Maya Gabeira surfte Wellen in der Höhe fünfstöckiger Häuser. Bis das gelang, erlitt sie schwere Rückschläge, überwand eine Angststörung, kämpfte gegen Sexismus. Jetzt blickt sie zurück.

Vor zwölf Jahren brachen Sie sich beim Versuch, die bis dahin höchste Welle Ihres Lebens zu surfen, den Knöchel. Eine weitere Welle zerriss Ihre Rettungsweste. Sie trieben minutenlang hilflos im Wasser. Wie erlebten Sie die Momente zwischen Leben und Tod?

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Maya Gabeira: Erst dachte ich an die Menschen, die mir am meisten bedeuteten. Ich war traurig, dass ich sie nicht mehr sehen würde. Ich dachte, ich bin doch erst 26 Jahre alt, ich will leben. Dann realisierte ich, dass die Situation, in die ich geraten war, eine Folge meiner Entscheidungen war. Ich musste mit den Konsequenzen klarkommen. Niemand war in meiner Nähe. Mir war klar, dass es einem Wunder gleichkäme, gerettet zu werden. Als ich das einsah, fügte ich mich in mein Schicksal. Ich akzeptierte den Tod. Ich befand mich an einem dunklen Ort.

Sie waren bewusstlos, als Sie von einem anderen Surfer an Land gezogen wurden.

Ich weiss nicht, ob andere Menschen, die ebenfalls Nahtoderfahrungen durchgemacht haben, dasselbe sagen. Aber dieser dunkle Ort schenkt dir Weisheit. Wer glücklich genug ist, zu überleben, kommt weiser zurück. Ich war überrascht, eine zweite Chance zu bekommen. Und sehr, sehr dankbar. Ich schätzte es noch mehr, am Leben zu sein. Durch diese Minuten in der Dunkelheit wurde ich ein besserer Mensch.

Inwiefern?

Ich wurde geduldiger, grosszügiger, empathischer. Meine Perspektiven änderten sich. Ich glaube, wer das Leben fast verliert, versteht es anschliessend besser. Weil wir zunächst als Babys auf die Welt kommen, mit einem sehr begrenzten Bewusstsein, realisieren wir lange nicht, dass das Leben ein Wunder ist. Aber als Erwachsener, der so etwas überstanden hat, kann man nicht mehr darüber hinwegsehen.

Maya Gabeira

Imago

Die 37-Jährige wurde in Rio de Janeiro geboren. Als Jugendliche verliess sie Brasilien mit dem Ziel, im Surfen in neue Dimensionen vorzustossen. Fünfmal gewann Maya Gabeira den Big-Wave-Award «Billabong XXL». Mit einer auf 22,40 Meter taxierten Welle hält sie den Frauen-Weltrekord. 2022 wurde Gabeira zur Protagonistin des Dokumentarfilms Maya and the Wave. Ende 2024 trat sie zurück.

Der Unfall passierte vor der Küste von Nazaré in Portugal. Später zogen Sie ausgerechnet an diesen Ort, der als Zentrum des Big-Wave-Surfens gilt. Warum blieben Sie dem hochriskanten Sport treu?

Ich hatte mir nun einmal in den Kopf gesetzt, dass ich die grössten Wellen der Welt surfen will, als erste Frau überhaupt. Dem Traum fühlte ich mich verpflichtet. Trotz meiner Nahtoderfahrung wusste ich, dass ich dazu in der Lage bin. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich diejenige sein würde, die Grenzen verschiebt. Also verschrieb ich mich der Sache nach dem Unfall noch mehr. Ich konnte nicht leben, ohne mir den Traum zu erfüllen.

Sie machten dort weiter, wo Sie vor dem Sturz aufgehört hatten?

So einfach war es nicht. Dreimal musste meine Wirbelsäule operiert werden. Ich kämpfte mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und meine Angststörung, an der ich schon vorher gelitten hatte, verschlimmerte sich. Aber ich hatte keine Wahl.

