander für 800 000 Menschen in München. Das meint der Bedeutungszuwachs des Analogen. Der Live-Kontakt wird wichtiger.
Und das kommt den Innenstädten zugute?
Die Läden werden immer weniger klassische Waren verkaufen, weil ich alles im Internet bestellen kann. Aber die Innenstadt als sozialer Brennpunkt, als kultureller Ort, sie wird an Bedeutung gewinnen.
Aber was bringt es einem Laden, wenn die Menschen nichts mehr kaufen?
Es wird viel mehr Serviceleistungen geben, es wird Onlinehändler geben, die Läden eröffnen, weil die Leute das Produkt sehen und in die Hand nehmen wollen. Der Showroom wird zurückkehren.
Wenn man Ihnen zuhört, weiss man nicht so recht, ob man an der Welt verzweifeln soll oder ob sie eigentlich immer besser wird.
Sie wird immer besser! Ich bin nur optimistisch. Aber wir sollten aufhören, den Konsumenten zu kritisieren. Wenn dieser nicht so paradox wäre, wäre das mit dieser Volkswirtschaft schon lange gescheitert.
Warum das denn?
Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, und konsumieren Zeugs, das wir besser nicht konsumieren sollten. Das hält unsere Volkswirtschaft am Leben – und generiert Wohlstand. Zum Glück sind wir alle ein bisschen verrückt.
Die Welt aus der Sicht des Konsumenten
Marc Schumacher
Als Marketingexperte und selbsternannter Futurist betrachtet Marc Schumacher, Jahrgang 1977, den gesellschaftlichen Wandel aus der Perspektive des Konsumenten. Der promovierte Betriebswirt war in führenden Positionen unter anderem bei Breuninger und Tom Tailor tätig. Schumacher ist ein bekannter Keynote-Speaker und wird im Januar 2025 neuer CEO des Berliner Medien-Startups Media Pioneer.