Dienstag, Oktober 8

Die Philosophin Barbara Bleisch sagt, man belüge sich selbst, wenn man nicht zu seinem Alter stehe. In ihrem neuen Buch lobt sie das mittlere Alter als die besten Jahre. Wie kommt sie darauf?

Frau Bleisch, Frauen mittleren Alters sind gerade überall, sowohl in der Werbung wie in der Literatur. Sie beschäftigen sich als Philosophin mit dieser Lebensphase. Wollten Sie auf einen Trend aufspringen?

Nein. Ich stehe selber in der Mitte des Lebens und fand es immer interessanter, mich den philosophischen Fragen zuzuwenden, die mich persönlich beschäftigen. In der Philosophie ist die Mitte des Lebens ein unerforschtes Gebiet im Gegensatz zur Kindheit und Jugend oder zum Alter und Sterben. Umso mehr war mein Interesse geweckt. Mein Buch richtet sich aber nicht spezifisch an Frauen.

Es fällt aber schon auf, wie plötzlich wie selbstverständlich über die Wechseljahre gesprochen wird, was lange schambesetzt war oder als zu uninteressant galt?

Die Enttabuisierung der Menopause war überfällig. Ähnliches ist mit dem Gebären passiert oder der Menstruation. Viele dieser Bücher drehen sich auch um weibliche Sexualität. Zu begehren, war Frauen lange Zeit nur mit dem Ziel der Reproduktion zugestanden, während Männer Sex immer schon als etwas Befriedigendes und Schönes erleben durften.

Dennoch fehlt der unaufgeregte Blick auf das Thema: Entweder ist das Leben einer Frau mit fünfzig zu Ende, oder sie feiert eine rauschhafte, sexuelle Wiedergeburt. Dazwischen scheinen Frauen keine Erfahrungen zu machen. Sie nehmen in Ihrem Buch eine gelassene, geradezu versöhnliche Haltung ein. Weil diese so selten ist?

Ich habe keine Strategie verfolgt. Vielmehr hat mich interessiert, warum die mittleren Jahre vor allem als Krisenzeit beschrieben werden. Man spricht ständig von der Midlife-Crisis. Dem wollte ich eine andere Erzählung entgegensetzen: jene der «Blüte der Lebens», wie sie in der Antike weit verbreitet war. Heute sagen wir meist nur noch ironisch: Sie ist jetzt in der Blüte ihrer Jahre. Das finde ich irritierend. Wo ist diese Idee geblieben der Fülle des Lebens? Die Vorstellung, in der Mitte lebenserfahrener und souveräner im Leben zu stehen?

Frauen mögen übertreiben, wenn sie sagen, sie würden verblühen. Aber beschönigen Sie nicht auch, wenn Sie dieses Alter «Blüte des Lebens» nennen?

Wenn Frauen befürchten, dass sie verblühen, meinen sie wohl vor allem ihr Äusseres, weil weibliche Schönheit oft nur mit Jugendlichkeit assoziiert wird. Doch Frauen werden nach fünfzig keineswegs unsichtbar. Viele Frauen starten in diesen Jahren intellektuell durch, machen Karriere, besetzen in der Politik Machtpositionen. Ob ich beschönige? Es kommt darauf an, wie man den Begriff der Krise versteht.

Erklären Sie.

Man kann damit ein Jammertal meinen, das man schnellstmöglich überwinden muss. Man kann die Krise aber auch philosophisch verstehen, etwa im Sinne von Karl Jaspers: als Moment der Existenzerhellung, als eine Zeit, in der existenzielle Fragen an die Oberfläche gespült werden und sich uns aufdrängen.

Die Midlife-Crisis als Chance – im Ernst?

So platt meine ich das nicht, als müsste in allem, was uns an Schwerem widerfährt, eine Chance gesehen werden. Ein gutes Leben ist nicht zwingend immer glücklich. Traurige Momente, Verwundungen, Verluste gehören dazu. Das Leben ist ein riskantes Unterfangen. In Krisen wird uns aber oft bewusst, woran uns wirklich liegt. Und manchmal erwächst daraus die Schubkraft, etwas zu ändern.

Sie brauchen die Metapher des Hochplateaus, auf dem wir uns in der Mitte des Lebens befänden. Sind diese Jahre wirklich so beschaulich, wie Ihr Bild vermuten lässt?

