Donnerstag, Juli 4

Der Abstimmungskampf um die Reform der Pensionskassen wird richtig schwierig. In vielen Fragen steht es Aussage gegen Aussage. Eine Episode aus dem Lager der Gegner lässt tief blicken.

Ein bisschen Lügen ist erlaubt. Die direkte Demokratie lebt davon, dass Befürworter und Gegner einer Vorlage frei reden und streiten können. Selbst im offiziellen Abstimmungsbüchlein dürfen Komitees Falschaussagen platzieren. Eine Behauptung muss schon «krass wahrheitswidrig» sein, damit der Bund sie zurückweisen kann. So will es das Gesetz. Erst recht frei sind Parteien, Verbände und weitere Akteure auf ihren eigenen Kanälen, dort können sie zuspitzen, verdrehen, irreführen – und ja: auch lügen. Das ist nicht neu.

Doch der Abstimmungskampf, der jetzt auf die Schweiz zukommt, könnte das übliche Mass übersteigen. Am 22. September entscheidet das Volk über die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG). Die Konstellation ist heikel: Es geht um viel Geld. Die Materie ist extrem komplex. Und es gibt keine umfassenden Statistiken, die zeigen, was die Reform für die 5,5 Millionen Versicherten in den 1400 Pensionskassen genau bedeutet.

Wo vieles unklar ist, kann man umso ungenierter Behauptungen aufstellen. Die Schweiz steht vor einer anstrengenden Debatte, in der es in wichtigen Fragen Aussage gegen Aussage steht.

«Wir alle» können nicht betroffen sein

Tief blicken lässt dieser Tage eine Episode aus dem Lager der Gegner. Sie haben am Dienstag mit einem Grossaufgebot vor den Medien in Bern den Abstimmungskampf lanciert. Angeführt wird das Komitee vom kampferprobten Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Beim SGB ist Gabriela Medici für das Rentendossier zuständig. Sie hat der NZZ im Vorfeld ein Interview gegeben.

Im Gespräch wurde sie auf eine besonders fragwürdige Aussage angesprochen, die prominent in der Online-Kampagne des SGB zu finden ist: «Das Parlament hat beschlossen, dass wir alle weniger Pensionskassen-Renten bekommen und dafür auch noch höhere Beiträge zahlen sollen.»

Dieser Satz ist vieles, aber sicher nicht wahr. Dass «wir alle» weniger Rente erhalten, kann schon deshalb nicht stimmen, weil die 900 000 Pensionierten sicher keine Kürzungen erleiden. Ihre Renten sind unantastbar, mehr zahlen müssen sie auch nicht.

Und bei den Erwerbstätigen? Auch hier herrscht eigentlich Konsens: Weil sich die Reform einzig auf das gesetzliche Minimum der beruflichen Vorsorge bezieht, beschränken sich ihre direkten Auswirkungen auf eine Minderheit aller Angestellten. Die grosse Mehrheit ist in Pensionskassen versichert, deren Lohnbeiträge und Leistungen über das gesetzliche Minimum hinausgehen (im Jargon: «Überobligatorium»). Je grösser dieser freiwillige Teil ist, desto unplausibler ist es, dass die BVG-Reform zu Rentenkürzungen führt.

Und doch sagt der SGB, «wir alle» bekämen tiefere Renten. Was soll man davon halten?

Richtigstellung durch das Amt

Die Frage geht an das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV). Oft verhalten sich die Behörden in Abstimmungskämpfen recht defensiv; seit das Bundesgericht einen Urnengang über die Heiratsstrafe wegen falscher Zahlen annulliert hat, sind sie erst recht vorsichtig. Auch im vorliegenden Fall verzichtet das BSV auf eine explizite Würdigung der Nein-Kampagne. Doch seine inhaltliche Stellungnahme lässt keine Fragen offen.

