Autofiktion hat Konjunktur: Jahr für Jahr erscheinen Dutzende von Romanen über Selbsterfahrenes. Was sie auszeichnet, ist ein blässlicher Realismus, der der Wirklichkeit nichts schuldig bleiben will.

Die Wahrheit ist: Franz Kafka war kein Käfer, Gustave Flaubert keine Frau, und die Beach Boys konnten nicht surfen. Aber in der Kunst ist alles möglich. Dass sich ein Prager Versicherungsangestellter in Phantasie und Freizeit in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt oder ein adipöser Stubenhocker zur jungen Emma Bovary wird.

Die fünf Burschen aus Kalifornien haben das hedonistische Strandleben ihres Liedguts nicht geführt. Stattdessen haben sie zu Hause unter Beifall der Mütter vierstimmigen Chorsatz geübt. Kunst ist Lüge. Wenn darob heute manche die Polizei rufen wollen oder zumindest ihre Freunde aus der Kampfgruppe gegen kulturelle Aneignung, ist das betrüblich.

Als Roland Barthes vor über fünfzig Jahren den Tod des Autors verkündete, konnte er mit einem Wiedergänger noch nicht rechnen: dem Autor der Autofiktion. Mit mehr Macht denn je drängt dieser Autor heute in die Literatur und hat Selbsterfahrenes im Gepäck. Er liefert das Gegenteil kultureller Aneignung, weil ihm ohnehin schon alles gehört.

Es sind seine Geschichten. Oder seine Familiengeschichten. Der Autor oder die Autorin der Autofiktion räumt gerade die Häuser der verstorbenen Eltern aus oder nimmt Abschied von ihnen im Altersheim. Die Autofiktionados schreiben Coming-of-Age-Geschichten an ihrer eigenen Biografie entlang. Sie wohnen in Berlin-Prenzlauer Berg, sind dabei aber nicht glücklich.

In der Drehtür der Wahrheit

Dutzende Romane mit Stoffen dieser Art sind in den letzten Jahren geschrieben worden. Was sie im Ästhetischen auszeichnet, ist ein blässlicher und uniformer Realismus, der der Wirklichkeit aber auch wirklich nichts schuldig bleiben will. So war es, so ist es. So wahr ich hier stehe! Oder bei Lesungen sitze.

Voll Furcht haben Schriftsteller früher bei ihren Auftritten der notorischen Frage aus dem Publikum entgegengesehen, ob denn das Geschriebene alles selbst erlebt sei. Heute herrscht der von den Verkaufsabteilungen der Verlage oft selbst hergestellte Eindruck, dass zwischen den Autor und sein Werk kein Blatt passe. In Fragen der Authentizität reichen sich streberhaft wirkende Autorenlebensläufe und Verlagsmarketing die Hände.

Der amerikanische Literaturwissenschafter Dan Sinykin hat kürzlich ein brillantes Buch über «Big Fiction» veröffentlicht, darüber, wie sich die Literatur durch die grossen Verlagskonglomerationen verändert. In einem Interview mit der «Zeit» spricht er von der Strategie der «Authentizitätsperformance» und darüber, wie sie die Chancen eines Buches auf dem Markt deutlich erhöhen könne.

In der Literaturtheorie wird das autobiografische Schreiben mit einer Drehtür verglichen. Im Kreisen zwischen Wahrheit und Erfindung entstehen im Idealfall Fliehkräfte, die zu einem philosophischen Ausgang führen. Zu etwas Neuem und Eigenständigem. Beim heutigen Verständnis von Autofiktion bleibt es aber oft beim blossen Drehschwindel.

Selbstzerfleischung

Das Neue wird nicht auf ästhetischer Ebene verhandelt. Es ist ja immer schon griffbereit da: Das Neue ist die eigene Geschichte. Eine Geschichte, die noch nie erzählt wurde. Das Ich mit seinen privaten Be- und Empfindlichkeiten wird in einem schnörkellosen Akt literarischer Selbstermächtigung zu einem Beispiel für die strukturellen Schieflagen der Gesellschaft und für die Opfer, die diese Gesellschaft produziert.

