Ist die Invasion der Ukraine Russlands oder Putins Krieg? Im Hinblick auf dessen Zustimmungswerte scheint das Erstere der Fall. Der Publizist Andrei Kolesnikow erhebt Einspruch: Die Russen hätten sich lange gegen sein Regime gewehrt und seien überwältigt worden.
Es gibt eine historische Anekdote über den Hofdichter Sergei Michalkow, der die Texte zu drei Landeshymnen schrieb (derweil die Melodie immer dieselbe blieb): jene von Stalin, jene nach Stalin und jene von Putin. Jemand soll Michalkow gesagt haben, dass die Hymne am Ende ziemlich schwach geworden sei. Darauf antwortete der Dichter, der ein langes Leben hinter sich hatte, ein Klassiker der Kinderlyrik und zudem ein hochrangiger sowjetischer Literaturfunktionär war: «Die Leute müssen trotzdem aufstehen dafür.»
Die Hymne ist Teil der Identität, mit der die Russen, eine imperiale Nation in einem implodierten Reich, in den neunziger Jahren ernsthafte Probleme hatten. Putin spürte dies intuitiv, als er 2000 sein Amt antrat, und sein erster Schritt zurück zum Ursprung war die Rückkehr zur alten Sowjethymne mit leicht aktualisiertem Text – ohne Kommunismus und «Lenins Partei» – im Dezember. Als zig Millionen Russen die vertraute Musik hörten, die ihnen seit Jahrzehnten um 6 Uhr morgens vorgespielt worden war, wussten sie, in welche Richtung der neue politische Wind wehte.
Von sich selbst befreit?
Die diffuse Identität der postimperialen Nation ist eines der Probleme, die während Putins Herrschaft zur autoritären Ausrichtung des politischen Systems geführt haben. Und in gewisser Weise sogar zur «Sonderoperation» gegen die Ukraine selbst. Jahrelang begriffen die Russen nicht wirklich, was am 12. Juni, dem Tag Russlands, gefeiert werden soll. Immerhin erfuhren sie, dass an diesem Tag im Jahr 1990 die Souveränitätserklärung der damals noch «sozialistischen» Russischen Republik verabschiedet wurde.
Von Anfang an hatte das etwas Befremdliches. Es war klar, wovon sich die baltischen Staaten, die Republiken des Kaukasus und Zentralasiens 1991 getrennt hatten. Aber von wem machte Russland sich unabhängig – von sich selbst? Für Menschen mit demokratischen Ansichten war diese Logik grundsätzlich kein Problem – Russland wurde nichtsowjetisch, nichtimperialistisch, befreite sich vom Kommunismus und schloss sich der Familie der zivilisierten Nationen an. Für die Mehrheit der Bürger indes, die im imperialen Bewusstsein verharrten, blieben Fragen offen. Dazu gehörten auch Millionen von ethnischen Russen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion ausserhalb der Grenzen des neuen Russlands wiederfanden.
Kurz gesagt, nur ein Teil der Bevölkerung des Landes vermochte «Unabhängigkeit» mit Befreiung zu verbinden. Die Geschichten unterscheiden sich zwar voneinander, aber es dauerte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vierzig Jahre, bis Richard von Weizsäcker den Tag der deutschen Niederlage 1945 zum Tag der deutschen Befreiung erklären konnte.
Viele Russen empfanden den Zusammenbruch der UdSSR als Verlust ihrer Heimat. In den mehr als siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft hatte sich trotz allen Widrigkeiten eine gemeinsame Identität entwickelt: Das in der Verfassung der UdSSR 1977 verankerte ideologische Konstrukt «eine neue historische Gemeinschaft, das sowjetische Volk» war nicht bloss eine Erfindung der Propaganda. Alle Russen, ob Anhänger oder Gegner der Sowjetmacht oder einfach gleichgültige Bürger, betrachteten sich als sowjetisches Volk. «Homo sovieticus» ist eine despektierliche Bezeichnung dafür, aber sie entsprach einigermassen dieser sehr offiziellen «historischen Gemeinschaft».
