Das Spital Bülach hat dank dem neuen Modell weniger Kündigungen und braucht kaum mehr temporäre Pflegende. Nun sind auch grosse Betriebe darauf aufmerksam geworden.
Manuel Portmann hat eine Lösung für eines der drängendsten Probleme der Schweizer Spitäler. Die Idee dazu hat er von einer Autobahnraststätte, in der er in den neunziger Jahren einst arbeitete. Sie ist so simpel und überzeugend, dass kürzlich die renommierte Berliner Charité bei ihm angerufen hat und wissen wollte, was er da macht.
Portmann ist seit 2022 HR-Leiter im Spital Bülach. Von Spitälern hatte er damals wenig Ahnung, aber genau das hat ihn gereizt, sich zu bewerben. Er wollte etwas Neues machen und dachte sich, er könne vielleicht Ideen und Konzepte einbringen, die er aus seiner Zeit in der Gastronomie und Hotellerie mitbrachte.
Er hatte kaum in Bülach angefangen, als die Leiterin des Pflegedienstes auf ihn zukam und ihm von ihren Schwierigkeiten erzählte: Sie hätten Mühe, neues Personal zu finden. Mitarbeitende über 50 hätten gesundheitliche Probleme wegen der Nachtdienste. Und es werde immer schwieriger, Mitarbeitende für kurzfristige Einsätze aufzubieten, da viele schon am Limit seien.
Es sind Probleme, mit denen derzeit alle Spitäler zu kämpfen haben: Vor allem in der Pflege fehlt das Personal. Viele Pflegende verlassen den Beruf, weil ihnen die kräftezehrende Schichtarbeit zu viel wird oder sich nur schlecht mit dem Familienleben vereinbaren lässt.
Die Spitäler stopfen die Lücken mit Temporärpersonal. Doch die Temporären sind teurer als Festangestellte und oft weniger produktiv, weil sie die Abläufe im Betrieb nicht kennen.
Vom Koch zum Spitalmanager
Landauf, landab suchen die Spitäler nach Lösungen, um ihr Personal zu halten oder neue Festangestellte zu finden. Sie erhöhen die Löhne, verteilen Boni oder reduzieren die Arbeitszeit bei gleichem Lohn. Der Erfolg ist oft nicht durchschlagend, und vor allem kosten die Massnahmen viel Geld, das den finanziell angeschlagenen Spitälern fehlt.
Als Portmann von den Problemen hörte, erinnerte er sich an ein Konzept, das er vor Jahrzehnten kennengelernt hatte. Als Jugendlicher hatte er eine Lehre als Koch gemacht. Die Arbeit war ihm aber zu anstrengend, und vor allem störte er sich an den vielen Einsätzen am Abend sowie an Wochenenden. Also entschloss er sich, einen anderen Weg einzuschlagen. Er absolvierte bei Mövenpick ein Management-Trainee-Programm.
Einer seiner ersten Kaderjobs führte ihn in die Autobahnraststätte Glarnerland in Niederurnen, wo er für das Marché-Restaurant zuständig war. Das war Mitte der neunziger Jahre. Die Restaurantkette hat damals die Systemgastronomie in der Schweiz etabliert mit verschiedenen Food-Stationen, einer offenen Küche und vor allem langen Öffnungszeiten: von 5 Uhr morgens bis Mitternacht.
Die Besucherzahlen in der Raststätte schwankten stark. Lockte im Winter ein sonniges Wochenende Tausende Zürcherinnen und Zürcher in die Bündner Berge, war das Restaurant vom frühen Morgen an voll ausgelastet. Bei schlechtem Wetter blieben die Gäste aus. Die Herausforderung war also: Wie schafft man es, an Spitzentagen genug Personal und an schwachen Tagen nicht zu viel Personal im Restaurant zu haben?
Der Betrieb löste das Problem mit einem simplen System: Mitarbeitende, die besonders flexibel waren und sich häufig für spontane Einsätze aufbieten liessen, verdienten mehr. Umgekehrt hatten jene einen tieferen Lohn, die nur bereit waren, an ihren fixen Einsatztagen zu arbeiten. Damit gewann der Betrieb Flexibilität.
