Ein Besuch in den schummrigen Nähereien Südchinas.

Wer in der Schweiz bei Shein ein Top für 6 Franken oder eine Jeans für 12 Franken bestellt, darf davon ausgehen, dass die Kleidungsstücke irgendwo am Stadtrand von Guangzhou genäht wurden. Weit mehr als tausend Fabriken produzieren hier – überwiegend exklusiv – für den bei Teenagern weltweit beliebten Onlinehändler.

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Der Volksmund hat das Quartier, in dem sich ein Teil der Fabriken konzentriert, «Shein Village» getauft. Glanz und Glamour des Zentrums der südchinesischen Metropole sind hier weit weg. Links und rechts einer staubigen Strasse bieten schäbige Kioske Getränke, Süssigkeiten und Fertigsuppen an. Kleinlaster, hoch beladen mit Stoffballen, versuchen sich einen Weg durch das Gewühl der Menschen zu bahnen, um dann in eine überraschend ruhige Seitenstrasse einzubiegen.

Zwei langgezogene graue Gebäude beherbergen hier auf jeweils sechs Etagen mehrere Dutzend Nähereien. Es sind namenlose Fabriken ohne Schilder und ohne Hinweise auf Gründer oder Eigentümer. Eine Näherei sieht wie die andere aus, fast alle produzieren für Shein, wie mehrere Arbeiter erklären.

Für diesen Artikel hat die NZZ mit einer Reihe von Arbeiterinnen und Arbeitern gesprochen. Aus Angst vor Jobverlust und anderen Repressalien möchte sich keiner von ihnen mit vollem Namen zitieren lassen.

Das offene Rolltor zu einer der Fabriken gibt den Blick frei auf Berge aus bunten Stoffen. Dazwischen liegen verpackte Frauenkleider. Die Tüten tragen das Shein-Logo. Im hinteren Teil der Halle stehen vier langgezogene Tische. Hier nähen Frauen und Männer die Kleider.

Am Rand der Fabrikhalle steht Herr Liu, der Kleiderbügler. «Wir arbeiten hier von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends», sagt der 42-Jährige. Mittags machen Herr Liu und seine Kollegen eineinhalb Stunden Pause, zum Abendessen gibt es eine weitere einstündige Pause. Angaben, die zwei andere Arbeiterinnen, die in der Fabrik Shein-Kleider verpacken, bestätigen.

Kaum Zeit für Erholung

Herr Liu bügelt die Kleidungsstücke, die die Arbeiterinnen und Arbeiter hinter ihm zusammennähen. «Es ist harte Arbeit», sagt er, «ich muss mehr als 10 Stunden am Tag stehen.» Zeit für Erholung bleibt dem Wanderarbeiter aus der südchinesischen Provinz Guizhou kaum – pro Monat haben Herr Liu und seine Kolleginnen und Kollegen nur einen freien Tag. Gespräche mit Arbeitern in anderen Fabriken ergeben, dass die Arbeitszeiten dort ähnlich lang sind.

Auf den ersten Blick scheint das Salär, das die Fabrik ihren Mitarbeitern zahlt, ordentlich im Vergleich zu den Lebenskosten vor Ort. Der Chef sorge dafür, dass jeder Arbeiter am Monatsende mindestens 8000 Yuan, umgerechnet 970 Franken, in der Lohntüte habe, sagt Herr Liu. Das entspricht etwa dem Dreifachen des gesetzlichen Mindestlohns in Guangzhou.

Wer schnell ist, verdient mehr

Wer schnell ist, kann sogar noch mehr verdienen. Herr Liu und die anderen Arbeiterinnen und Arbeiter können sich nämlich danach bezahlen lassen, wie viele Kleidungsstücke sie nähen, bügeln oder verpacken – der sogenannte Akkordlohn. Doch die Zielmarken, die der Chef für einen Bonus gesteckt hat, sind hoch.

Vor den Tischen, auf denen Arbeiter Stoffe zuschneiden, sitzt eine Frau mittleren Alters und verpackt Kleider. «Ich arbeite erst seit wenigen Tagen hier», sagt die Arbeiterin. Für jedes verpackte Kleid zahle die Firma ihr 0,35 Yuan, umgerechnet 4 Rappen, erklärt sie.