Können Sie benennen, was die Angststörung ursprünglich auslöste?

Sie war schon vorhanden, als ich klein war. Ich wuchs unter schwierigen Voraussetzungen auf. Mir wurde praktisch alles diagnostiziert, was es gibt, abgesehen von Schizophrenie. Eine bipolare Störung, eine dissoziative Identitätsstörung, Panikattacken, die Angststörung, Asthma. Meine erste Asthmaattacke hatte ich mit einem Jahr. Manchmal glaubte ich in meiner Kindheit, dass ich vor lauter Atemnot sterben würde.

Der Weg zur Spitzensportlerin scheint nicht gerade vorgezeichnet gewesen zu sein.

Schmerzen haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Seit ich auf der Welt bin, arbeite ich daran, sie in etwas Gutes zu verwandeln. Meine Erfahrungen sind sehr besonders und sehr intensiv.

Ihr Vater Fernando Gabeira war zeitweise in einer Guerillagruppe und ist ein Gründungsmitglied der Grünen in Brasilien. Wie beeinflusste er Sie?

Er hat mich sehr stark inspiriert. Auch er war und ist ein grosser Träumer. Als ich von meiner Mutter zu ihm zog, fiel es ihm schwer, nach mir zu schauen, weil er sehr beschäftigt war. Also musste ich auf eigenen Füssen stehen. Als ich ihm sagte, dass ich weiterziehen muss, erlaubte er mir das. Er entliess mich in die Freiheit.

Sie waren erst 13 Jahre alt, als Sie Ihr Zuhause verliessen. Mit 15 zogen Sie ins Ausland, erst nach Australien, später nach Hawaii. War das auch eine Flucht?

Ja, ich rannte davon. Es war viel Schmerz vorhanden, also rannte ich weg.

Ebenfalls 13-jährig, begannen Sie zu surfen. Was faszinierte Sie in dem Sport, was fanden Sie dort?

Meine Liebe zum Surfsport wurde zur einzigen Beständigkeit in meinem Leben. Egal, was in der Welt passierte, und egal, was die Menschen in meinem Umfeld taten: Immer konnte ich das Brett schultern und ans Meer gehen.

Mit 17 schrieben Sie in Ihr Tagebuch, dass Sie die beste weibliche Big-Wave-Surferin werden möchten. Was braucht es, um Wellen in der Höhe fünfstöckiger Häuser surfen zu können?

Liebe fürs Meer, Liebe fürs Surfen, Liebe fürs Training. Man muss davon träumen, diese eine Welle zu erwischen, an die man sich lebenslang erinnern wird. Diesen einen besonderen Moment zu erleben, der sehr kurz ist. Man muss sich dem Traum völlig verschreiben, wenn man ernsthaft darauf hinarbeiten möchte. Ich liebte den Lifestyle, das Reisen, das harte Training, vom Meer herausgefordert zu werden.

Wie trainierten Sie?

Jeder hat seine Routinen. Ich war immer sehr motiviert im Gym. Ich ging tauchen und fuhr Rad. Es geht darum, immer in Form zu sein, immer bereit zu sein, auf die Atmung und die Lungenkapazität zu achten.

Nach dem Unfall von 2013 dauerte es vier Jahre, bis Sie wieder bereit waren, sich in die grössten Wellen zu wagen. Wie kamen Sie mit der Ungewissheit zurecht, ob es überhaupt wieder möglich sein würde?

Die Ungewissheit, ob ich den Traum verwirklichen kann oder nicht, war nach der Nahtoderfahrung akzeptabel. Sie war nichts im Vergleich zur Ungewissheit, ob ich überhaupt am Leben bleibe oder sterbe. Es kümmerte mich nicht. Ich nahm mir einfach vor, alles dafür zu tun, das Ziel zu verwirklichen.

