Sonntag, April 20

Sie drangsalieren Schüler, pochen auf Sonderrechte und halten ihre Religion für überlegen: Islamistisch inspirierte Jugendliche sorgen in Einwanderungsgesellschaften für Unruhe und Gewalt. Statt die Gefahr zu bekämpfen, machen Pädagogen die Täter zu Opfern.

Die Rufe sind klar und deutlich zu hören. «Allahu akbar!», «Allahu akbar!», erschallt es aus der Gruppe Jugendlicher, die sich vor dem Stand der homosexuellen Aktivisten zusammenrotten, «Gott ist gross!». Zuerst sind es nur einige Schüler, dann rund hundert. Sie werfen Flaschen, spucken auf die Herzen mit den Regenbogenfarben und verspotten die Freiwilligen. Erst als sich die Schüler in den Unterricht zurückziehen, beruhigt sich die Lage.

Der Vorfall hat sich im letzten Mai im Belgischen Genk zugetragen. Ein Video mit den «Allahu akbar»-Rufen ist unter anderem von der französischen Zeitung «Le Figaro» publiziert worden, in deutschsprachigen Medien gab es wenig Resonanz. Dabei ging es in Genk um ein Phänomen, das in den meisten europäischen Einwanderungsgesellschaften zu beobachten ist: Muslimische Schüler, die sich unter Berufung auf ihre kulturelle und religiöse Identität über andere stellen und die offene Gesellschaft ablehnen.

Blutiger Kulturkampf um die Schule

Dieser radikal-konservative Backlash schlägt nicht selten in Mobbing und Gewalt um. Es geht um Verachtung von sexuellen Minderheiten, Frauen, Juden, «Ungläubigen» und Muslimen, die angeblich nicht muslimisch genug sind; um Proteste gegen Weihnachtslieder, das Recht auf Religionskritik oder Unterrichtsthemen, die manchen Schülern nicht genehm sind. Von Einzelfällen kann man kaum noch sprechen – und der Umgang mit dem Problem ist von gefährlicher Naivität geprägt.

Die Unterschiede zwischen der Schweiz und anderen europäischen Staaten sind gross, aber es gibt Gemeinsamkeiten. So ist fast überall in Europa ein Trend zu einem konservativen, zuweilen radikalen Islam zu beobachten. Gefördert werden diese Tendenzen in Teilen der muslimischen Bevölkerung von Aktivisten, Influencern und islamischen Staaten wie Katar, die in Europa Moscheen und Vereine finanzieren. Der algerische Publizist Kamel Daoud spricht von einem «Theo-Populismus», der die Welt in «halal» (erlaubt) und «haram» (nicht erlaubt, unrein) einteilt.

In Bonn-Bad Godesberg fielen Schüler kürzlich damit auf, dass sie Mädchen islamische Kleidervorschriften aufzwingen wollten und in der Schule beteten. Die Leiterin des Amtes für Integration und Vielfalt sprach von «einer Minderheit, die mit offensiven, herausfordernden Religionsbekundungen» Druck ausübe.

In Frankreich, wo fünf bis zehn Millionen Muslime leben und der Staat eine strenge Laizitätspolitik verfolgt, hat dieses Phänomen zu einem blutigen Kulturkampf geführt. «Lehrer stehen der islamistischen Offensive hilflos gegenüber», so lauten Schlagzeilen der letzten Wochen, «Wir ernten, was wir nicht sehen wollten», oder: «Aggressionen, Drohungen . . . die grosse Sorge der Lehrer».

Religiöse Gefühle sind wichtiger als Bildung

Französische Lehrer, das ergab eine vom Senat angeordnete Untersuchung, zensieren sich lieber selber, als sich mit Eltern und Schülern anzulegen. Sie tun es aus gutem Grund. Der Leiter des Pariser Gymnasiums Maurice Ravel ist kürzlich zurückgetreten, weil er Morddrohungen erhielt. Er hatte eine Schülerin aufgefordert, ihr Kopftuch abzulegen, worauf er in sozialen Netzwerken beschuldigt wurde, sie geohrfeigt zu haben. Beweise dafür gibt es bis heute keine.

