Mittwoch, Oktober 2

Auch ein Jahr nach Israels schwärzestem Tag bleibt die Frage nach der Verantwortung im Dunkeln. Die Regierung sperrt sich gegen eine Untersuchung – dabei könnte eine solche womöglich einen internationalen Haftbefehl gegen Netanyahu verhindern.

Hila Abir will Antworten. Sie will wissen, wieso ihr Bruder Lotan sterben musste, wieso der israelische Staat ihn nicht schützen konnte, als Hamas-Terroristen am 7. Oktober das Nova-Festival überfielen und wahllos mordeten. «Wir wissen nichts, und so erleben wir den 7. Oktober jeden Tag aufs Neue. Wenn es keine Antworten gibt, gibt es keine Heilung», sagte Abir an einer Pressekonferenz Mitte Juli.

An jenem Tag verkündete sie gemeinsam mit anderen Angehörigen die Bildung einer unabhängigen, zivilen Untersuchungskommission. Ziel sei es, «die Wahrheit zu finden und das nächste Desaster zu verhindern». Zu der Gruppe gehören auch zwei pensionierte Generäle, ein ehemaliger Polizeipräsident sowie der Verfasser des Ethikkodexes der israelischen Armee. Die Kommission versprach vor den Medien, durch ihre Nachforschungen so lange Druck auf die Regierung auszuüben, bis eine staatliche Untersuchungskommission geschaffen werde.

Zwei Monate später sind sie ihrem Ziel nicht näher gekommen – und dies, obwohl die Rufe nach einer offiziellen Aufarbeitung des Hamas-Massakers immer lauter werden. Selbst der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant fordert eine staatliche Untersuchung. Doch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu will davon nichts wissen.

Armee gesteht ihr Scheitern ein

Der 7. Oktober 2023 war der schwärzeste Tag in Israels Geschichte – 1200 Menschen wurden von den Islamisten ermordet, 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Umgehend stellte sich allerdings die Frage, wie es zu diesem offensichtlichen Sicherheitsversagen kommen konnte. Warum hatten Israels berühmte Geheimdienste nichts gemerkt, wieso konnte die hochgerüstete Armee den Überfall nicht verhindern? Und: Hatte auch die Politik die von der Hamas ausgehende Gefahr unterschätzt?

Heute ist bekannt, dass es Warnungen gegeben hatte. Überwachungssoldatinnen hatten in den Tagen vor dem 7. Oktober ungewöhnliche Aktivitäten im Gazastreifen gemeldet. Zudem waren bereits Monate vor dem Angriff Übungen der Hamas beobachtet worden, in denen die Islamisten Überfälle auf israelische Dörfer simulierten. Doch offenbar wurden sämtliche Warnungen ignoriert oder nicht ernst genommen.

Es gibt durchaus jene, die ihre Verantwortung für das Scheitern öffentlich eingestanden haben. In den vergangenen Monaten haben drei Generäle der israelischen Streitkräfte (IDF) den Hut genommen, unter ihnen der Chef des Militärgeheimdienstes. Zuletzt kündigte am 12. September Brigadegeneral Yossi Sariel, der Kommandant der legendären Elite-Aufklärungseinheit 8200, seinen Rücktritt an. Er habe seine Aufgabe nicht erfüllt und wolle nun seiner persönlichen Verantwortung nachkommen.

Die IDF haben zudem eine eigene, interne Untersuchung der Geschehnisse eingeleitet, die sich auf die mehr als 40 Schauplätze der Kämpfe am 7. Oktober fokussiert. Im Juli präsentierte die Armee ihre Untersuchung zu den Ereignissen im besonders stark betroffenen Kibbuz Beeri, die sie Minute für Minute rekonstruiert hatte. Die Armee gestand ein, dass sie darin gescheitert sei, die Bewohner von Beeri zu schützen – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nie auf ein solches Szenario vorbereitet habe. Die israelischen Streitkräfte untersuchen allerdings nur ihre eigene Rolle – nicht aber jene der Geheimdienste oder der Regierung.

Der Staatsprüfer will ermitteln

Einer, der die Hintergründe des Versagens auf allen Ebenen aufarbeiten will, ist Matanyahu Englman. In seiner Rolle als sogenannter Staatsprüfer obliegt es ihm, die Wirtschaftlichkeit, die Rechtmässigkeit und das ethische Verhalten des öffentlichen Sektors zu kontrollieren. Schon im Dezember 2023 hatte er angekündigt, sein Büro werde alle Aspekte des «Multi-System-Versagens» am 7. Oktober untersuchen und all jene mit «persönlicher Verantwortung» ausfindig machen.

