Jordi Savall dirigiert in der Tonhalle Zürich zwei Bühnenwerke von Gluck und von Rameau, einmal mit szenischer Darstellung, einmal ohne. Die Wirkung der Musik verändert dies stark. Liegt im Audiovisuellen die Zukunft des Konzerts?
Jordi Savall steht kopf. Das hätte man dem 83 Jahre alten Doyen der Alte-Musik-Bewegung nicht unbedingt zugetraut – denkt man bei ihm doch angesichts seines würdevollen Äusseren eher an einen spanischen Granden, der soeben einem Gemälde von Velázquez entstiegen ist. Allerdings hat diesmal offensichtlich ein anderer Maler Pate gestanden, nämlich Georg Baselitz – denn Savall steht wirklich auf dem Kopf, zumindest auf allen Publikationen der Migros-Kulturprozent-Classics-Konzerte. Und wer sich in der Tonhalle Zürich umsieht, entdeckt noch andere bekannte Interpreten in dieser ungewohnten Körperhaltung. Etwa den Dirigenten Iván Fischer: Sein Konterfei scheint zu fliegen und mit weit ausgebreiteten Armen abwärts zu segeln wie ein gefallener Engel.
Doch es geht hier nicht um Theologie, sondern um die Präsentation von klassischer Musik. Das ausgefallene Bildkonzept ist die naheliegende, aber wirkungsvolle Illustration des Spielzeitmottos «180°», das Mischa Damev, der Intendant der Migros-Konzerte, der laufenden Saison verliehen hat. Und strenggenommen nicht bloss dieser Saison. Damev, der seit 2018 auch das Festival Septembre Musical in Montreux leitet, denkt schon seit geraumer Zeit über eine Wende im Musikbetrieb nach. Und im Unterschied zu vielen seiner Intendantenkollegen macht er Ernst mit der Idee, dessen Gepflogenheiten grundsätzlich auf den Kopf zu stellen.
Mitten im Geschehen
So schreckte er die Branche Anfang 2023 etwa mit der Überlegung auf, die teilweise exorbitanten Gagen von Spitzensolisten und Dirigenten zu halbieren, um auf diese Weise Eintrittspreise von unter fünfzig Franken pro Konzertkarte finanzieren zu können. Sofern der eine oder andere prominente Künstler sich nicht darauf einlassen wolle, ergäben sich Chancen für interessante Nachwuchskräfte. Andernfalls, so mahnte Damev in einem Gespräch mit dem «St. Galler Tagblatt», blieben sonst eines Tages bloss noch Festivals übrig, «bei denen die Karten 1000 Franken kosten und die ewiggleiche Handvoll Superstars auftritt. So wie im 18. Jahrhundert.»
Das sass, und es traf einen wunden Punkt, wie man an einigen erregten Reaktionen aus der Musikszene ablesen konnte. Dann aber liess der Betrieb die in der Sache berechtigten Analysen und Warnungen Damevs verhallen und ging zur Tagesordnung über. Frei nach dem Motto: Noch kommt das Publikum ja, noch gibt es reichlich öffentliche Gelder, und noch füllen die besagten Stars die Häuser.
Damev aber wollte sich nicht damit abfinden. Seit 2024 versucht er in der Praxis, den Konzertbetrieb an den Spielorten der Migros-Reihe in Zürich, Luzern, Bern und Genf neu zu erfinden. Die Kartenpreise sind dort zwar noch nicht auf die angepeilten fünfzig Franken gesunken, sie bewegen sich bei Orchesterkonzerten zwischen 35 und 130 Franken – das ist aber immer noch weniger als die Hälfte dessen, was Festivals wie Luzern, Salzburg oder Bayreuth für die teuerste Kategorie verlangen. Ist das Gebotene darum auch nur halb so gut? Es ist auf jeden Fall anders – wirklich anders.
Damev setzt vor allem bei der Präsentation und der Form der Konzerte an. Die jahrhundertealte Trennung zwischen Bühne und Zuschauerbereich stört ihn besonders. Schon Ende 2022 liess er deshalb Kristjan Järvi, den jüngeren Bruder von Zürichs Musikdirektor, mit einem «Nutcracker Reimagined»-Projekt die unsichtbare vierte Wand vor dem Podium durchbrechen, die normalerweise Künstler und Zuschauer auf Distanz hält. Auch die eindrucksvolle Eröffnung der laufenden Saison im Oktober 2024 brachte die Musik buchstäblich zu den Hörern: Die Mitglieder des Aurora Orchestra und der Dirigent Nicholas Collon verteilten sich, auswendig musizierend, im gesamten Tonhalle-Saal und liessen das Publikum bei Ravels «Boléro» mitten im Klanggeschehen sitzen.
Seither erlebte die Tonhalle unter anderem Veranstaltungen im Stil der legendären Einführungsperformances von Leonard Bernstein und mit grafischen Live-Animationen. Das Konzertformat um ein visuelles Moment zu erweitern, ist dabei keine grundstürzend neue Idee; es gibt zudem berechtigte Kritik an einer blossen Überlagerung der akustischen Ebene durch szenische Eindrücke. Werden diese jedoch sinnstiftend in das Konzept eingebunden, kann mehr daraus werden als ein oberflächlicher Zusatzreiz. Das zeigte sich jetzt exemplarisch beim Auftritt Jordi Savalls mit seinem Originalklang-Ensemble Le Concert des Nations.
Hören und schauen
Savall brauchte dabei nicht einmal kopfzustehen, er musste wegen einer Verletzung sogar sitzen. Dafür bewegen sich hinter seinem Rücken neun Tänzerinnen und Tänzer des Slowenischen Nationaltheaters Maribor in phantasievollen Posen über den vorderen Bereich des Podiums, der sonst der Streichergruppe vorbehalten ist. Das Tanzensemble zeigt eine virtuose Adaption von Christoph Willibald Glucks «Don Juan ou le Festin de pierre», das als erstes klassisches Handlungsballett in die Theatergeschichte eingegangen ist. Edward Clug, dessen Choreografien auch regelmässig vom Ballett Zürich getanzt werden, erzählt die Geschichte vom ewigen Verführer mit leichter Hand, doch immer mit doppeltem Boden – ähnlich, wie es Mozart sechzehn Jahre nach Gluck im «Don Giovanni» handhaben wird.
Dessen dramatische Wucht erreicht Glucks geistreiche Musik zwar nur in einzelnen Stücken wie der finalen Nummer «Les Furies», die später auch durch die Unterwelt in «Orfeo ed Euridice» geistern. Doch gerade bei den konventioneller gehaltenen Tänzen zeigt sich, wie das Bühnengeschehen und die von Savall wunderbar plastisch modellierte Musik ideal ineinandergreifen, wie sie sich gegenseitig tragen und befruchten können.
Umso aufschlussreicher der Vergleich zum ersten Teil des ohne Pause durchgespielten Konzerts: Hier dirigierte Savall die Orchestersuite aus Jean-Philippe Rameaus letzter Oper «Les Boréades» – noch ohne szenische Komponente. Die Musik wirkte in der elegant stilisierten Interpretation nicht weniger farbig und beredt; das allegorische Geschehen blieb dagegen völlig abstrakt und somit allein dem Vorstellungsvermögen der Zuhörer überlassen. Erstaunlich, wie stark dies die Wahrnehmung der Musik beeinflusst.