Vor fast zwanzig Jahren hat ein damals hoffnungsvoller Jungschriftsteller namens Thomas Glavinic einen Roman geschrieben, der den Titel trug: «Das bin doch ich». Liest man dieses Buch heute noch einmal, wirkt es wie der ironische Kommentar auf die seither entstandene, vollkommen ironiefreie Ich-Literatur.

Im Roman gibt es einen Autor namens Thomas Glavinic, dessen Ego einem ebenso kreativen wie bedauerlichen Akt der Selbstzerfleischung ausgeliefert ist. Überall Zweifel. Daniel Kehlmann schickt eine SMS, dass von seinem Roman «Die Vermessung der Welt» schon 100 000 Exemplare verkauft seien. Der Thomas Glavinic des Romans sitzt unterdessen in tatendurstiger Selbsthemmung beim Bier und denkt: «In mir tobt ständig etwas, und ich frage mich, was mich eigentlich zusammenhält.»

Mühelos kann man von Glavinics «Das bin doch ich» einen Bogen spannen zum jüngsten Roman des österreichischen Landsmannes Wolf Haas, der ebenfalls im Titel die Frage nach dem Ich anklingen lässt: «Eigentum». Auch «Eigentum» ist Selbstfiktion auf wirklichkeitsnaher Grundlage. Das Buch liefert rund um die Geschichte der sterbenden Mutter jene Dekonstruktion des eigenen Ichs, ohne die ein Text nicht zu Literatur werden kann.

Schichten des Ichs

Um Anspruch bemühte Literatur hat definitionsgemäss mehr Fragen und Zweifel als Antworten. Wenn alles einfach wäre, könnte man anderen Formaten die selbstgewisse Aufführungspraxis des Ichs gänzlich überlassen. In den neuen Medien steigt der Wert der Währung namens Ich nicht durch den Selbstzweifel, sondern durch das Gegenteil.

Nur in der Fraglosigkeit des Ichs lassen sich seine Eigenschaften kapitalisieren. Und auf diese Eigenschaften kommt es eben auch an. Das Authentische oder zumindest das authentisch Wirkende zahlt sich aus. Man lernt in den neuen Medien Ichs kennen, die bekenntnisselig aus dem heraustreten, was man früher «Privatsphäre» genannt hätte. Wie weit ist der Weg vom massenhaft Autobiografischen zur wirklichen Literatur? Warum sickern immer mehr Bücher in die Verlage, die vermeintlich im Geiste von Annie Ernaux geschrieben sind?

Das grosse Missverständnis um die französische Autorin liegt im Glauben, dass es genügt, ein Leben und die damit verbundenen Ansichten aufzuschreiben. Was unterschlagen wird, ist Ernaux’ psychologisch-sprachlicher Vermittlungsakt zwischen den verschiedenen Schichten des Ichs.

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zwischen unterschiedlichen Selbstzuständen. Die notwendige Aneignung von Codes und Grammatiken in der eigenen Entwicklungsbibliografie hat die Sprache zu etwas Relativem werden lassen. Man merkt das in jeder Zeile, die Annie Ernaux schreibt. Ihre Bücher sind Distanzvermessungen dem eigenen Ich gegenüber. Und gerade weil dieses Ich nicht absolut gesetzt ist, bleibt es in der Diagnose des Gesellschaftlichen verlässlich.

Wie ein fiebriger Traum

Bei Herta Müller funktioniert das ähnlich. Es ist die Sprache, die jeden simplen Kurzschluss zwischen Ich und Welt unterläuft. Diese Sprache macht sich selbständig. Wenn sie will, triumphiert sie über die Fakten. Würde Herta Müller, die unter den wirklichkeitszersetzenden Aktivitäten der rumänischen Geheimdienste gelitten hat, mit der Idee leben, Sprache könne etwas Authentisches herstellen, hätte sie wohl nicht zu schreiben begonnen. Im Werk der deutschen Literaturnobelpreisträgerin geht es um Annäherungsversuche an die Wirklichkeit. Das kompakte Ich ist darin allenfalls ein fiebriger Traum.

