Montag, Oktober 21

Soll die Nationalbank einen teureren Franken zulassen, um damit die Einwanderung zu bremsen? Dieser Vorschlag eines führenden Bundesökonomen ist kontrovers.

Erfolg hat seinen Preis. Was viele als Preis für den Wirtschaftserfolg der Schweiz empfinden, ist die hohe Einwanderung. Im Februar 2014 hatte das Volk die Einwanderungsinitiative angenommen. 2013 war die Nettoeinwanderung in die Schweiz mit 89 000 Personen auf dem höchsten Stand seit Jahrzehnten.

In der Folge drückten der Franken-Schock von 2015 und die Pandemie die Einwanderung deutlich. Doch dann zog es wieder an. 2022 lag die Nettoeinwanderung mit knapp 85 000 Personen wieder nahe beim früheren Hoch. 2023 waren es sogar über 102 000, wovon etwa 70 Prozent aus der EU kamen. Und für das laufende Jahr ist gemessen an den Daten bis August mit einer Nettoeinwanderung von 85 000 bis 90 000 zu rechnen. Alle genannten Zahlen sind ohne Einbezug der Flüchtlinge; die Flüchtlingsfrage wird zwar gerne mit der Europapolitik vermischt, doch diese Dinge sind voneinander zu trennen.

Knall auf Ansage

Mit der Verrentung von geburtenstarken Jahrgängen in den nächsten fünf bis fünfzehn Jahren könnte der Bedarf der Wirtschaft nach Zuwanderern noch wachsen. Viele Beobachter mutmassen, dass eine solch hohe Einwanderung nicht dauerhaft genügend Akzeptanz haben wird – und dass es deshalb irgendwann zu einem politischen Knall kommt, zum Beispiel mit einem Volks-Ja zur nächsten SVP-Einwanderungsinitiative.

Auch Boris Zürcher, der scheidende Chef Arbeitsmarkt des Bundes, befürchtet mittelfristig Akzeptanzprobleme. Das hat er jüngst in einem NZZ-Interview deutlich gemacht. Er erklärte die hohe Einwanderung mit dem hohen Wachstum der Arbeitsplätze in der Schweiz. Die Nationalbank habe mit ihrer Geldpolitik das Wachstum zugelassen. Dahinter stehe eine Wechselkurspolitik mit Ausrichtung auf den eher schwachen Euro. Laut Zürcher wäre die Einwanderung mit der gleichen Geldpolitik auch ohne die Personenfreizügigkeit mit der EU ähnlich hoch gewesen.

Eine seiner Kernbotschaften: Wenn man die Einwanderung aus politischen Gründen senken will, solle man dies nicht über Schutzklauseln oder Zuwanderungsabgaben steuern, sondern durch eine stärkere Aufwertung des Frankens – zum Preis einer Belastung des Exportsektors.

«Wenig effizient»

Das ist kontrovers. «Die Aussage ist interessant, aber es fehlen wissenschaftliche Grundlagen», sagt Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktexperte bei der ETH Zürich. Laut Siegenthaler ist der Einfluss der Geldpolitik auf die Einwanderung unklar. Zudem würde es zu einer Verpolitisierung der Nationalbank führen, wenn sie plötzlich auch noch für die Einwanderung zuständig sein sollte.

«Eine stärkere Aufwertung würde vor allem der Exportwirtschaft und damit den produktivsten Sektoren schaden», betont der Berner Wirtschaftsprofessor Aymo Brunetti. «Das könnte zwar die Beschäftigung und damit auch die Einwanderung reduzieren, aber das ginge zulasten der Produktivität und damit auch des Wohlstands.» Laut Brunetti wäre eine solche Steuerung «ein sehr indirekter und wenig effizienter Versuch, die Einwanderung zu bremsen».

Die These zur Bedeutung der Geldpolitik für die Einwanderung erscheine plausibel, sagt Peter Stalder. Er war früher Forscher in der Nationalbank und baute ein volkswirtschaftliches Modell, das er immer noch für Studienaufträge verwende. Laut Stalder hat die Nationalbank (SNB) ein Wirtschaftswachstum zugelassen, das mit dem inländischen Arbeitskräftepotenzial nicht allein realisierbar gewesen wäre.

Ohne die Möglichkeit der Arbeitgeber zur Rekrutierung im Ausland hätte die betriebene Geldpolitik gemäss Stalder wegen Knappheit von Arbeitskräften Inflation ausgelöst – womit die SNB zur Wahrung der Preisstabilität restriktiver hätte werden müssen (lies: höhere Zinsen, teurerer Franken). Stalders Fazit: «Die Personenfreizügigkeit erlaubt der SNB, ohne Gefährdung der Preisstabilität einen relativ lockeren Kurs zu fahren.»

Produktivitätsgewinne

Bringt die Einwanderung in den Arbeitsmarkt nur ein Wachstum der Gesamtwirtschaft oder auch einen Wohlstandsgewinn via höhere Produktivität? Eine restlos schlüssige Antwort ist schwierig zu geben. Sichtbar ist hingegen: Die Produktivität pro Arbeitsstunde in der Schweiz ist in den 20 Jahren seit Einführung der Personenfreizügigkeit (2002 bis 2022) im Vergleich zu anderen europäischen Ländern passabel gewachsen.

