Donnerstag, Oktober 10

Die EU-skeptische Kompass-Bewegung will keine neue Übereinkunft mit Brüssel und fordert eine harte Haltung in den Verhandlungen. In manchen Punkten sei das Interesse der EU an einem Vertrag grösser als jenes der Schweiz. Doch die Realität ist komplexer.

Wem nützen die bilateralen Verträge mehr, der Schweiz oder der EU? Die Frage tönt kleinkrämerisch, doch sie ist legitim. Heinrich Fischer, der ehemalige Chef des Textilmaschinenherstellers Saurer und ein Mitstreiter der Bewegung Kompass, sagte anlässlich der Lancierung von deren Volksinitiative, das Interesse der EU am Freizügigkeitsabkommen sei grösser als jenes der Schweiz.

Der ehemalige Manager ist zwar für den freien Personenverkehr mit der EU. Kompass will aber verhindern, dass die Schweiz mit dem Staatenbund ein neues institutionelles Abkommen schliesst. Die Schweiz verhandle schlecht, glaubt Kompass – eben weil sie das grosse Interesse der EU an der Personenfreizügigkeit bei den Gesprächen nicht ausreichend berücksichtige.

Migration von Ost nach West

Absolut betrachtet sind es auf den ersten Blick tatsächlich die Bürger des Staatenbundes, die am meisten von der Personenfreizügigkeit zu profitieren scheinen. In der Schweiz leben viel mehr von ihnen als umgekehrt Schweizer in der EU. Im Nichtmitgliedsland profitieren die Zuzüger von sehr hohen Löhnen, einer verlässlichen Verwaltung und guten sozialen Diensten. Das sind drei Gründe, warum die Schweiz auf qualifizierte Arbeitskräfte eine so grosse Sogwirkung ausübt.

Doch die Anziehungskraft geht darüber hinaus. Diese sei in jenen Städten am grössten, die über einen hochentwickelten Tertiärsektor verfügten, schreibt der Brüsseler Think-Tank Espon. «Gut ausgebildete Migranten ballen sich in Orten, wo auch die einheimische Bevölkerung gut ausgebildet ist.» Das trifft auf die Schweiz zu, aber auch auf viele Grossstädte Nordwesteuropas. In der EU gibt es deshalb eine Migrationsbewegung aus dem Südosten des Kontinents dorthin.

Die Zuwanderung aus der EU löst bei vielen Schweizern Dichtestress aus. Abhängig von der Lebensplanung zählen allerdings auch sie zu den Nutzniessern der Personenfreizügigkeit. Sie haben die Möglichkeit, fast überall in Europa zu arbeiten, ohne dafür einen hohen bürokratischen Aufwand auf sich nehmen zu müssen. Relativ gesehen sind also auch Schweizer Gewinner: Ihnen steht ein riesiger Arbeitsmarkt offen.

Osteuropa hat ein Demografieproblem

Das ist die individuelle Sicht. Aus nationaler Perspektive verhält es sich anders. Die grosse Hüterin des freien Personenverkehrs ist die EU-Kommission. Den Binnenmarkt hält sie für die grosse liberale Errungenschaft der EU. Wenn er funktioniert, versorgt er die Konsumenten mit günstigen Gütern, und die Menschen können dort leben, wo sie die besten Bedingungen vorfinden. Die Kommission – ein eher technokratisch gesinntes Gremium – will an diesen Grundfesten der EU nicht rütteln.

Gewisse Nachteile der Personenfreizügigkeit sind allerdings auch im Staatenbund ein Thema, auch wenn die Diskussion nicht so breit und vehement geführt wird wie in der Schweiz. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta hat im Frühling in einem Bericht zuhanden des EU-Rates auf einige wunde Punkte verwiesen.

