Freitag, Oktober 18

In Venedig erinnert die Biennale mit einer Neuproduktion des «Prometeo», Nonos «Tragödie des Hörens», an den grossen Sohn der Stadt. Sie zeigt, wie gegenwärtig das Schaffen des italienischen Komponisten auch heute noch wirken kann.

Es ist stiller um ihn geworden – beunruhigend still. Als Luigi Nono am 8. Mai 1990, ein halbes Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer, in seiner Heimatstadt Venedig starb, war die Musikwelt erschüttert. Eine zentrale Figur der neuen Musik, oft in einem Atemzug genannt mit anderen Komponisten der Nachkriegsavantgarde wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und John Cage, war gegangen. Und heute? An diesem Montag wäre «Gigi», wie er von Freunden liebevoll genannt wurde, hundert Jahre alt geworden. Aber grössere Würdigungen Nonos sind rar. Sie erfolgen allenfalls punktuell, etwa im März bei einem Programmschwerpunkt an der Hamburger Elbphilharmonie.

Selbst bei der traditionsreichen «musica viva»-Reihe in München, zu der Nono 1963 von deren Begründer Karl Amadeus Hartmann persönlich eingeladen worden war, findet seine Musik diese Saison kein Gehör. Und auch am Lucerne Festival, immerhin einer zentralen Wirkungsstätte des Nono-Freundes Claudio Abbado und des Mitstreiters Boulez, droht das grosse Schweigen. Der runde Geburtstag dieses kühnen Neuerers der Musik, er scheint die Veranstalter nicht sonderlich zu inspirieren. Vor zehn Jahren, zu Nonos 90. Geburtstag, war das noch anders.

Sensibler Chronist seiner Epoche

Damals gab es etwa im Rahmen der Zürcher Festspiele einen denkwürdigen Nono-Schwerpunkt, dramaturgisch exzellent betreut von dem Musikwissenschafter und Nono-Experten Jürg Stenzl aus Basel. Einen Höhepunkt markierte damals die Aufführung des «Prometeo», Nonos bahnbrechender «Tragedia dell’ascolto» von 1984/85. Die Klangregie bei dieser «Hör-Tragödie» verantwortete seinerzeit der Schweizer André Richard, der die Live-Elektronik zusammen mit Nono für die Uraufführung entwickelt hatte.

Seither spielt Nonos Schaffen im Musikleben nicht mehr die Rolle, die seinem künstlerischen Rang angemessen wäre. Als letztes Grossprojekt ging 2021 an den Salzburger Festspielen eine beeindruckende Neuproduktion von «Intolleranza 1960» über die Bühne. Einen derart umfassenden Schwerpunkt durch alle Gattungen aber wie 2014 in Zürich – man sucht ihn vergeblich. Nono teilt damit das Schicksal eines anderen Avantgardisten, György Ligeti, dessen 100. Geburtstag im vergangenen Dezember auch nur punktuell, etwa mit einer Ausstellung in Basel, gewürdigt wurde.

Dabei schiene die Zeit gerade im Falle Nonos reif für eine Rückbesinnung auf seine Werke. Denn Nono war ein sensibler Chronist seiner Epoche, empfänglich für politische und gesellschaftliche Entwicklungen, die er in hochartifizieller Weise in seinem Schaffen reflektierte. Eine Auseinandersetzung mit den kaum weniger dringlichen Fragen unserer Gegenwart auf einem vergleichbaren intellektuellen Niveau sucht man heute fast vergeblich.

Vielleicht war auch deshalb der Andrang in Venedig so erstaunlich gross, als die Biennale jetzt zu Ehren des grossen Sohnes der Stadt eine Neuauflage des «Prometeo» in Kooperation mit dem Nono-Archiv realisierte. Ort des Geschehens war nicht zufällig die Kirche San Lorenzo im Castello-Quartier – hier wurde vor vierzig Jahren, im September 1984, die erste Fassung des «Prometeo» uraufgeführt; am Pult stand Claudio Abbado. Die zweite, finale Fassung hatte dann 1985 in Mailand Premiere.