Nein, zumal die Phase zwischen Anfang vierzig und Mitte sechzig sicher von Höhen wie Tiefen durchzogen sein wird. Aber vom Hochplateau aus überblicken wir eine weite Landschaft. Wir können schon auf einen beträchtlichen Teil unseres Lebens zurückblicken. Da gibt es dann vielleicht auch Momente der Reue, des Bedauerns, aber hoffentlich auch solche von Stolz und Dankbarkeit. Wir sehen aber auch, dass sich unser weiterer Weg in den Tälern verläuft, und wissen um sein Ende. In der Lebensmitte erfahren wir, was wir in einem abstrakten Sinn immer wussten: dass wir und geliebte Menschen sterblich sind. Vielleicht erkranken Menschen in unserer Umgebung schwer . Die eigenen Eltern werden gebrechlich. Auf dem Hochplateau gleichen viele ihre Ziele mit dem Gewordenen ab und ziehen Bilanz.

Wird nicht auch das Gefühl häufiger, welches der Film «Und täglich grüsst das Murmeltier» beschreibt – dass sich vieles wiederholt?

Routinen sind nicht nur schlecht. Sie entlasten auch und geben Halt. Werden die Kinder neu eingeschult oder treten wir eine neue Stelle an, ist das aufregend, aber auch aufreibend. Vieles gewinnt ausserdem gerade durch die Repetition an Wert. Eine erste Begegnung mag elektrisierend sein, aber noch grossartiger ist eine tiefe, lange Freundschaft. Aber ja, das Älterwerden kann auch dieses braungraue Gefühl der existenziellen Langeweile hervorrufen. Dann geht es darum, Momente des Glanzes wiederzuentdecken.

Wann erleben Sie diese?

Zum Beispiel in der Natur, in den Bergen. Ich stehe vor diesen riesigen, uralten Gesteinsmassen und fühle mich winzig klein. Das hat etwas Beklemmendes, aber gleichzeitig Erhebendes, weil mein kleines Ich nicht mehr zählt und ich mich als Teil eines grösseren Ganzen erlebe. Das ist das Gefühl der Erhabenheit, das schon Immanuel Kant oder Edmund Burke beschrieben haben. Die Welt tritt einem nicht stumm gegenüber, sondern sie spricht zu uns. Das klingt jetzt esoterisch.

Ja.

Ist es aber nicht. Dieses Gefühl wird sogar wissenschaftlich erforscht. Wer sich Momenten der Erhabenheit, des existenziellen Staunens hingibt, ist erfüllter. Allerdings stellen sie sich nicht auf Knopfdruck ein. Vielmehr bedarf es der Offenheit. Dass man solche Momente nicht in die Agenda zwängt. Und sie nicht verzweckt mit Blick auf Fitness, «Instagramability» oder was auch immer.

Man wird sich um die fünfzig auch stärker bewusst, was man verpasst hat und welches Leben ungelebt blieb, weil man damals einen anderen Weg einschlug. Ist Bedauern nicht ein gänzlich unnützes Gefühl, das einen schlimmstenfalls verbittern lässt?

Man kann sich eingestehen, dass man enttäuscht ist, ohne zu verbittern. Schliesslich haben wir noch Zeit und können manchem noch Raum geben, wenn auch vielleicht in anderer Form. Ausserdem haben die meisten Menschen mehr Träume und Sehnsüchte, als in ein Leben passen. Insofern ist das Bedauern die Begleitmusik eines Lebens, das viel will und wünscht. Doch hätte ich die Prioritäten anders gesetzt, hätte anderes keinen Platz gehabt, was ich auch nicht missen möchte.

Und wenn auch das kein Trost ist?

Man belügt sich, wenn man sagt: Könnte ich noch einmal zurück, würde ich anders entscheiden. Wir waren damals noch nicht die, die wir heute sind. Gemachte Erfahrungen sind keine Kleidungsstücke, die wir ablegen können, wenn sie uns nicht mehr gefallen, sondern sie verändern uns tief. Wenn ich mich frage: Wieso habe ich Mitte zwanzig nicht mutiger entschieden? Dann lautet die Antwort: Weil ich damals noch nicht mutiger war.

In einem Interview sagten Sie, Sie würden bedauern, das Geigen- und Klavierspiel nicht weiterverfolgt zu haben. Ist das wirklich alles?

Es gibt schon Dinge, die ich tief bereue. Ich habe Menschen Unrecht getan und würde das gerne rückgängig machen. Ich bedaure, nicht früher mit eigener Stimme gesprochen zu haben. Ich habe mich zu wenig abgegrenzt von Menschen, die mir nicht gutgetan haben. Diese Antwort muss genügen, alles andere ist privat.