Männliche Surfer äusserten sich nach Ihrem Unfall sexistisch. Frauen sollten bei einem solchen Wellengang besser an Land bleiben, sie seien von den Bedingungen in Nazaré überfordert.

Solche Aussagen hörte ich nicht nur dann, sondern während meiner gesamten Karriere. Oft kamen sie von Personen, die ich sehr bewunderte.

Wie gingen Sie damit um?

Ich konnte stets zwischen den Aussagen und meinen Fähigkeiten unterscheiden. Wenn mir jemand zu verstehen gab, ich könne das nicht, ich sei dafür nicht geboren, ging ich in mich und dachte mir: Doch, ich kann es. Ich muss eine bessere Athletin werden. Ich muss eine bessere Person werden. Oft schien mir, dass andere Menschen ihre eigenen Limitierungen in mich projizieren. Wann immer auch in mir Zweifel aufkamen, arbeitete ich noch härter.

Sie hatten Zweifel?

Natürlich. Was ich mir vornahm, war noch nie einer Frau gelungen. Ich hatte keine direkten Vorbilder und fragte mich: Kann ich das schaffen? Bin ich stark genug? Erhole ich mich von meinen Wirbelsäulenoperationen? Überwinde ich meine posttraumatische Belastungsstörung und die psychischen Erkrankungen? Diese Zweifel begleiteten mich im täglichen Training.

Konfrontierten Sie Ihre männlichen Kritiker in Gesprächen?

Dazu gab es keinen Bedarf. Ich konfrontierte niemanden. Ich arbeitete einfach härter, und dann kamen die Resultate.

Sie zeigten es ihnen, indem Sie immer besser surften?

Ich zeigte es ihnen, indem ich mir treu blieb.

Dass Männer im Surfen ebenso wie in anderen Sportarten gewisse Vorteile haben, ist nicht zu bestreiten: Sie sind im Durchschnitt kräftiger, explosiver und ausdauernder.

Das stimmt. Aber Big-Wave-Surfen ist auch psychisch sehr fordernd. Es geht vielleicht zu 50 Prozent ums Physische, der Rest entscheidet sich im mentalen Bereich. Man ist mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert, mit dem Tod. Deswegen muss man innerlich sehr stark sein. Und das nicht nur in jenem Moment, wenn die Welle kommt, sondern ständig. Man muss das tägliche Training durchziehen, ohne Strukturen zu haben wie in anderen Sportarten. Ohne ein Team. Man muss sehr diszipliniert sein. Vieles hängt vom Kopf ab.

2018 verwirklichten Sie Ihren Traum und surften eine höhere Welle als alle Frauen vor Ihnen, sie wurde auf 20,72 Meter taxiert. 2020 bewältigten Sie sogar eine 22,40 Meter hohe Welle. Können Sie die Emotionen in jenen Momenten beschreiben?

Es war so gut. Ich hatte so lange gekämpft, trainiert, gearbeitet. Und dann kamen alle Variablen zusammen. Es waren Sekunden, in denen aller Schmerz und aller Ärger verschwand. Momente, die ich nie vergessen werde. Ich bin sehr dankbar, sie erlebt zu haben.

Fühlte es sich plötzlich leicht an?

Ja. Ich spürte keine Sorgen mehr. Es ging nur noch darum, durchzukommen, um nicht zu sterben.

Maya Gabeira Breaks Guinness World Record for the Largest Wave By a Woman | 73.5 Feet at Nazaré

War der zweite Weltrekord der glücklichste Moment in Ihrer Karriere?

Auf jeden Fall, er war ein Moment puren Glücks. Ich hatte den Traum, eine derart grosse Welle zu surfen, so lange verfolgt, vielleicht zwölf Jahre lang. Ohne darüber zu sprechen, denn die Leute hätten gesagt, ich sei verrückt. Ich war schockiert, als ich es schaffte.

Ihre Leistung von 2018 wurde zunächst nicht als Weltrekord anerkannt: Es gab im Big-Wave-Surfen keine eigenen Bestmarken für Frauen. Also reichten Sie eine Petition gegen die World Surf League und das Guinness-Buch der Rekorde ein, um das durchzusetzen.

