Ist die Meinungsfreiheit in Europa bedroht? Deutschland geht mit teilweise fragwürdigen Mitteln gegen Hassrede im Netz vor. Aber auch Donald Trump bekämpft unliebsame Medien.
In Deutschland riskiert eine Busse, wer einen Politiker Versager nennt. Der deutsche Rechtsanwalt Markus Roscher schrieb auf X, er sei zu einer Geldbusse von 3000 Euro verurteilt worden, weil er Robert Habeck, Olaf Scholz und Annalena Baerbock wegen des Heizungsgesetzes boshafte Versager, dumm und arrogant nannte. Nun soll dem Freizeitjäger auch noch der Waffenschein entzogen werden – wegen «Unzuverlässigkeit». Auch könnte er sein Anwaltspatent verlieren.
Als langjähriger Twitterer kenne er eigentlich die roten Linien, sagte Roscher gegenüber der «Bild»-Zeitung. Doch die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit seien mit der rot-grünen Regierung «verrutscht».
Roscher, der sich rechts positioniert, machte dies vergangene Woche öffentlich, ermutigt von J. D. Vance’ Rede an der Sicherheitskonferenz in München. Der amerikanische Vizepräsident bezeichnete die Zensur der freien Meinungsäusserung als grösste Bedrohung für Europa.
Die europäischen Regierungen brächten ihre Bürger zum Schweigen, sagte Vance. Abweichende Meinungen würden unterdrückt und zu Falschinformationen erklärt. Doch man könne die Menschen nicht dazu zwingen, «was sie denken, fühlen oder was sie glauben sollen».
Razzien frühmorgens um sechs
Zwei Tage nach Vance’ Auftritt strahlte der amerikanische Fernsehsender CBS eine vielbeachtete Dokumentation aus, die aufzeigt, dass die Gesetze zur Meinungsfreiheit in Deutschland tatsächlich vergleichsweise streng ausgelegt werden. Der Beitrag innerhalb des populären Nachrichtenmagazins «60 Minutes» trug den Titel «Die Überwachung des Internets in Deutschland, wo Hassreden und Beleidigungen ein Verbrechen sind».
«Es beginnt oft mit einem frühmorgendlichen Besuch der Polizei», sagt die «60 Minutes»-Moderatorin Sharyn Alfonsi einleitend. Dann sieht man Beamte in eine Wohnung treten, sie soll sich im Nordwesten Deutschlands befinden. Mit Laptop und Mobiltelefon in Plastiksäcken kommen die Polizisten wieder heraus. Die Geräte werden konfisziert, weil ihr Besitzer einen rassistischen Cartoon gepostet haben soll.
German state police raid a home, seizing the suspect’s laptop and phone. The crime? Posting a racist cartoon online. https://t.co/4LHUP1ZWrB pic.twitter.com/tEC1N1Nm1L
— 60 Minutes (@60Minutes) February 17, 2025
Ihre Arbeit, so sagen drei Staatsanwälte im Verlauf der Sendung selbstgewiss in die Kamera, trage dazu bei, die Demokratie zu bewahren. Ihre Aufgabe sei es, zu unterbinden, dass sich schädliche Rhetorik ungehindert verbreite.
Vor allem eine Szene sorgte bei vielen Zuschauern für Empörung. «Wie reagieren die Leute, wenn man ihnen das Handy wegnimmt?», fragt die Moderatorin. «Sie sind geschockt», antwortet einer der Staatsanwälte. «Es ist wie eine Strafe, ohne Handy zu sein, schlimmer als die Busse selbst.» Alle drei lachen. Es belustigt sie offensichtlich, wenn sie daran denken, wie ihre Einschüchterung wirkt.
Die Dokumentation wirft die Frage auf, wo in Deutschland die Grenze zwischen zulässiger Meinungsäusserung und strafbarem Verhalten verläuft. Von Gesinnungsjustiz war in den Reaktionen die Rede als Folge des ausgeprägten deutschen Moralismus. Tatsächlich kann man im Auftreten der Ermittler einmal mehr das Bemühen erkennen, den Bürger mit einem gut gemeinten Gesetz zum besseren Menschen zu erziehen.
Wenig überraschend, getraut sich laut Umfragen fast die Hälfte der Deutschen nicht mehr, öffentlich ihre Meinung zu sagen.
Robert Habecks 700 Strafanzeigen
Eine Zäsur im Kampf gegen Hasskriminalität war in Deutschland der Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke. Lübcke wurde in den sozialen Netzwerken jahrelang angefeindet und mit dem Tod bedroht. 2019 wurde er von einem Rechtsextremen erschossen.