Vorab: «Mindestens zwei Drittel der Versicherten sind so deutlich überobligatorisch versichert, dass die Reform sie nicht betrifft.» Sie haben laut BSV keine Rentenkürzungen zu befürchten. Möglich sei einzig, dass sie vorübergehend mehr zahlen müssten. Bei einem Lohn von 100 000 Franken macht das laut Amt höchstens 8 Franken im Monat aus. Dabei geht es um die Finanzierung der Übergangslösung zugunsten der ersten 15 Jahrgänge, die nach der Reform pensioniert werden.

Bei der verbleibenden Minderheit von höchstens einem Drittel identifiziert das Amt drei Kategorien, abhängig von Alter, Lohn und Pensionskasse. Manche müssen höhere Lohnbeiträge bezahlen, erhalten dafür aber auch höhere Renten. Andere müssen weniger einzahlen, erhalten später jedoch auch weniger Rente.

Einzig der dritten Gruppe droht das bittere Szenario, mit dem laut Gewerkschaft angeblich «wir alle» rechnen müssen: «mehr bezahlen, weniger Rente». Das heisst, dass zuerst ihr verfügbares Einkommen sinkt und später auch die Rente kleiner ausfällt. Wie gross diese Gruppe ist, lässt sich laut BSV nicht sagen.

Fazit: Die Aussage der Gewerkschaften trifft für die Mehrheit nicht zu und für die Minderheit nur zum Teil. Ist das jetzt eine Lüge oder noch eine zulässige Zuspitzung? Im Interview hat Gabriela Medici vom Gewerkschaftsbund die Aussage noch verteidigt.

Und plötzlich fehlt ein Wort

Doch dann geschah Unerwartetes. Einen Tag nach dem Interview war der umstrittene Satz auf der Website plötzlich verändert, wenn auch nur leicht: Das Wörtchen «alle» war verschwunden.

Der SGB verweist auf Nachfrage auf seine offizielle Kommunikation mit dem ebenfalls umstrittenen Slogan «Mehr bezahlen für weniger Rente». Gleichzeitig hält er fest, alle seien unterschiedlich betroffen. Und dann: «Die vom Webmaster gewählte Formulierung, welche der NZZ aufgefallen ist, entsprach nicht der Sprachregelung des Referendumskomitees. Deshalb wurde dieser Satz nach dem Hinweis umformuliert.»

Anzufügen bleibt, dass der Satz in der ursprünglichen Version über ein Jahr lang auf der Website zu lesen war. Die Seite tauchte erstmals im März 2023, kurz nach der Beratung der BVG-Reform im Parlament, im Internetarchiv auf – damals bereits mit der Behauptung, dass «wir alle» weniger Rente erhalten würden.

Jetzt, kurz vor der Abstimmung, sind es also nur noch «wir». Dass ein Komitee im Abstimmungskampf solche Korrekturen macht, ist relativ selten. Frei nach Neil Armstrong: ein grosser Schritt für den SGB, ein kleiner für die Wahrheit.

Die Verlierer der Reform

fab. · Sie werden in der Debatte eine wichtige Rolle spielen: jene Arbeitnehmer, die wegen der Reform mehr in die zweite Säule einzahlen müssten und trotzdem weniger Rente erhielten. Wie viele es sind, weiss niemand. Es gibt nur Modellrechnungen des Bundes. Demnach ist folgende Gruppe betroffen: Personen unter 50 Jahren, deren Pensionskasse praktisch nur das gesetzliche Minimum abdeckt und die während ihrer ganzen Laufbahn 65 000 bis 80 000 Franken im Jahr verdienen.

In solchen Konstellationen kann es sein, dass ein Angestellter zusammen mit seinem Arbeitgeber bis zur Pensionierung etwa 4600 Franken mehr einzahlen muss als heute. Die Rente fiele danach aber um 130 Franken im Monat tiefer aus (Beispiel für 50-Jährige mit 70 000 Franken Lohn). Dies ist die Folge davon, dass die Reform die Querfinanzierung von jüngeren zu älteren Versicherten reduzieren soll.

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