Unpolitisches Spätwerk?

Für viele Zeitgenossen stand dieses epochale Werk exemplarisch für einen Paradigmenwechsel im Schaffen Nonos. Der einstige Linksintellektuelle, der sich als engagierter «Musikakteur» begriff, sei stiller und auch weniger politisch geworden, so meinte man damals. Tatsächlich spiegelt das Stück eine künstlerische Tendenz zur Introversion und zur radikalen Reduktion, die sich bereits mit dem Streichquartett «Fragmente – Stille. An Diotima» von 1979/80 angekündigt hatte. Ob damit eine Entpolitisierung Nonos einherging, ist bis heute umstritten.

1956 hatte Nono in «Il canto sospeso», von Abbado und den Berliner Philharmonikern mit dem Schauspieler Bruno Ganz kongenial eingespielt, Abschiedsbriefe von Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus vor ihrer Hinrichtung vertont. In «Intolleranza 1960» protestierte er gegen Krieg, Terror und Ausbeutung, und mit «Al gran sole carico d’amore» reflektierte er 1975 die Ambivalenz revolutionärer Bewegungen: eine fast schon prophetische Vorwegnahme der Ereignisse in Osteuropa 1989/90.

Im späten «Prometeo» sind dagegen letzte Reste politischer Agitation getilgt. Das quasioratorische Werk ist keine «Azione scenica», wie noch «Intolleranza» oder «Al gran sole», und es wendet sich auch von jeder herkömmlichen Bühnenhandlung ab. Entsprechend gibt es keine handelnden Personen mehr, nur eine von dem Philosophen Massimo Cacciari zusammengefügte Textcollage. Die Bewegung des Klangs im Raum, also der Klangraum selber, und die Zuhörenden sind hier die Akteure.

Mit dem Blechbläser Giancarlo Schiaffini, dem Flötisten Roberto Fabricciani und dem Klangregisseur Alvise Vidolin waren jetzt in Venedig auch Mitwirkende der Uraufführung von 1984 beteiligt. Sonst aber hat sich einiges geändert, allem voran der Aufführungsraum. Seinerzeit hatte der Architekt Renzo Piano eine Art Schiff entworfen, ein Gerüst, auf dem die Musiker und Sänger erhöht um das Publikum positioniert waren. Auch jetzt waren in Venedig die Ausübenden erhöht um das Publikum platziert, aber das Gerüst war nicht mit Holz verkleidet. Die originale Konstruktion von Piano ist unterdessen in Magazinen in Mailand und Mezzago verwittert und zu siebzig Prozent zerstört – befremdlich angesichts der Bedeutung von Piano wie von Nono.

Bei der Bestuhlung, ebenfalls anders angeordnet als 1984, stellt sich auch jetzt wieder die Frage, warum Nono keine Möglichkeit für das Publikum vorgesehen hat, sich freier im Raum zu bewegen. Denn in San Lorenzo mit seinem trennenden Hochaltar in der Mitte des Raums hängt der Eindruck ganz wesentlich von der jeweiligen Position des Hörenden ab.

Wie zentral das einfühlende Mit- und Zuhören in Nonos «Prometeo» ist, das wurde in Venedig unter der Leitung von Marco Angius deutlich. Dies ist der auf subtile Weise eben doch politische Kerngedanke des Werks, der uns auch heute noch etwas angeht. In einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht, in der die Debatten immer lauter und ideologischer geführt werden, hat Nonos Appell, sich gegenseitig intensiv zuzuhören, fast schon etwas Subversives. Womöglich erleben wir derzeit unsere eigene «Tragödie des Hörens». Nonos Musik hätte dazu eine Menge beizutragen. Man sollte auch ihr wieder mehr zuhören.

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