In seinem erhellenden Buch «Populärer Realismus» beschreibt Moritz Bassler das neue Gehubere um Authentizität. Vorläufiger Höhepunkt waren vor zwei Jahren die Debatten um Amanda Gormans Gedicht «The Hill We Climb», das die schwarze amerikanische Autorin bei der Inauguration Joe Bidens vorgetragen hatte. Dessen Übersetzung in andere Sprachen wurde zu einem Hürdenlauf notwendiger Rücksichtnahmen.

Die Herkunft der Autorin aus der schwarzen Community, ihre Definition als Frau und feministische Aktivistin sollte in den anderssprachigen Fassungen des Gedichts ideal gespiegelt und die Gefahr von Cultural Appropriation gebannt sein. Ein dreiköpfiges Team übersetzte das Langgedicht ins Deutsche. Einer Verfälschung etwa durch den sprichwörtlichen alten weissen Mann war damit ein Riegel vorgeschoben.

Vielleicht handelt es sich bei Amanda Gorman um eine Sonderform der Autofiktion: Eine Autorin erfindet sich selbst und damit auch gleich alle Wahrheiten, die über sie verbreitet werden dürfen. Die Appropriation des Eigenen findet nicht erst im Buch statt, sondern avant la lettre. Die Selbstrelativierung als Geschäftsgrundlage des literarischen Ichs gibt es hier ebenso wenig wie die dazugehörigen Debatten.

In der Elbe schwimmen

Wodurch kann das Ich etwas über sich selbst erfahren? Indem es sich karussellhaft nur im eigenen Kulturkreis dreht oder sich auf Fremdes einlässt? Moritz Bassler zitiert Paul Valéry: «Nichts ist man mehr selbst, als sich von anderen zu nähren. – Allerdings muss man sie auch verdauen. Der Löwe besteht aus anverwandeltem Hammel.»

Sollen ostdeutsche Kindheiten nur von ehemaligen ostdeutschen Kindern beschrieben werden dürfen? Im Fall des Romans «Gittersee» der 1992 in der Nähe von Stuttgart geborenen Autorin Charlotte Gneuss trat mit dem Schriftstellerkollegen Ingo Schulze eine Art Authentizitätskommissar auf, der auf Fehler im Roman aufmerksam machte.

In der Elbe bei Dresden habe man zu DDR-Zeiten nicht schwimmen können. Wenn aber die Romanfigur doch zu DDR-Zeiten in der Elbe bei Dresden schwimmt? Romane sind Anverwandlungen der Wirklichkeit, Erinnerungen an Gewesenes und Erfindungen dessen, was gewesen sein könnte. Alles im Schatten möglicher Täuschungen und Selbsttäuschungen. Der autofiktionale Autor wird sich, wenn er nicht durch die Vorstellung verbiestert ist, im Besitz von Wahrheiten zu sein, diesem Spiel ausliefern.

Niemand ist eine Insel. Auch nicht die Autoren, die die Fahne ihres Ichs aufziehen. Ihr Werk ist Teil eines grösseren Ganzen, in dem Kafkas Ungeziefer neben Prousts monumentaler Selbstbespiegelung lebt, ein Flaubert neben einer Amanda Gorman und die Selbstgenügsamkeit bekannter Erfahrungshorizonte neben echter Literatur. Wie zur Warnung all derer, die glauben, es sei jetzt ganz einfach, in der Literatur über sich selbst zu schreiben, zitiert Herta Müller Jorge Semprún: «Die Wahrheit der geschriebenen Erinnerung muss erfunden werden.»

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