Die Anerkennung des Weltrekords war mir wichtig. Er stand mir zu, nachdem ich die Leistung dank lebenslanger Hingabe erreicht hatte. Ich kämpfte darum, obwohl ich es nicht mag zu kämpfen, eigentlich bin ich sehr harmoniebedürftig. Aber es wurde mir abverlangt.

Bis heute wurden Sie nur von vier Männern übertrumpft. Man könnte argumentieren, dass Sie die Unterscheidung kaum nötig hätten: Ihre Leistung hält dem Vergleich mit der männlichen Weltelite stand.

Vielen Dank. Dennoch ist die Unterscheidung wichtig, weil sie Möglichkeiten für andere Frauen schafft. Sie können sich jetzt damit motivieren, meinen Rekord zu brechen. Ich will nicht, dass Frauen in die Situation geraten, sich direkt mit Männern messen zu müssen.

Jetzt sind Sie zurückgetreten. Was hat Sie dazu bewogen?

Ich habe mir meinen Traum erfüllt und alles erlebt, was ich mir wünschte. Wenn man geschafft hat, was man sich vornahm, lässt man vernünftigerweise los und wendet sich Neuem zu.

Hat zum Entscheid beigetragen, dass Sie die Risiken nicht mehr eingehen möchten?

Nein, ich habe keine Angst. Ich weiss, wie es auf der anderen Seite aussieht. Ich fürchte das nicht. Es geht mehr darum, dass der Drive nachgelassen hat. Ich habe in der Branche viel gelernt und will das jetzt mitnehmen, um andere Dinge im Leben zu tun.

Ihre Mission im Surfen ist erfüllt?

Ich hinterlasse den Sport in einem weit besseren Zustand, als ich ihn vorgefunden habe. Es gibt jetzt Möglichkeiten für Frauen. Sie werden respektiert. Es gibt Sponsoren für Frauen, Wettbewerbe für Frauen, Weltrekorde für Frauen.

An den bekannten Spots surfen mehr Frauen als früher, aber im absoluten Spitzenbereich sind es immer noch wenige.

Ja, aber es werden immer mehr. Vor ein paar Jahren waren wir vielleicht zu dritt. Jetzt sind es fünf bis sieben. Jahr für Jahr gibt es Fortschritte, das ist grossartig.

Ihr wichtigstes Vermächtnis ist womöglich nicht der eigene Weltrekord, sondern die grössere Geschlechtergerechtigkeit?

Ja, auf jeden Fall. Die Schwierigkeiten, die ich durchgestanden habe, habe ich nicht nur für mich bewältigt. Es war die Mühen wert, denn es ist eine neue Realität für andere entstanden. Weil ich etwas geschafft habe, was andere Leute nicht für möglich hielten, werden andere Frauen nicht mehr so sehr hinterfragt. Es war an mir, den Beweis anzutreten, dass es geht.

Werden andere Frauen ihren Rekord überbieten?

Ja, zu 100 Prozent. Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren erleben, dass noch höhere Wellen gesurft werden. Der Sport hat seine Grenzen noch nicht erreicht.

Werden Sie persönlich bedauern, nicht mehr Weltrekordlerin zu sein, wenn es so weit ist?

Nein, überhaupt nicht. Wenn man eine völlig neue Identität entwickelt, was ist schon ein Rekord?

Was haben Sie nun vor?

Ich habe noch keine Pläne, und genau darauf freue ich mich.

Werden Sie das Gefühl, sich in Wettkämpfen zu messen, vermissen? Den Druck, das Adrenalin?

Niemals.

Andere Ex-Athleten berichten, dass es ihnen fehlt, nochmals etwas so aussergewöhnlich gut zu beherrschen wie ihren Sport.

Ich bin aussergewöhnlich gut darin, zu leben.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version