Das Spital spart Geld
Jahrzehnte später dachte sich Portmann in Bülach: Die Situation im Spital ist eigentlich ähnlich. Auch hier gibt es Schichten und unvorhersehbare Einsätze. Warum also nicht das Modell der Raststätte adaptieren?
«Als ich die Idee das erste Mal in Bülach vorgebracht habe, haben alle die Hände verworfen. ‹Wir sind doch kein Autobahnrestaurant!›, sagten sie.» Schliesslich habe er aber die Pflegedirektorin davon überzeugen können, einen Versuch zu wagen. Sie feilten an ihrem Konzept und veranstalteten gemeinsame Sitzungen mit allen Pflegenden, die ihre Vorschläge einbringen konnten.
Im April 2023 startete das Projekt. Die Mitarbeitenden konnten sich in drei Stufen einteilen lassen: Fix, Flex, Superflex. Jene der Stufe Fix arbeiten nur zu festen Arbeitszeiten und müssen keine Nachtdienste leisten. Dafür erhalten sie den üblichen Grundlohn. Für Superflex-Mitarbeitende gibt es zum Grundlohn eine monatliche Zulage von 350 Franken. Dafür müssen sie aber Nachtdienste leisten und pro Jahr mindestens 18 Mal einspringen. Flex liegt etwa in der Mitte dieser Varianten. Wer die Stufe wechseln will, kann das alle drei Monate tun.
Die Sache wurde zum Erfolg, das belegen Zahlen des Spitals Bülach. Die Fluktuationsrate sank um 30 Prozent. Und das Personal fällt auch seltener krankheitsbedingt aus, die Absenzenquote nahm um 20 Prozent ab. Vor allem aber braucht das Spital fast keine Temporärkräfte mehr für kurzfristige Einsätze. Waren es 2022 noch 856 Einsätze, sind es im laufenden Jahr gerade einmal 14.
Und damit rechnet sich das neue Modell auch finanziell für das Spital: Die Zulagen haben den Betrieb zwar 900 000 Franken gekostet, nur schon bei den Temporären konnte er aber 1,1 Millionen sparen. Zudem sei die Zufriedenheit der Mitarbeitenden gestiegen, sagt Portmann, und die Rekrutierung laufe besser. Es kehrten gar Fachkräfte zurück, die wegen der Schichtarbeit nicht mehr in der Pflege hätten arbeiten wollen.
Laut Portmann gibt es auch keinen Neid von jenen, die nur für den Grundlohn arbeiten, auf jene, die einen Zustupf bekommen. «Viele in der Stufe Fix sind erleichtert, weil sie kein schlechtes Gewissen mehr haben müssen, wenn sie zum Beispiel aus familiären Gründen nicht einspringen können.»
«Spitäler nicht mit noch mehr Gesetzen einengen»
Die Idee hat dem Spital den Swiss HR Award 2024 eingebracht. Und der Erfolg ist auch bei anderen nicht unbemerkt geblieben. Sie seien von diversen Spitälern angefragt worden, sagt Portmann, aber auch von Betrieben in anderen Branchen, wie zum Beispiel den SBB. Übernommen hat die Idee seines Wissens bisher noch niemand, das Spitalzentrum Biel arbeite derzeit aber an einem ähnlichen Konzept.
Das Bülacher Modell kommt auch beim Zürcher Verband der Pflegefachfrauen und -männer gut an. Der Geschäftsführer Kuno Betschart sagt: «Wenn man seinen Leuten gut schaut, dann muss man auch nicht ständig neue suchen.» Natürlich sei die finanzielle Situation in den Spitälern angespannt, «aber dann muss man eben kreativ werden».
Genau das habe man in Bülach getan. Die Pflegenden äusserten sich positiv zum neuen Modell, gerade auch jene, die nun befreit seien vom Einspringen und von Nachtschichten. «Wichtig ist aus unserer Sicht, dass jene, die besonders flexibel sind, dafür auch entlöhnt werden.» Das sei hier ja der Fall.
Portmann freut sich, dass seine Idee so gut ankommt. «Bei uns passt das Modell perfekt, aber was wir machen, muss nicht überall funktionieren.» Portmann plädiert für Experimentierfreudigkeit und Mut, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Und dazu brauche es Freiheit. «Es ist wichtig, dass die Spitäler nicht durch noch mehr Gesetze eingeschränkt werden, und seien sie auch noch so gut gemeint», findet Portmann.