Drohungen erhielt auch eine Gymnasiallehrerin in Issou, die ihren Schülern ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert gezeigt hatte. Weil auf dem Bild nackte Frauen zu sehen sind, schlugen muslimische Schüler theatralisch die Hände vors Gesicht. Eltern warfen der Lehrerin vor, sie habe das Bild extra gezeigt, um Muslime zu verletzen. Der Lehrer Dominique Bernard ist am 13. Oktober von einem Islamisten in Arras unter «Allahu akbar»-Rufen erstochen worden. Der Attentäter hatte gezielt nach einem Geschichtslehrer gesucht.

Gemäss einer kürzlich publizierten Umfrage des Instituts Ifop waren 50 Prozent der befragten muslimischen Schüler der Meinung, es sei ihr Recht, Schulstoff zu boykottieren, wenn dieser religiöse Gefühle verletze. Rund ein Viertel der Teilnehmer fand, es sei in Ordnung, im Namen der Religion homophob oder sexistisch zu sein. Und 16 Prozent mochten den Mord an Dominique Bernard nicht klar verurteilen.

Lieber wegschauen als «Wasser auf die Mühlen der Rechten» lenken

Frankreich ist mit der Schweiz oder mit Deutschland nur bedingt vergleichbar. Es gibt besonders in der Schweiz weniger Arbeitslosigkeit, bessere Perspektiven und eine stärkere soziale Durchmischung, auch in grösseren Städten. Die muslimische Bevölkerung ist von Einwanderern aus dem Balkan geprägt, sie lebt weniger segregiert und ist mehrheitlich säkular eingestellt. Der Staat geht zudem nicht offensiv gegen religiöse Glaubensbekundungen in der Schule vor.

Allerdings gibt es auch hier Symptome für die zunehmende Verbreitung eines Halal-haram-Denkens. Offensichtlich wurde das nach dem Hamas-Terror am 7. Oktober. Viele jüdische Kinder berichteten, sie würden von muslimischen Mitschülern gemobbt. Lehrerinnen und Lehrer, die in stark multikulturell geprägten Quartieren unterrichten, sind seit einigen Jahren mit Schülern konfrontiert, die durch religiös verbrämtes Machtgebaren auffallen. Dies etwa, indem sie gemeinsamen Unterricht mit Mädchen ablehnen und Lehrerinnen respektlos behandeln.

So hat es in Frankreich einst angefangen, vor über zwanzig Jahren. Die Ersten, die darunter zu leiden hatten, waren jüdische Kinder, die sich zum Teil in private Schulen zurückzogen. Das Problem wurde vom französischen Establishment jedoch lange verschwiegen und verdrängt – aus Angst vor Rassismusvorwürfen und mit dem Argument, dass man wegen «Einzelfällen» «keine Wellen» produzieren dürfe. Eine Mehrheit der Linken und viele Bürgerliche tabuisierten das Problem, indem sie Warnern vorwarfen, «Wasser auf die Mühlen der Rechten» zu leiten.

Mit dieser Mischung aus Angst, Überforderung und Verblendung reagieren Politiker und Pädagogen auch in der Schweiz und in Deutschland auf «konfrontative Religionsbekundung», wie das Phänomen im Soziologenjargon heisst. Der Zürcher Lehrerverbandspräsident Christian Hugi sprach 2021 von «individuellen Einzelfällen», als ob es keine gemeinsamen ideologischen Ursachen dieser «Einzelfälle» gäbe. Das Problem des islamischen und arabischen Judenhasses wird verwischt, indem Politikerinnen wie die grüne Stadtberner Bildungsdirektorin Franziska Teuscher Antisemitismus in einem Atemzug mit «antimuslimischem Rassismus» nennen.

Brennende Schulen in Belgien

Fachhochschulen bereiten angehende Lehrkräfte kaum auf die Herausforderung durch «konfrontative Religionsbekundungen» vor. Vielmehr scheinen die Bildungstheoretiker von postkolonialen und intersektionalen Theorien beeinflusst zu sein: Muslime gelten als homogene Gruppe, die wie andere Minderheiten von der Mehrheitsgesellschaft unterdrückt wird. Islamismus ist in dieser Weltsicht kein Oberbegriff für gefährliche Ideologien, sondern eine Einbildung von Rechten oder allenfalls eine Reaktion auf Ausgrenzung und Diskriminierung.