Er nannte erstens die EU-Binnenmigration in die blühenden Städte, wo sich die Bevölkerung teilweise über Wohnungsnot beklage. Mehr Kopfzerbrechen scheint ihm zweitens aber eine andere Folge der Personenfreizügigkeit zu bereiten: der Bevölkerungsrückgang in vielen Regionen der EU. 135 Millionen EU-Bürger, also fast ein Drittel, lebten in Gegenden, die in den vergangenen zwanzig Jahren demografisch zurückgefallen seien, sagt Letta. Dort schrumpfe die Arbeitsbevölkerung, besonders qualifizierte Arbeitskräften fehlten.

Die Menschen sollen da bleiben

Ein Gradmesser dafür sind die Rimessen, also Überweisungen, die Migranten nach Hause schicken. Ob Bulgarien, Ungarn, Rumänien oder Kroatien und selbst Portugal: All diese EU-Mitgliedsländer erhalten mehr Rimessen aus dem Ausland, als von dort in andere Staaten fliessen. Diese Gelder der Ausgewanderten stützen zwar den Konsum, weil die zu Hause gebliebenen Familienangehörigen mehr Geld zum Leben haben.

Ökonomisch ist das aber kaum nachhaltig: Es fehlen nicht nur die Arbeitskräfte, sondern auch die langfristig ausgerichteten Investitionen. Ein lange Zeit «armes» EU-Land hat es allerdings geschafft, diesem Zustand zu entkommen: Polen. Seit 2018 schicken ausländische Arbeitskräfte von dort mehr Geld in ihre Herkunftsländer als Auslandpolen in ihre alte Heimat. Polen ist zu einem Einwanderungsland geworden.

Arbeitskräfte sind allerdings fast überall in Mittelosteuropa knapp – egal, ob es sich um eine aufstrebende Volkswirtschaft wie Polen handelt oder Länder wie Bulgarien oder Rumänien, die wirtschaftlich um den Anschluss an den europäischen Durchschnitt kämpfen.

Die Schweizer Diskussion um die Personenfreizügigkeit sehen sie daher auch aus einer rein praktischen Perspektive. Der Diplomat eines osteuropäischen Landes in Brüssel meint dazu: Ihm sei wichtig, dass seine Landsleute im Vergleich mit anderen EU-Bürgern in der Schweiz nicht benachteiligt würden, es sei aber ohnehin am besten, sie blieben zu Hause, statt nach Westeuropa zu migrieren.

Vor allem wer hochqualifiziert ist und wegzieht, hinterlässt in den osteuropäischen Staaten eine grosse Lücke. Diesen Ländern gelingt es nämlich kaum, umgekehrt gut ausgebildete Arbeitnehmer aus Westeuropa anzuziehen. Aus deren Sicht sind im Osten die Löhne zu niedrig, die Sprachbarrieren zu hoch und die Gesellschaften zu wenig bunt. Zürich, München oder Amsterdam punkten hier dagegen, was sie zu Magneten für Arbeitskräfte macht.

Europas Haltung zur Personenfreizügigkeit ist daher vielfältiger, als Heini Fischer sagt. Europa profitiert, die Schweiz erst recht, aber beide nicht in jeder Hinsicht.

Gantners «persönliche Empirie»

Eindeutig falsch ist allerdings eine Aussage, welche die Kompass-Promotoren bei der Lancierung ihrer Initiative ebenfalls machten. Acht von zehn Unternehmern sähen eine bilaterale Übereinkunft mit der EU «hochkritisch», sagten die Finanzunternehmer Alfred Gantner und Urs Wietlisbach.

Man könne diese Aussage nicht nachvollziehen, meint Jan Atteslander, Bereichsleiter Aussenwirtschaft und Mitglied der Geschäftsleitung beim Wirtschaftsverband Economiesuisse. Auf harten Fakten beruht sie offenbar nicht. Peter Röthlisberger, der Sprecher von Kompass, meint, die Aussage von Gantner und Wietlisbach sei «persönliche Empirie».

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