J. D. Vance verklärt Charlie Kirk zum neuen Christus, Kirks Witwe verzeiht seinem Mörder, und der Präsident will von Vergebung nichts wissen: Das Christentum ist in der amerikanischen Politik immer präsent.
Die ebenso pompös wie hochemotional inszenierte Gedenkveranstaltung für den ermordeten konservativen Aktivisten Charlie Kirk am vergangenen Wochenende hat aus europäischer Sicht viele Fragen aufgeworfen, die nicht selten mit verständnislosem Kopfschütteln, mehr noch aber mit gravierenden Missverständnissen verknüpft waren.
Am ehesten war noch einsichtig, warum Kirks Ehefrau, die von ihm geleitete Organisation Turning Point USA und Präsident Donald Trumps Maga-Bewegung sich auf ein solches Spektakel überhaupt einliessen. Kirk war ein wichtiger Akteur im republikanischen Lager, der sich insbesondere durch seine aggressive wie inhaltlich durchaus substanzielle Art, öffentliche Debatten zu führen, hervortat. Damit sprach er in erster Linie amerikanische Jugendliche an. Gerade diese hatten in den Wochen vor dem Attentat in Umfragen begonnen, dem Präsidenten in Scharen den Rücken zu kehren.
Die gegenwärtige Administration hatte also ein Interesse daran, diese Klientel an sich zu binden. Das rationale Kalkül aber verband sich nahtlos mit sehr spezifischen religiösen Formen und Inhalten, die für Europäer zwar kaum nachvollziehbar sind, für viele Amerikaner aber erst einmal nichts Befremdliches an sich haben.
Die Verbindung von christlich-protestantischer Religion und Politik ist in den USA nichts wirklich Neues. Sie ist, ganz im Gegenteil, historisch gewachsen und tief in den nationalen Identitätsnarrativen zumindest eines erheblichen Teils nicht nur der konservativen Amerikaner eingeschrieben. Dabei waren es weniger die Puritaner des 17. Jahrhunderts, sondern die apokalyptischen Erweckungsbewegungen seit dem 19. Jahrhundert, die aus einem religiös eher ungebundenen Land eine christliche Nation im Sinne einer protestantischen Nation formten.
Kurz vor der Apokalypse
Überwiegend calvinistischen Ursprungs, standen religiös Erweckte, seien es evangelikale oder später Pfingstchristen gewesen, im 19. Jahrhundert häufig noch für politische und gesellschaftliche Reformen, etwa die Abschaffung der Sklaverei, die Bewegung gegen den Alkoholmissbrauch, die Justiz- und Schulreform und sogar die erste Frauenbewegung, ein. Dabei wähnten sie sich – wie ihre heutigen Nachfolger – in der Endzeit kurz vor der Wiederkunft Christi und den Ereignissen der Apokalypse.
Gerade diese Naherwartung beförderte und befördert ihren politischen Aktivismus. Erst als sich im Ringen um den Darwinismus und die historisch-kritische Methode der Bibelexegese Liberalismus und Evangelikalismus voneinander trennten, rückten die weissen Mittelklasse-Evangelikalen seit den 1920er Jahren allmählich in das politisch konservative Lager ein.
Dieser Trend verschärfte sich einerseits durch die 1948 einsetzenden Urteile liberaler Supreme Courts, die für eine konfrontativere Trennung von Staat und Kirche plädierten und vom Konzept der christlichen, das heisst: protestantischen Nation abrückten, um eine auch religiös pluralistischere Form nationalen Identitätsdenkens zu eröffnen. Bis dahin aber hatten sich, gerade zwischen 1810 und 1850, protestantische Erweckungsreligiosität, nationaler Patriotismus, kapitalistisches Markt- und Leistungsdenken sowie Antikatholizismus und eine egalitäre Kritik an Hierarchien und Institutionen zu einem evangelikal-liberalen Amalgam verschmolzen, das heute als konservativ wahrgenommen wird.
Erst in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs seit etwa 1947, insbesondere im Kampf gegen den materialistischen und atheistischen Kommunismus sowjetischer Prägung, waren Schritt um Schritt Katholiken und Juden in dieses Amalgam integriert worden, das bis heute an exakt diesem Punkt immer wieder Risse aufweist. Katholiken und Juden fehlt, bei allem Nationalismus, die Selbstverständlichkeit eines patriotischen Zugehörigkeitsgefühls, das sich bis in die Tage der Gründerväter und der frühen Republik zurückverfolgen lässt.
Die Hände gegen den Himmel strecken
Überdies teilen gerade konservative Katholiken zwar die kompromisslose Haltung der Evangelikalen und der Mitglieder der Pfingstbewegung in der Abtreibungsfrage. Was die Todesstrafe, die wörtliche Auslegung der Bibel, die bischöfliche Hierarchie, Fragen der Soziallehre oder der theologischen Ökologie betrifft, sind sie oft anderer Ansicht als ihre Bündnispartner.
