Erst galt er als Alibi-Kandidat, dann wurde er Aussenseiter und schliesslich wollten einige in ihm den Staatsmann sehen, den das Land in diesen Zeiten braucht. Über die Verwandlung des Martin Pfister, die eigentlich gar keine war.
«Schnell frisst langsam.» Nach dieser Devise politisiert Markus Ritter schon seit Jahren im Nationalrat, und mit eben diesem Leitspruch wollte er sich nun ins Bundesratszimmer hineinreden. Doch in den vergangenen Tagen hat Martin Pfister, der neu gewählte Bundesrat, dieses rittersche Theorem eindrücklich unaufgeregt widerlegt.
Erst wartete Pfister bis zum letzten Moment, um seine Kandidatur bekanntzugeben. Deshalb galt er als Alibi-Kandidat. Dann zog er sich ins Private zurück und analysierte in aller Ruhe die Ausgangslage im Wahlkampf. Nach einigen Tagen trat er wieder in die Öffentlichkeit, bezog aber nur zögerlich Stellung. Mehrfach beantwortete er Fragen mit: «Da ziehe ich den Joker.» Es schien, als begnüge sich Pfister mit der Rolle des Aussenseiters.
Pfister wartete ab und schaute zu, wie sein Konkurrent mit jeder forschen Formulierung seine potenziellen Wählerinnen und Wähler verschreckte. Danach musste Martin Pfister einfach sich selbst treu bleiben, seine liberale Haltung in gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Fragen betonen und hin und wieder sagen: «Ich bin eine valable Alternative zu Markus Ritter.»
Und tatsächlich war in Bern in letzter Zeit immer öfter zu hören: Im Vergleich mit Ritter wirkt Pfister bescheidener, besonnener und manche sagen auch staatsmännischer. Der Komparativ schärfte das Profil von Martin Pfister.
Innerhalb von vier Wochen wandelte sich der 61-jährige Pfister in der öffentlichen Wahrnehmung vom Alibi-Kandidaten zum möglichen Staatsmann.
Bei Nachtübungen führte Pfister das ganze Fähnli
Der Blick auf seine Biografie zeigt jedoch: Eigentlich war vieles an dieser Entwicklung bereits in seiner Jugend angelegt.
Als Jugendlicher engagierte sich Pfister bei der Pfadi in Baar. Schon damals soll er strategisch gedacht haben, was sich bei Nachtübungen auszahlte, wenn er sein Fähnlein innert kurzer Zeit zurück ins Lager führte. Dort sang er am Lagerfeuer Songs von den Beatles, träumte von einer gerechten Welt und versuchte einem Freund das Rauchen auszureden. Pfister, Pfadiname Hecht, sei eben schon damals sehr gewissenhaft gewesen, sagt ein Gspänli von damals.
Ähnliches ist von Pfisters Zeit in der Offiziersschule in Wangen an der Aare zu hören. Auf dem Kasernenhof praktizierten die Ausbilder damals Drill nach preussischer Manier. Einige Aspiranten, so erzählt ein Kamerad von damals, hätten unter diesem psychischen und physischen Druck gelitten, doch Pfister hielt stand und habe auch einmal zwei Rucksäcke getragen. Überhaupt sei er dort als extrem korrekt aufgefallen und habe sich oft freiwillig gemeldet, wenn andere Aspiranten auf den Boden schauten, um sich vor einer unliebsamen Aufgabe zu drücken. Pfister ging zwar in den Ausgang, trank aber nie einen über den Durst. Am Kompanieabend blühte er weniger auf als Jahre später bei der Organisation eines Ehemaligentreffens in einem gediegenen Freiburger Restaurant.
Neben seiner militärischen Ausbildung arbeitete Pfister in jungen Jahren als Assistent am Lehrstuhl von Professor Urs Altermatt an der Universität Freiburg. Dort beschäftigte er sich intensiv mit der Geschichte der Schweizer Bundesräte. Pfister entschied sich trotz Empfehlung seines Professors gegen eine akademische Karriere. Geblieben ist ihm von dieser Zeit die generalistische Denkweise des Historikers und eine Vorliebe für die Sprache akademischer Aufsätze. In Interviews leitet er einen Satz auch einmal mit «desgleichen» ein.
Kompromiss statt Vision
Was Pfister als Pfadi, Offizier und Historiker gelernt hat, ist als Politiker typisch für ihn geblieben. 2006 wurde er Kantonsrat, später Fraktions- und Parteipräsident der CVP Zug. Seit 2015 war er Gesundheitsdirektor. Wer ihn aus der Politik in Zug kennt, schätzt seine menschlichen Qualitäten. Kollegen im Regierungsrat beschreiben ihn als «sehr kollegial», politische Gegner loben seine Bereitschaft, zu diskutieren.
Doch immer wieder heisst es in Zug auch: Pfister sei ein Mann für den Kompromiss, nicht für die Vision, ihm fehle die Entscheidungsfreudigkeit. So gesehen verkörpere Martin Pfister die Mitte wie kaum ein anderer.
Diese Charakterisierung entspricht auch dem Idealbild eines Durchschnittsschweizers. Macht ihn das nun zu einem Durchschnittsbundesrat?
In den vergangenen Wochen hat Pfister erst an öffentlichen Terminen und dann in etlichen Gesprächen mit Parlamentariern immer wieder die grossen geopolitischen Fragen zum Thema der Bundesratswahl gemacht. Er sprach vom Krieg in der Ukraine, von der Unberechenbarkeit der amerikanischen Aussenpolitik. Er tat es ruhig und besonnen. So wie ein Historiker, der weit zurückliegende Ereignisse der Weltgeschichte analysiert.
So auch an der Delegiertenversammlung der Mitte-Partei vor wenigen Wochen in Visp. Während Markus Ritter sich den Delegierten als Problemlöser fast schon aufdrängte, sprach Pfister langsam, als wolle er mit seiner Sprache die Aufregung beruhigen, die das Weltgeschehen gegenwärtig bestimmt. Pfisters Auftritt kam an. In Visp und möglicherweise auch im Parlament sahen ihn viele als Anti-Trump.
Doch als Bundesrat wird sich Pfister nun erst einmal auf wichtige Dossiers konzentrieren müssen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im Verteidigungsdepartement (VBS), wo zahlreiche Herausforderungen warten. Die Armee kämpft mit Beschaffungsproblemen, die sich schon fast ein Jahrzehnt hinziehen. In der Ruag kam es zu einer Korruptionsaffäre, und innerhalb kurzer Zeit quittierten wichtige Personen im Departement den Dienst. Pfister muss Chefs für die Luftwaffe, die Armee und den Nachrichtendienst finden.
Markus Ritter machte schon bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur grosse Ankündigungen und sagte, dass er noch jedes Haus sauber verlassen habe. Pfister kontrastierte ihn abermals mit Zurückhaltung. Allerdings heisst es auch von ihm, dass er bei der Pfadi stets das sauberste Küchenzelt unter seiner Aufsicht hatte.
Im Wahlkampf sagte Pfister über die Probleme im VBS, es bestehe Handlungsbedarf und im Falle seiner Wahl werde er erst eine vertiefte Analyse vornehmen und dann rasch die richtigen Entscheidungen treffen.
Allzu lang sollte er sich damit nicht Zeit lassen. Das Parlament wird die Entwicklungen im VBS genau beobachten und seinen neuen Vorsteher bald an konkreten Ergebnissen und nicht mehr an seinem zurückhaltenden Auftritt messen. Wie schnell die Stimmung kippen kann, weiss kaum jemand so gut wie der vormalige Alibi-Kandidat Martin Pfister.