Um auf ein Salär von 8000 Yuan zu kommen, muss die Frau theoretisch an 29 Arbeitstagen im Monat mit einer täglichen Arbeitszeit von 11,5 Stunden im Durchschnitt jede Stunde 68 Kleider verpacken. Schafft sie mehr, zahlt ihr der Chef den überschüssigen Betrag zusätzlich zu den 8000 Yuan. Bleibt sie darunter, bekommt sie trotzdem 8000 Yuan pro Monat.

Auch wenn Herr Liu und seine Kolleginnen etwa das Doppelte einer Kellnerin oder eines Verkäufers verdienen, verstösst die Näherei gegen geltende Gesetze. Statt der gesetzlich vorgeschriebenen 160 Stunden im Monat arbeiten sie mehr als 320 Stunden im Monat. Dazu kommt, dass die Nähereien keine Beiträge an die Sozialversicherung abführen. Eine Anfrage der NZZ an Shein zu den Zuständen in den Fabriken blieb unbeantwortet.

Auf die Frage, ob er mit seinem Job glücklich sei, antwortet Herr Liu nur knapp: «Die Frage stellt sich nicht, wir haben ja keine Wahl.» Im heutigen China, sagt der Shein-Arbeiter, könne man ohne harte Arbeit nicht überleben. «Was soll meine Familie essen und trinken?», fragt Herr Liu. Seine Frau und sein Sohn im Teenageralter leben weit weg in Guizhou. Herr Liu sieht sie einmal im Jahr zum chinesischen Neujahrsfest.

Die Behörden schauen weg

Die Behörden in Guangzhou wissen um die prekären Zustände in den Shein-Fabriken. Doch sie schauen weg. In China sind ohnehin schon viel zu viele Menschen arbeitslos. Da ist die Regierung froh, wenn überhaupt noch jemand Jobs schafft, so hart die Bedingungen auch sein mögen.

Nach offiziellen Angaben lag die Arbeitslosenquote in China im Februar bei 5,4 Prozent gegenüber 5,2 Prozent im Januar. Wie ein Mitarbeiter des Staatsrates, der chinesischen Regierung, im Gespräch einräumt, sind in Wahrheit allerdings viel mehr Menschen ohne Arbeit.

Einer, der sich mit Zuständen wie jenen in den Shein-Fabriken in Guangzhou nicht abfinden will, ist Han Dongfang. Han, der im Frühling 1989 auf dem Tiananmen-Platz in Peking protestiert hat, leitet das in Hongkong ansässige China Labor Bulletin, eine Organisation, die sich für die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern in China einsetzt.

Viele Fabriken arbeiten mit dünnen Margen

Zum Gespräch empfängt Han in einem Hongkonger Café. «Die langen Arbeitszeiten wie in den Shein-Werken sind Normalzustand in Guangdong», sagt Han. Viele Fabriken arbeiteten mit extrem dünnen Margen. «Halten sie die gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitszeiten ein, verdienen sie kein Geld», sagt der Chinese.

Arbeiter wie Liu akzeptieren die Bedingungen, denn sonst verdienen sie gar nichts. «Aber wir nehmen das nicht hin», sagt Han, «es gibt Rechte, die man den Menschen nicht nehmen kann.»

Stossen Han und seine drei Kollegen bei Firmen auf Verstösse gegen die gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitszeiten, rufen sie bei den zuständigen örtlichen Vertretungen des Arbeitsministeriums an. Doch dort, erzählt Han, zuckten sie meist nur mit den Schultern. ‹Was ist falsch daran? Gesetz ist Gesetz, Realität ist Realität›, antworteten die Mitarbeiter der Arbeitsbüros meist, sagt Han.

Doch Han lässt auch in solchen Momenten nicht locker. Er liest den Behördenvertretern dann Zitate des Staats- und Parteichefs Xi Jinping über die unbedingte Einhaltung von Arbeitnehmerrechten vor. «Dann machen sich die Beamten meist in die Hose», sagt Han und lacht.

«Kleine Mengen, schnelle Lieferung»

Dass viele der Nähereien nur dürftige Margen erwirtschaften, ist in das Geschäftsmodell von Shein eingewoben wie die DNA in den menschlichen Körper. Das Modell heisst «Kleine Mengen, schnelle Lieferung». Wenn Shein ein neues Design, etwa für ein T-Shirt, testet, ordert das Unternehmen zunächst kleine Mengen, gewöhnlich zwischen hundert und zweihundert Stück.

Greifen die Kunden zu, muss der Lieferant in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit die Produktion hochzufahren und grosse Stückzahlen zu liefern. Auf diese Weise schafft es Shein, die Lagerbestände im niedrigen einstelligen Prozentbereich zu halten. Branchenweit liegt die Quote bei 30 Prozent. Die Ersparnisse gibt Shein an die Kunden in Form tiefer Preise weiter.