Gerade Charlie Kirk hatte im Gespräch mit katholischen Aktivisten wie Michael Knowles oder Trent Horn wiederholt den vorgeblichen Kommunisten auf dem Stuhl Petri, Papst Franziskus, die katholischen Bischöfe und die katholischen Dogmen heftig attackiert, obwohl seine Frau gläubige Katholikin ist. Man darf derartige Unterschiede bei allen Gemeinsamkeiten in der sogenannten religiösen Rechten nicht ausser acht lassen, will man nicht das Bild einer monolithischen, ideologisch gleichförmigen ultranationalistischen Rechten bedienen, das von liberalen Medien so gerne gezeichnet wird.
In der Stunde des Gedenkens spielten solche Differenzen naturgemäss keine herausragende Rolle. Dennoch fiel auf, wie sehr man sich zum einen pfingstchristlicher Gebetsformen bediente, etwa des Ausstreckens der Hände gen Himmel. Das war insofern kein Zufall, als Kirk sich in den vergangenen Jahren immer mehr der Pfingstbewegung zugewandt hatte, die eine betont emotionale, enthusiastische Glaubenspraxis pflegt. Zum anderen aber fiel die Kommerzialisierung der Veranstaltung ebenso auf wie ihre mediale Inszenierung.
Beides steht in der Tradition der Erweckungsbewegungen, die sich tatsächlich seit zwei Jahrhunderten sehr viel vorbehaltloser zum liberalen, nicht notwendig schriftgemässen Marktkapitalismus bekennen als der römische, traditionell marktskeptische Katholizismus mit seiner naturrechtlich begründeten päpstlichen Soziallehre. Vor allem aber sind amerikanische Denominationen, jenseits aller politischen Interessen, die an diesem Tag so überdeutlich in Erscheinung traten, von jeher darauf angewiesen, sich selbst zu finanzieren.
Trumps Glaube
Bereits im 19. Jahrhundert hatten die Erweckungsprediger sich modernster Medien und Missionsmethoden bedient, um ihr «Produkt» an den «Kunden» zu bringen. Man muss diese Markt- und Medienkonformität vielleicht nicht ganz so aufdringlich inszenieren, aber im Prinzip ist sie eine Folge der Organisationsweise einer pluralistischen Gesellschaft ohne etabliertes Staatskirchentum.
Insofern erledigt sich auch der immer wieder geäusserte Einwurf, diese intime Verbindung von Religion und Politik sei in Anbetracht des ersten Zusatzes zur amerikanischen Verfassung verfassungswidrig von selbst. Der Zusatz schliesst einzig eine Staatskirchenstruktur auf Bundesebene aus, nicht aber die Verquickung von Politik und Religion, welche gerade der erste Zusatz gleichfalls im Recht auf Meinungsfreiheit garantiert. Wer mit religiösen Argumenten glaubt, Mehrheiten gewinnen zu können, soll und darf dies tun.
Da stellt sich dann auch die Frage nach Trumps eigener Religion. Er ist keinesfalls ein christlicher Fundamentalist. In der Art und Weise, wie er – vollkommen anders als die Witwe Charlie Kirks – bewusst Hass und Rache an die Stelle von Gnade und Vergebung setzte, machte er deutlich, dass er das Christentum auf seine eigene Weise versteht. Nach allem, was wir wissen, ist er ein Anhänger des «Gospel of Prosperity», einer Religionsform, die sich aus der Pfingstbewegung heraus entwickelt hat und die inzwischen von orthodoxen Pfingstchristen nicht mehr als christlich identifiziert wird.
Anhänger der Wohlstandspredigt beziehen sich ausschliesslich auf die reichen Segensverheissungen des Alten Testaments. Darüber hinaus predigen sie die Notwendigkeit positiven Denkens und der Vermögensinvestition in ein «Konto bei Gott», das meist mit dem Konto des Predigers identisch ist.
In Gott investieren
Wer in Gott investiert und korrekt die Wirklichkeit so denkt, wie sie sein soll, hat beste Chancen, reich, gesund, begehrt und erfolgreich zu sein. Gnade, Leiden, Mitleiden, das Kreuz Christi, all das ist für diese Religionsform im Grunde Schnee von gestern, auch wenn man gelegentlich darauf Bezug nimmt. Der «Gospel of Prosperity» ist radikal modern, kapitalistisch und individualistisch. Er ist bestens mit elitären eugenischen und transhumanistischen Idealen, die im Umfeld Trumps und seiner Anhänger aus dem Silicon Valley massiv präsent sind, kompatibel.
Im Gedenken an Charlie Kirk indes trat diese Neureligion erkennbar in den Hintergrund, schon um Trumps eher einer traditionellen amerikanisch-protestantischen Religiosität verpflichteten Stammwähler nicht zu irritieren. Insofern bediente die Trauerfeier eine religiöse Klaviatur, die vielen Amerikanern bestens vertraut ist. Sie diente dazu, das Band zwischen der Trump-Administration und einem wichtigen Teil ihrer Wählerschaft zu festigen. Aber über Trumps Verhältnis zur Religion sagte sie im Grunde nichts aus.
Michael Hochgeschwender ist Professor für nordamerikanische Kulturgeschichte, empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