Allerdings entbrannte umgehend eine Kontroverse um Englmans Vorhaben. Kritiker monierten, eine solche Untersuchung falle gar nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, seine Ermittlungen könnten die Handlungsfähigkeit der Armee einschränken. Der Staatsprüfer gilt vielen zudem als Bürokrat von Netanyahus Gnaden, weshalb die Befürchtung aufkam, dass er die Verantwortlichen in der Regierung verschonen könnte.

So kamen auch Englmans Ermittlungen nicht weit – im Juni wurde er vom Obersten Gericht angewiesen, jegliche Untersuchung im Zusammenhang mit der Armee und dem Inlandsgeheimdienst Shin Bet vorübergehend einzustellen. Zuerst müsse er mit den Sicherheitsdiensten übereinkommen, welche Aspekte untersucht werden könnten, ohne dass dabei ein Sicherheitsrisiko für Israel entstünde, sagten die Richter.

Die Initiative des Staatsprüfers Englman scheint weitgehend ausgebremst. An einer Konferenz im September beklagte er sich öffentlich über die mangelhafte Kooperationsbereitschaft der Armee, die «hohe und unüberwindbare Mauern» errichtet habe, um sein Vorhaben zu behindern. Doch auch das Büro von Ministerpräsident Netanyahu lege ihm nach wie vor Hindernisse in den Weg. Englmans Auftritt bewirkte wenig – vielmehr liess er die Kritik an seinem Vorhaben wieder hochkochen. So warf etwa der Oppositionsführer Yair Lapid dem Staatsprüfer vor, er wolle lediglich dem Regierungschef Netanyahu dabei helfen, eine staatliche Untersuchungskommission zu verhindern.

Netanyahu gerät unter Druck

Tatsächlich sperrt sich der israelische Ministerpräsident gegen die Schaffung einer solchen Kommission, die weitreichende Kompetenzen hätte. An einer Pressekonferenz am 2. September sagte Netanyahu: «Es gibt keinen dringenden Bedarf, dies jetzt zu tun. Es gibt einen dringenden Bedarf, dies jetzt nicht zu tun. Am Ende des Krieges werden wir entscheiden, wie und wann wir es tun.» Es könne nicht sein, dass Soldaten und Offiziere Anwälte suchen müssten, während der Krieg noch andauere. Netanyahus Gegner hingegen sind überzeugt, dass es ihm vor allem darum geht, sich selber zu schützen.

Nun jedoch scheint der Druck auf den Ministerpräsidenten zu steigen. Laut einem Bericht des israelischen Fernsehsenders Channel 12 hat auch die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara den Regierungschef kürzlich dazu gedrängt, eine staatliche Untersuchungskommission einzusetzen, die sowohl die Versäumnisse des 7. Oktobers wie auch den Krieg im Gazastreifen aufarbeiten solle. Nur so liesse sich verhindern, dass der Internationale Strafgerichtshof (ICC) Haftbefehle gegen Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant ausspreche.

Baharav-Miara verwies auf das Prinzip der Komplementarität, das besagt, dass das Gericht in Den Haag nur dann tätig werden kann, wenn das nationale Rechtssystem seinen Pflichten nicht nachkommt. Die Zeit könnte allerdings knapp werden. Laut Berichten gehen Beamte im israelischen Justizministerium davon aus, dass der ICC noch im September Haftbefehle erlassen könnte. Karim Khan, der Chefankläger des Haager Gerichts, hatte diese im Mai in einem höchst umstrittenen Schritt beantragt. Er wirft Netanyahu und Gallant sowie mehreren Hamas-Führern Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Glaubt man einem weiteren Bericht von Channel 12, macht sich in der Regierung Nervosität breit. So soll Netanyahu die Generalstaatsanwältin gebeten haben, eine strafrechtliche Untersuchung gegen ihn und Gallant einzuleiten und dann wieder zu schliessen, um die Haftbefehle zu verhindern. Baharav-Miara habe von dem «offensichtlichen Trick» aber nichts wissen wollen und betont, dass nur eine staatliche Untersuchungskommission den ICC befriedigen würde, heisst es in dem Bericht. Seine Quellen legte der Fernsehsender nicht offen.

Für Hila Abir, die ihren Bruder verloren hat, dürfte all das keine Rolle spielen. Sie sucht weiterhin auf eigene Faust nach Antworten.

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