Seither sind in Deutschland viele neue Beleidigungsparagrafen entstanden, die Hass im Netz zum Tatbestand machen. So kann man seit 2021 wegen Politikerbeleidigung strafrechtlich verfolgt werden. Davon macht etwa Robert Habeck regen Gebrauch. Der Grünen-Politiker hat über 700 Strafanzeigen wegen Hassnachrichten gestellt. Letzten Herbst zeigte er einen Mann an, der ihn auf X als «Schwachkopf» bezeichnet hatte. Infolgedessen kam es zu einer Hausdurchsuchung.
Heute gibt es in Deutschland nicht weniger als sechzehn Einheiten mit Ermittlungsteams, die Hasskommentare untersuchen. Das erklärt in «60 Minutes» ein Strafverfolger in seinem Büro vor Stapeln von Akten. Sie behandelten in der Einheit Niedersachsen jährlich 3500 Fälle. Es klingt nach einem Fass ohne Boden.
Die CBS-Moderatorin spricht denn auch ironisch von einem «Hauch deutscher Ordnung im wahrlich unordentlichen World Wide Web». Sie fragt, ob die Hassjäger wirklich glaubten, etwas bewirken zu können. Diese bejahen. Alles andere würde ihren Eifer infrage stellen.
Das Weisse Haus sperrt AP aus
Ja – so würden viele Amerikaner antworten und mit ihnen alle, die unter Freiheit das Recht verstehen, Anstoss zu erregen und im Gefühlsaufruhr auch einmal etwas Unflätiges zu sagen. J. D. Vance jedenfalls sah sich durch den CBS-Beitrag bestätigt. Er kommentierte ihn auf X mit dem Wort «orwellianisch». «Beleidigung ist kein Verbrechen», schrieb er. Das Kriminalisieren von freier Rede werde die Beziehungen zwischen den USA und Europa belasten.
In den USA schützt der erste Zusatzartikel die freie Meinungsäusserung. Das gilt selbst dann, wenn eine Aussage Hass schürt. Explizit genannt wird auch die Pressefreiheit, deren Schutz vor der Kontrolle durch die Bundesregierung gewährt sein soll.
Allerdings fiel Donald Trumps fragwürdiger Umgang mit unabhängigen Medien seit seinem zweiten Amtsantritt schon mehrfach auf. Während J. D. Vance den Europäern in München Zensur auch von unliebsamen Journalisten vorwarf, die bloss berichten wollten, entzog das Weisse Haus der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) die Zugangsberechtigung zum Oval Office und zur Air Force One.
AP weigert sich, die neue Bezeichnung für den Golf von Mexiko zu übernehmen, den Trump eigenmächtig zum Golf von Amerika umbenannt hat. Der Entscheid von AP sei spalterisch und fehlinformierend, hiess es aus dem Weissen Haus. Die AP werde so lange von Presseterminen ferngehalten, bis sie den richtigen Namen verwende.
Selbst die konservativen Sender Fox News und Newsmax forderten das Weisse Haus auf, den Ausschluss der Nachrichtenagentur aufzuheben. Erfolglos. AP klagt nun dagegen.
Ende der Cancel-Culture?
Trumps Druckversuchen gegenüber kritischen Medien steht gleichzeitig eine Lockerung der Grenze des Sagbaren gegenüber. So hat er ein Dekret zur «Wiederherstellung der Redefreiheit und Beendigung der staatlichen Zensur» unterzeichnet. Die grossen Tech-Firmen gingen mit der Abschaffung des Faktenchecks voran.
Der Kampf der neuen Regierung gegen Diskriminierungsregeln, gegen Identitätspolitik und Wokeness sieht ein Ende des verordneten «richtigen Sprechens» vor, etwa beim Gendern. Wenn man in den USA in den vergangenen Jahren jemanden mit dem falschen Pronomen anredete, drohten einem Verunglimpfung und Ausschluss.
Die Signale bleiben allerdings widersprüchlich. Elon Musk nennt sich gerne einen «Verfechter der freien Meinungsäusserung», handelt jedoch ebenso freimütig gegen diese proklamierte Überzeugung. So forderte er «eine lange Gefängnisstrafe» für Journalisten von «60 Minutes», weil diese Kamala Harris in einem Interview zu vorteilhaft dargestellt hätten. Mit dem manipulativen Beitrag habe CBS die Wahlen zu beeinflussen versucht. Das hat schon Trump behauptet und deswegen Klage eingereicht.
Seine Anschuldigung postete Musk am selben Tag, an dem «60 Minutes» den Report über die Meinungsfreiheit in Deutschland ausstrahlte. Musk hat sich diesen ebenfalls angeschaut. Er teilte die Sendung auf X und schrieb: «Gott sei Dank hat Amerika Redefreiheit!»