Dem im Jahr 2008 im ostchinesischen Nanjing gegründeten Unternehmen bescherte das Geschäftsmodell bislang ein kräftiges Wachstum. Im Jahr 2023 kletterte der Umsatz im Jahresvergleich um 40 Prozent auf 32,2 Milliarden Dollar.

Shein droht Ungemach

Doch nun droht Shein, das 2022 auch aus steuerlichen Gründen den Firmensitz nach Singapur verlegte, Ungemach. Im vergangenen Jahr soll der Gewinn laut Medienberichten um kräftige 40 Prozent auf nur noch 1 Milliarde Dollar zusammengeschmolzen sein. Der Umsatz soll nur noch um 19 Prozent gewachsen sein. Grund dafür war wohl auch die schärfer gewordene Konkurrenz durch den Onlinehändler Temu.

Und jetzt bekommt Shein auch noch Gegenwind durch die umstrittene Zollpolitik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Am 2. Mai fällt nämlich die sogenannte De-Minimis-Regelung, nach der auf Kleinlieferungen in die USA bis zu einem Warenwert von 800 Dollar keine Zölle anfallen.

Dann zahlt Shein auf jede Lieferung einen Zoll in Höhe von 90 Prozent – ein schwerer Schlag für den Onlinehändler, liefert Shein doch jeden Tag rund eine Million Päckchen in die USA. Das amerikanische Geschäft machte bisher fast einen Drittel am Gesamtgeschäft des Unternehmens aus.

Damit dürfte es bald vorbei sein. Schon vor den von Trump verhängten Zöllen litt das Geschäft von Shein in Amerika. Im Februar fielen die Verkäufe in die USA an manchen Tagen um bis zu 41 Prozent.

Herr Zheng hat sich an das Shein-Tempo gewöhnt

Der Druck, den Shein auf seine Lieferanten ausübt, ist mithin gross. Doch Herr Zheng hat sich an das hohe Tempo gewöhnt. «Kommt Shein mit einem neuen Design, können wir innerhalb von drei Tagen zwischen dreihundert und vierhundert Kleidungsstücke liefern», sagt er. Zheng leitet die Produktion und den Vertrieb einer kleinen Näherei, nur wenige hundert Meter entfernt von der Fabrik, in der Herr Liu arbeitet.

An einem stickig-heissen Nachmittag im März steht Zheng auf der Strasse vor seinem kleinen Werk, das kaum grösser als ein Kiosk ist. Hinter ihm nähen drei junge Männer Knöpfe an graue Damenwesten. Die Kleidungsstücke haben Arbeiter in einer nah gelegenen grösseren Fabrik gefertigt. Das Werk gehört zu Zhengs Unternehmen.

«Wir bekommen jeden Tag neue Aufträge von Shein», erzählt Zheng. Er bestellt dann noch am selben Tag die benötigten Stoffe. Meist treffen diese am nächsten Tag ein, und die Arbeiter beginnen zu nähen. Die fertigen Kleidungsstücke lässt Zheng zu einem Shein-Lager fahren, das in der Nähe liegt. Von dort werden sie in die ganze Welt verschifft.

Zheng sagt, sein Unternehmen erwirtschafte Gewinne, einfach ist es aber offenbar nicht. Zheng sagt: «Wir müssen ständig die Kosten im Blick halten und nach Einsparmöglichkeiten suchen.»

Der Chinese möchte noch mehr über seine Arbeit erzählen, doch auf einmal donnern zwei Motorräder heran. Auf einem sitzen zwei Polizisten, auf dem anderen ein Mann mittleren Alters in schwarzer Zivilkleidung. Die Männer bedeuten Zheng, sofort das Gespräch abzubrechen. Sie halten den Manager mehr als zehn Minuten in Schach, bis der Journalist schliesslich die Szene verlässt.

Die örtlichen Behörden wissen um die Kritik im Westen an den Zuständen in den Fabriken in der Provinz Guangdong – und warnen offenbar viele Arbeiter im «Shein Village» davor, mit Ausländern zu sprechen. Gespräche mit mehreren Arbeiterinnen und Arbeitern in einer zwischen den Fabriken gelegenen Kantine enden immer an der gleichen Stelle – nämlich dann, wenn der Besucher fragt, ob sie für Shein arbeiteten.

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