Wie alt fühlen Sie sich eigentlich?

51.

Die meisten würden antworten, sie fühlten sich jünger, als sie sind.

Ich stutze, wenn das jemand sagt. Ich verstehe nicht, was damit gemeint ist. Klar kenne ich das Gefühl, beim Blättern in Fotoalben zu staunen, wie jung ich mal aussah, und nicht nur begeistert zu sein vom Konterfei, das mir heute aus dem Spiegel entgegenblickt. Ich hätte nichts dagegen, noch wie dreissig auszusehen. Aber daraus abzuleiten, dass ich mich wie dreissig fühle, scheint mir eine irrige Idee.

Gianna Nannini hat zu ihrem 70. Geburtstag gesagt: «Ich wurde 1983 geboren, bin jetzt also 41.» Was soll das?

Vor allem: Und was ist mit den zwanzig oder dreissig Jahren, die sie damit überspringt? Die waren doch grossartig! Wie traurig, würde ich mich immer noch wie dreissig fühlen! Dann hätte ich nichts gelernt und wäre am Leben nicht gewachsen.

Weshalb fällt es so schwer, zum eigenen Alter zu stehen?

Vielleicht hat man Bilder im Kopf von der Generation davor. Ich habe tatsächlich auch das Gefühl, meine Eltern seien mit fünfzig älter gewesen, als ich es jetzt bin. Aber Lebensläufe und Normen haben sich gewandelt. Meine Mutter war mit fünfzig womöglich stärker an eine Norm gebunden, wie eine 50-jährige Frau zu sein hat. Unsere Lebensläufe haben sich pluralisiert und individualisiert. Das ist befreiend.

Jugendlichkeit wird hoch gewertet, während der alte weisse Mann zum Schimpfwort geworden ist. Hat Erfahrung an Ansehen verloren?

Lebenserfahrung scheint weniger gefragt, dabei macht sie unser Leben reich und kostbar. Dank ihr stehen wir souveräner im Leben. Wir lassen uns nicht mehr so schnell ins Bockshorn jagen. Wir sehen vieles nicht mehr so tragisch. Wer mit fünfzig findet, er sei noch dreissig und habe keine Lebenserfahrung gesammelt, tut mir leid. Der Fehler des alten weissen Mannes ist übrigens meist der, dass er denkt, er müsse seine Lebenserfahrung ungefragt an die Jungen weitergeben. Aber wir müssen die Jungen ihre Erfahrungen selber machen lassen.

Sie wirken sehr reif und abgeklärt, als könnte Sie nichts aus der Bahn werfen. Ist man mit 51 schon so lebenserfahren?

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Sie haben zwei Teenager-Töchter. Lassen diese Sie sich eher alt fühlen, oder halten Kinder jung?

Die Jugend bei uns zu Hause führt mir deutlich vor Augen, dass ich nicht mehr jugendlich bin. Ich sehe auch, welche Herausforderungen auf sie zukommen, nicht zuletzt in einer Welt, die fragiler ist als in meiner Jugendzeit. Vor allem aber möchte ich meinen Kindern ihren Platz lassen, ohne die Jugend zu imitieren. Nichts ist schrecklicher, als wenn die eigenen Eltern an Orten aufkreuzen, wo sie sich tummeln.

Sie teilen sich also nicht den Kleiderschrank?

Meine Töchter bedienen sich manchmal bei mir. Mich freut, wenn sie sich «ein cooles Teil» herausfischen. Aber ich ziehe nicht ihre Sachen an.

Wann war der Moment, als Sie realisierten: Ich werde alt?

An der Sitzung sitzt die Praktikantin mit am Tisch, die meine eigene Tochter sein könnte. Es hilft dann, in die Rolle der Mentorin zu rutschen und den Jungen Türen zu öffnen, wenn ich kann. In meinem Freundeskreis drehen sich die Gespräche öfter um Body-Maintenance, wie wir das liebevoll nennen. Wer ist schon zur Darmspiegelung gegangen? Wer braucht eine Lesebrille? Wir machen uns oft lustig, wenn wir uns so reden hören. Zu den mittleren Jahren gehört auch, sich nicht immer so ernst zu nehmen.

Barbara Bleisch ist Philosophin, Buchautorin und Moderatorin der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie». Sie lebt in Zürich. – Ihr neues Buch «Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre» ist im Hanser-Verlag in München erschienen. 272 S., Fr. 35.90.

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