Laut einer Studie von 2024 im Auftrag des Bundes stieg die Produktivität pro Arbeitsstunde in dieser Periode in der Schweiz um total 21 Prozent. Das ergibt Rang 3 unter acht europäischen Vergleichsländern (vgl. Grafik). Portugal als führendes Land in dieser Gruppe nutzte sein im Vergleich zu reicheren Ländern grösseres Aufholpotenzial. Gemessen am Produktivitätsniveau 2022 war die Schweiz in der Vergleichsgruppe die Nummer eins.

Der Franken war im Vergleich zu anderen Währungen nicht etwa schwach. Gemessen am realen Wechselkursindex ist der Franken seit dem Jahr 2000 rund 18 Prozent teurer geworden. Das entspricht im Mittel einer teuerungsbereinigten Aufwertung von etwa 0,7 Prozent pro Jahr. Dies im Vergleich zu einem handelsgewichteten Währungskorb, in dem der Euro ein grosses Gewicht hat.

Was Geldpolitik bewirkt

Geldpolitik kann heftige Konjunkturschwankungen ausbalancieren. Der Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung ist unter Ökonomen ein oft diskutiertes Thema. Eine gängige These dabei: Kurzfristig kann der Einfluss sehr gross sein, doch auf lange Frist kann eine lockere Geldpolitik das Wachstum nicht dauerhaft erhöhen.

Eine amerikanische Forschergruppe führte 2024 eine Studie mittels eines Datensatzes von 17 relativ reichen Volkswirtschaften seit dem späten 19. Jahrhundert durch und ortete eine Asymmetrie: Geldpolitische Schocks, welche die Wirtschaft bremsen, zeitigen auch zehn Jahre danach noch negative Effekte, während ein positiver Schock via Lockerung mittel- und längerfristig keine Belebungseffekte mehr hat.

Eine der möglichen Erklärungen für diese Asymmetrie: Ein mehrjähriger Einbruch am Arbeitsmarkt lässt sich in einem folgenden Aufschwung nicht unbedingt so leicht wieder wettmachen, weil manche Betroffene wegen längerer Arbeitslosigkeit Qualifikationen und Beziehungsnetze verloren haben.

Die Reduktion der Einwanderung via Zulassung einer stärkeren Frankenaufwertung hätte mindestens einen Vorteil: Es gäbe keinen Ärger mit dem grossen Nachbarn EU – im Unterschied zu anderen diskutierten Massnahmen wie einseitige Schutzklausel oder eine Zuwanderungsabgabe. Doch der Preis wären Schäden in unklarem Ausmass vor allem für den produktiven Exportsektor.

Die Diskussion erinnert an eine gerne ignorierte Faustregel: Die Schweiz kann die Einwanderung reduzieren, wenn sie ihre Attraktivität senkt und damit der Wirtschaft schadet. In eine ähnliche Richtung gehen Vorschläge aus dem linken politischen Lager, die Firmensteuern zu erhöhen und damit die Einwanderung zu senken. Früher kämpfte die Linke gegen tiefe Firmensteuern mit dem Argument, dass diese nichts brächten. Heute muss das gegenteilige Argument herhalten: Sie bringen «zu viele» neue Arbeitsplätze und damit zu viel Einwanderung.

«Zwei deutsche Studien liefern Hinweise, dass tiefere Unternehmenssteuern die lokale Beschäftigung recht stark erhöhen», sagt der ETH-Ökonom Michael Siegenthaler, der eine Analyse zum Zusammenhang zwischen Firmensteuern und Arbeitsplätzen für die Schweiz plant.

Die Steuern sind nur einer von vielen Standortfaktoren. In Befragungen der Beratungsfirma McKinsey zur Bedeutung von Standortfaktoren in der Schweiz für multinationale Firmen sind die Steuern an dritter Stelle erwähnt (vgl. Grafik). Die genannten und weitere Faktoren machen die Standortattraktivität der Schweiz aus und tragen damit viel zur hohen Beschäftigung bei – und zur hohen Einwanderung.

Will man die Einwanderung bremsen durch eine Senkung der Attraktivität der Schweiz für internationale Firmen, könnte man somit diese Liste durcharbeiten: Zuerst wäre die Ausbildung von Fachkräften zu reduzieren, dann die politische Stabilität zu beenden, die Steuern zu erhöhen, das Leben der Firmen durch mehr Regulierung zu erschweren, die Infrastruktur zu verschlechtern und, und, und.

Weisheit des Volksmunds

Wer die Einwanderung bremsen will, muss das Arbeitsplatzwachstum bremsen, denn bei den inländischen Arbeitskräften ist das verbliebene Ausschöpfungspotenzial begrenzt. Bei welchen Massnahmen das Kosten-Nutzen-Verhältnis am besten wäre, bleibt unklar. «Man müsste zuerst besser verstehen, welche die Ursachen des Schweizer Beschäftigungswunders sind», sagt der ETH-Ökonom Michael Siegenthaler.

Der Wirtschaftsprofessor Aymo Brunetti nennt als seine bevorzugten Massnahmen eine Schutzklausel und eine Art Zuwanderungssteuer. Ob man das Risiko einer Versenkung des bilateralen Vertragspakets dafür in Kauf nehmen will, ist die grosse Frage. Die Ironie dabei: Sollte eine solche Versenkung erheblichen Schaden bringen, würde dies die Einwanderung auch ohne künstliche Begrenzungsmassnahmen reduzieren.

Eine Einwanderungsbremse wird jedenfalls nicht gratis sein. Das weiss auch der Volksmund: Das Fell des Bären kann man nicht waschen, ohne dass es nass wird.

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