Die Idee, die Sowjetunion neu zu errichten, mit Russland und dem russischen Volk im Zentrum eines imaginären wiederbelebten Imperiums, wurde unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu einem politischen Instrument. Sie bildete die Grundlage für die Politik der einflussreichen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, die viele Jahre lang liberale Wirtschaftsreformen und demokratische Initiativen im Parlament blockierte. Auch Putins Politik basierte von Anfang an auf dieser Idee. Den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnete er als «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts». Dies, obwohl das 20. Jahrhundert sehr lang war und fast alle übrigen Imperien lange vor dem Ende der UdSSR kollabierten – von der Habsburgermonarchie über das Osmanische Reich bis zum British Empire.
Dennoch war Ressentiment nicht die vorherrschende Stimmung in der russischen Bevölkerung. Die Menschen waren mit ihren persönlichen Problemen, dem Überleben und der Anpassung an die Marktwirtschaft beschäftigt. Sie waren davon nicht begeistert, gewöhnten sich aber allmählich an die veränderten Umstände. In den neunziger Jahren wurde eine Gruppe von Intellektuellen sogar von der Regierung Boris Jelzins gebeten, eine «nationale Idee» für Russland zu entwickeln, die jedoch weder nationalistisch noch imperialistisch sein sollte. Den Denkern fiel nichts ein. Und damals, während des Übergangs zur Marktwirtschaft und zur Demokratie, als sich die Menschen in die neue Lebenswelt gefunden hatten, gab es eigentlich keinen Bedarf für eine «nationale Idee».
Auch zu Putins Zeiten nicht – der Ölboom machte aus der russischen Nation eine bürgerliche und konsumorientierte Gesellschaft, zur Freude der Herrschenden sah die Mehrheit aber keinen Zusammenhang zwischen Demokratie und wirtschaftlichem Erfolg. Wozu Demokratie, wenn wir wie im Westen alles haben? Und der Umstand, dass die Eliten korrupt sind oder Wahlen zu einer Farce werden, ist nicht unser Problem. Der Rückgang des staatsbürgerlichen Bewusstseins in Verbindung mit der vorherrschenden Konsummentalität ermöglichte es Putin, eine künstliche Nachfrage nach der Rückkehr der imperialen Grösse und des russischen Messianismus zu erzeugen. Zuerst kam das Angebot, dann folgte die Nachfrage.
Negative Identität
Putin bot der Mehrheit der Nation eine negative Identität an: Wir Russen sind nicht wie sie, wir sind spiritueller und verfügen über eine tausendjährige Geschichte, wir gehen unseren eigenen Weg. Und dann kam der üble Teil – sie, der Westen, wollten uns schon immer spalten, und jetzt haben sie uns angegriffen, und wir führen einen Verteidigungskrieg.
Die Leute, die – von Waren bis hin zu Technologie – alles vom Westen erhalten hatten, waren zunächst überrascht, aber innerlich waren sie auf diese massive ideologische Indoktrination vorbereitet: Sie hatte schon seit Jahren stattgefunden. Entsprechende Ressentiments wurden mindestens seit 2007 geschürt – etwa durch Putins Münchner Rede, in der er dem Westen in scharfem Ton vorwarf, sich um die Interessen Russlands zu foutieren. Die Annexion der Krim 2014 war ein starker Anreiz, dieses Ressentiment in echte Kraft zu verwandeln. Putin begann, eine Nation zu kultivieren, die bereit war, für Russland nicht zu leben, sondern für Russland zu sterben. Oder besser: für ihn. Derweil bemerkte die Nation als ganze nicht, wie Putin sich selbst und sein politisches Regime mit Russland gleichsetzte.
Obwohl es einen Moment gab, da alles anders hätte verlaufen können. Zwei Jahre vor der Krim-Kampagne zeigte sich, dass es eine wahrhaft patriotische liberale Klasse gab. Als Dmitri Medwedew, der als Hoffnungsträger für eine Entwicklung des Landes zur Normalität galt, 2011 ankündigte, dass er die Präsidentschaft an Putin, den Premierminister (und Ex-Präsidenten), abgeben würde, fühlte sich die neue Mittelschicht betrogen und erhob Protest. Träger waren die wahren Patrioten des Landes, Leute, welche die Zukunft Russlands modern, friedlich und demokratisch sehen wollten.