Im Hochschulmagazin «Polis» zum Beispiel, das von staatlichen Stellen unterstützt wird, werden den Schülern Unterrichtsmaterialien empfohlen, in denen sie sich «mit Anti-Islamismus, Mobbing, strukturellem Rassismus und Stigmatisierung» auseinandersetzen können. Anti-Islamist zu sein – also politische Strömungen abzulehnen, die religiöse Gesetze über jene der demokratischen Verfassung stellen –, ist demnach schlecht und rassistisch, wie es überhaupt schlecht ist, über Islamismus zu reden. Die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik zumindest rät in einem Leitfaden zu «Gender und Diversity in der Kommunikation» davon ab, den Begriff zu benutzen: Er werde allzu oft mit Terror assoziiert.

Wer Islamismus im Namen von Vielfalt und Geschlecht tabuisiert, ist entweder naiv oder zynisch. Denn Islamisten sind nur dann für Vielfalt, wenn es der Durchsetzung ihrer religiösen Ziele dient. Bei Protesten gegen Schullektionen über Sexualität und LGBT-Rechte verbünden sich islamische Fundamentalisten nicht zufällig mit reaktionären Christen. So geschehen in England oder in Belgien, wo Unbekannte im letzten Herbst fünf Schulen in Brand setzten und mehrere Schulhäuser verschmierten.

Der heutige «Theo-Populismus» richtet sich zudem auch gegen Kinder aus muslimischen Familien. Am 2. April ist im französischen Montpellier ein Mädchen bewusstlos geprügelt worden. Das Motiv der Attacke ist noch nicht restlos klar. Die Mutter sagte jedoch aus, Mitschülerinnen hätten ihre Tochter als «Nutte» und «Ungläubige» beschimpft.

Die ungehörte Warnung von Michaëlle Paty

Eine weitsichtige Integrations- und Bildungspolitik würde nicht das Opfernarrativ der Islamisten stärken, sondern jene Muslime, die ihre Religion als Privatsache betrachten. Schulen, in denen Jugendgruppen für Unruhe sorgen, müssten durch Umteilungen von Schülern entlastet werden. Es kann nicht sein, dass in manchen Quartieren eine Minderheit eine Mehrheit integrieren soll, während andere kaum betroffen sind.

Lehrer sollten sich in der Ausbildung mit islamistischem Gedankengut befassen. Sie könnten den Kindern zeigen, was totalitäre Ideologien verbindet und welche Unterschiede es zwischen christlichem und islamischem Judenhass gibt. Sie könnten vom osmanischen Völkermord an den Armeniern erzählen, der im Gegensatz zum Krieg in Gaza wirklich ein Genozid war. Und sie könnten ein Bewusstsein schaffen für die gemeinsame Verantwortung der arabischen und der europäischen Imperialisten für den Sklavenhandel, statt woke Glaubenssätze von der Alleinschuld des weissen Mannes nachzuerzählen.

Das braucht Mut. Aber wer glaubt, Fundamentalisten mit Dialog und Entgegenkommen beruhigen zu können, irrt. «Wir müssen feststellen, dass sich einige schlicht weigern, mit uns eine Gesellschaft zu bilden», sagte Michaëlle Paty kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift «Le Point». Paty ist die jüngere Schwester des französischen Lehrers Samuel Paty, der 2020 von einem Islamisten auf offener Strasse enthauptet wurde, weil er seinen Schülern das Prinzip der Meinungsfreiheit erklären wollte und ihnen Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte.

Der Mörder wurde auf Paty aufmerksam, nachdem Eltern und islamistische Aktivisten in den sozialen Medien eine Verleumdungskampagne gegen den angeblich «islamophoben» Lehrer losgetreten hatten. Schüler zeigten dem Mörder, wo er Paty finden könne. Denn sie waren der Ansicht, dass er eine Abreibung verdient habe.

Selbst in Frankreich gibt es laut Michaëlle Paty immer noch Leute, die nicht sehen wollen, wie sehr islamistische Ideologien die Schule bedrohen. Es sei aber lebenswichtig, das Übel zu benennen. «Ich befürchte, dass es ohne eine entschlossene Reaktion sehr schlecht ausgehen wird.»

Der belgische Sender TVL verzichtete übrigens darauf, den islamistischen Hintergrund der eingangs geschilderten Pöbelei gegen die homosexuellen Aktivisten in Genk zu erwähnen. Es sei, so lautete die Begründung, nicht klar gewesen, was die Schüler geschrien hätten.

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