Der japanische Regiemeister Hirokazu Kore-eda erzählt vom Geheimnis einer ungeheuren Kinderfreundschaft. Der Plot ist raffiniert gestrickt und entwickelt einen wachsenden Sog, bis er an Herz und Nieren geht.
Zurzeit erobert das grösste Ungeheuer der japanischen Filmgeschichte in einer Fortsetzung die Leinwände zurück: Godzilla. Das wirkliche Monströse aber nistet in unseren Köpfen. Das weiss der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda, dessen nun in die Kinos kommendes Sozialdrama den Titel «Monster» trägt und dafür vieldeutige Interpretationen zulässt.
Sein liebstes Sujet ist die Familie, gross war sie in seinem Erfolgsfilm «Shoplifters» (2018), nun wählt er die kleinstmögliche Zelle: Die alleinerziehende Mutter (Sakura Andō) findet sich in dem elterlichen Horrorszenario wieder, dass ihr das eigene Kind schleichend zu entgleiten droht. Still, ängstlich und verträumt ist Minato (Soya Kurokawa) schon länger, der früh seinen Vater verloren hat. Doch nun wird der Fünftklässler seiner liebenden Mutter fremd, immer rätselhafter werden die Signale im Alltag, die über Vorboten der Pubertät hinauszuführen scheinen.
Ein implantiertes Schweinehirn
Was quält den Buben, wenn er sagt, etwas stimme nicht mit ihm? Was treibt ihn dazu, unvermittelt zu fragen, ob jemand mit implantiertem Schweinehirn ein Mensch sei oder ein Tier? Sein Lehrer habe ihm diesen abstrusen Gedanken eingepflanzt, sagt er, um etwas später damit herauszurücken, dass er ihn peinige. Das muss der Ursprung seiner Nöte sein. Die Mutter geht der Sache auf den Grund, stösst bei ihrem Schulbesuch aber auf eine Ansammlung leerer Gesichter in einem Lehrkörper, der sich hinter Höflichkeitsfloskeln versteckt.
Es gibt ganz andere Versionen dieser Geschichte, sie wird uns mit wachsender Sogwirkung nacheinander aus drei Perspektiven erzählt: jener der Mutter, jener des Lehrers und schliesslich jener des Kinds. Man fühlt sich an die Erzählstruktur in «Rashomon» (1950) erinnert, dem stilbildenden Werk von Akira Kurosawa, wobei «Monster» die Grenzen der verschiedenen Blickwinkel offener gestaltet. Die Zeitschleifen drehen sich um einen Fixpunkt, der auch als Einstiegsbild dient: Sirenen erklingen vor einem Flammeninferno. Ein Hochhaus brennt lichterloh. Nicht Godzilla hat hier gewütet, es wird Brandstiftung vermutet.
Das Puzzle scheint sich zum Ganzen zu fügen, dann bricht es wieder auseinander. Die Fakten werden neu geordnet und scheinbar nebensächliche Details und beiläufig gelieferte Zeichen nachträglich mit Sinn aufgeladen. So revidiert auch das Publikum laufend die Thesen und die Richtung seines Mitgefühls, während die Kamera geduldig und regungslos die Wendungen einfängt. Sie braucht keine wilden Fahrten, um Spannung zu erzeugen, auch keinen dramatischen Soundtrack. Diesen prägen die ruhigen Klavierklänge des unlängst verstorbenen Komponisten Ryūichi Sakamoto.
Das raffiniert gestrickte, in Cannes mit dem Drehbuchpreis prämierte Skript stammt von Yūji Sakamoto, ausnahmsweise hat Kore-eda also keinen eigenen Stoff umgesetzt. Und dieser Humanist unter Japans zeitgenössischen Meistern dosiert sein Vertrauen in die Kraft der Menschlichkeit diesmal für seine Verhältnisse geradezu homöopathisch.
In der Parabel um Sein und Schein, Wahrheit und Lüge tragen alle ein Geheimnis: die Schuldirektorin, der Lehrer, der Bub. Die Erwachsenen wirken seltsam verloren, sind Rädchen in einem System, ohne mit den anderen Rädchen wirklich in Berührung zu kommen. Doch mitten in dieser Beziehungsarmut wächst behutsam wie eine Blume aus Ruinen eine Kinderfreundschaft, tief und zerbrechlich zugleich. Sie geht, auch dank den famosen kleinen Schauspielern, ans Herz und an die Nieren.
So manches erinnert dabei an das Coming-of-Age-Drama «Close», mit dem der Belgier Lukas Dhont vor einem Jahr das europäische Kinopublikum bewegt und begeistert hat. Auch Kore-eda schaut kritisch auf den normierenden Charakter einer Gesellschaft und auf Geschlechterbilder, denen Heranwachsende in ihrer Identitätsfindung ausgesetzt sind. Dass das Werk am Filmfestival in Cannes mit der Queer Palm prämiert worden ist, scheint dem Regisseur selbst allerdings nicht ganz geheuer zu sein: In Interviews betont er, es sei ihm weniger um sexuelle Identität in einer frühen Entwicklungsstufe gegangen als um die universellen Aspekte einer nicht näher definierten Freundschaft.
Dieses Band wird behutsam geknüpft zwischen Minato und dem mutterlos aufwachsenden Aussenseiter Yori (Hinata Hiiragi), der ganz wunderlich in sich ruht und von den anderen Kindern gemobbt wird. Nicht nur deshalb bevorzugt es Minato, die Freundschaft geheim zu halten. Und diese kennt wie viele im Kindesalter ein gemeinsames Versteck: Ein ausrangierter Eisenbahnwaggon voller Rost mitten im Wald dient als Refugium vor den Stürmen des Lebens und einem echten Orkan. Hier vertreiben sich die beiden die Zeit mit Gesprächen und Spielen, bei einem gilt es ein Tier zu erraten, das der andere beschreibt. Es ist in Japan unter dem Namen «Wer ist das Monster?» bekannt.