Zum Trigger wurden die gefälschten Parlamentswahlen vom Dezember 2011 – die Menschen gingen in Massen auf die Strasse. Die Proteste im Dezember 2011 und Anfang 2012 waren so gross, dass der Eindruck aufkam, Putins Macht gerate ins Wanken. Doch Putin hielt dem Druck stand – im Wissen, dass verantwortungsbewusste Bürger sich die Macht nicht mit Gewalt aneignen würden. Putin gab seinem Wahlprogramm einen gemässigt liberalen Anstrich. Doch nachdem er im Mai 2012 Präsident geworden war, verzieh er den progressiveren Teilen der russischen Gesellschaft ihren Wunsch nach Demokratie und Machtwechsel nicht länger. Sogleich verschärfte er die Repression. Die patriotischen demokratischen Russen hatten sich um ihren Anführer, Alexei Nawalny, geschart. Nun wurde er zu Putins Hauptfeind.
Die Proteste versandeten, die Krim wurde annektiert, eine auf Rache und Ressentiments basierende «patriotische» Konsolidierung begann. 2020 änderte Putin die Verfassung und sicherte sich dadurch fast unbegrenzte Macht. Nawalny wurde vergiftet, und es begann die endgültige Zerstörung der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die für Russlands Wohlergehen als Land und für die Interessen des Regimes standen. Die Tore für eine «Sonderoperation» und für den Übergang vom Autoritarismus zum Neototalitarismus öffneten sich. Es ist klar, dass Putin nun, dreieinhalb Jahre nach dem Einmarsch in die Ukraine, auf der absoluten Konsolidierung der Nation und ihrer Gleichsetzung mit Russland besteht. Dem zuzustimmen bedeutet, Putin zu legitimieren.
Grundsätzlich antidespotisch
Natürlich sind Russland und Putins Russland zwei verschiedene Dinge. Putin hat alle Errungenschaften der russischen Kultur eingesackt, obwohl diese grundsätzlich antidespotisch eingestellt war. In Russland herrscht unausgesprochen Bürgerkrieg – der Kreml zerstört systematisch die Überreste der Zivilgesellschaft und bringt diejenigen zum Schweigen, die unzufrieden sind. Die Welle der russischen Auswanderung ist ein klares Zeichen dafür, dass Russland erneut von einem stahlharten politischen Regime versklavt wird. Millionen von Russen, die das Regime verabscheuen und in Russland bleiben, sind gezwungen, zu schweigen, um ihre Arbeitsplätze und ihre Familien nicht zu gefährden.
Dieses Thema ist Gegenstand heftiger Debatten unter demokratisch gesinnten Russen. Genauso wird über kollektive Schuld und kollektive Verantwortung beziehungsweise deren Fehlen gestritten. Im Hintergrund stehen die Erfahrungen der stalinistischen oder poststalinistischen Zeit, aber diskutiert wird das Problem am Verhalten der Deutschen während der Nazizeit. Tragen die Russen Schuld, oder ist es Putin? Viele, die gegen das Regime gekämpft haben, schmachten in den Gefängnissen oder leiden im Exil. Sie sind als Russen ebenfalls Opfer des Regimes. Es herrscht über sie eine Macht, die ihnen fremd ist.
Nur schon die Tatsache, dass im Privaten solche Debatten stattfinden und viele Russen von Scham geplagt sind, zeigt, dass man zwischen dem russischen Volk und der russischen Führung unterscheiden muss. Putin ist nicht Russland und Russland nicht Putin.
Andrei Kolesnikow ist Journalist und Buchautor. Er lebt in Moskau, ist Kolumnist von «The New Times» und schreibt für die Online-Zeitung «Nowaja Gaseta». – Aus dem Englischen von A. Bn.