Dienstag, November 26

Smartphones werden immer wieder für psychische Krisen von Kindern und Jugendlichen verantwortlich gemacht. Der Medienpsychologe Daniel Süss plädiert hingegen für einen entspannten Umgang mit dem Thema. Und er hat ein paar Tipps für Familien.

Herr Süss, angeblich schaden Smartphones der Psyche von Kindern und Jugendlichen enorm. Besonders prominent vertritt der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt diese Ansicht in seinem Bestseller «Generation Angst». Ist der schlechte Ruf der Geräte gerechtfertigt?

Ich kann vielem nicht zustimmen, was Haidt schreibt. Einer seiner Kernpunkte ist etwa, die Geburtsstunde der Smartphone-basierten Kindheit habe die spielbasierte Kindheit beendet. Das ist falsch. Unsere Studien zeigen etwas anderes. Natürlich haben Smartphones sehr stark an Bedeutung zugenommen. Aber es ist überhaupt nicht so, dass Kinder und Jugendliche deshalb aufhören zu spielen oder miteinander zu kommunizieren.

Zur Person

PD

Daniel Süss

Der Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften erforscht, wie Schweizer Kinder und Jugendliche ihre Freizeit verbringen und wie sie Medien nutzen.

Und doch sagen Sie, das Smartphone sei für Schweizer Kinder und Jugendliche sehr wichtig geworden. Was genau bedeutet das?

Das Handy ist in vielen Situationen dabei. Kinder und Jugendliche kommunizieren damit zum Beispiel mit ihren Eltern, mit Freunden und organisieren Treffen. Sie sind aber nicht pausenlos am Gamen oder Chatten. Nach wie vor treffen sie sich am liebsten mit ihren Freunden, um mit ihnen Zeit zu verbringen, gerne auch draussen.

Laut Ihren Befragungen bekommen viele Schweizer Kinder mit etwa neun Jahren ihr erstes Smartphone, ab zwölf Jahren haben fast alle Kinder eines. Wie nutzen sie das Gerät?

Wenn die Kinder jünger sind, interagieren sie damit vor allem mit den Eltern und mit einem kleinen Freundeskreis. Je älter sie werden, desto wichtiger wird die Kommunikation mit Gleichaltrigen und über soziale Netzwerke. Dort suchen sie Vorbilder. Sie hören mit dem Smartphone Musik und gamen natürlich auch. Zudem übernimmt das Gerät Alltagsfunktionen, es ist zum Beispiel ihr Wecker. An der Bushaltestelle vertreiben sie sich damit die Langeweile. Und sie nutzen Erklärvideos auf Youtube, um Hausaufgaben zu lösen, wenn sie etwas in der Schule nicht verstanden haben.

In welchen Fällen schadet das Smartphone Kindern und Jugendlichen?

Manche Jugendliche schlafen viel zu wenig, weil sie in der Nacht durch soziale Netzwerke scrollen, aus Angst, etwas zu verpassen. Ein wirklich suchtartiges Verhalten kommt aber eher selten vor in der Schweiz. Viele Jugendliche hierzulande erleben allerdings sexuelle Belästigung. Auf verschiedenen Plattformen versuchen Erwachsene oder auch Gleichaltrige, sie sexuell anzusprechen.

Wie gehen die Jugendlichen damit um?

Oft sperren sie die Person und reagieren auf die sexuelle Belästigung gar nicht. Wichtig ist, dass die Jugendlichen mit ihren Eltern darüber sprechen können – ohne zu befürchten, dass ihnen von den besorgten Müttern und Vätern sofort das Handy weggenommen wird.

Sie können und wollen also auf keinen Fall ohne ihr Smartphone leben?

Viele Jugendliche erleben das Gerät ambivalent. Uns sagte einmal eine Jugendliche in einem Interview, das Smartphone sei ihr bester Freund und ihr grösster Feind. Die jungen Menschen fühlen sich damit sozial eingebunden und haben ein ganz persönliches Gefäss, in dem sie ihre Erinnerungen, ihre Fotos und so weiter aufbewahren. Aber manche sagen, dass sie es in gewissen Phasen zur Seite legen oder bestimmte Apps deaktivieren. Einige tun das zum Beispiel, wenn sie eine Lehrstelle antreten oder eine fordernde Zeit in der Schule haben.

Ist es ein Warnsignal, dass die Jugendlichen nicht ohne ihr Smartphone sein wollen?

Überlegen Sie einmal: Wie geht es Ihnen, wenn Sie am Morgen auf dem Weg zur Arbeit merken, dass Sie Ihr Smartphone zu Hause vergessen haben? Viele Menschen benötigen es allein schon, um sich an der Arbeit per Zwei-Faktor-Authentifizierung ins System einzuloggen. Andere bezahlen ihre Einkäufe mit dem Smartphone. Es ist doch verständlich, dass einem dieses Ding wichtig ist. Wer das Smartphone ständig dabeihaben möchte, ist nicht süchtig. Das Gerät ist einfach notwendig, auch für Jugendliche. Den Hausschlüssel will man ja auch nicht vergessen.

Der Hausschlüssel hat aber einen einzigen ganz konkreten Nutzen und öffnet nicht das Tor zu Porno-Seiten oder zweifelhaften Influencern in sozialen Netzwerken.

Abzuwägen, in welchen Bereichen das Smartphone nützt und wo es schadet, ist sinnvoll. Die Kindheit und Jugend soll auch ein Schonraum sein, in dem Heranwachsende möglichst optimale Bedingungen bekommen, um gut aufwachsen zu können. Deshalb sollten Eltern gemeinsam mit ihren Kindern individuelle Nutzungsregeln vereinbaren. Ausserdem müssen sie dem Kind ja gar nicht von Anfang an ein Smartphone mit allen Funktionen zur Verfügung stellen. Aber: Wer wie Jonathan Haidt sagt, eine Kindheit mit Smartphone führe zu einer Generation der Angst und der Depressionen, der macht es sich etwas zu leicht.

Warum?

Man sollte sich auch fragen: Was hat sich in den vergangenen Jahren in der Gesellschaft und in unserem Erziehungsverhalten auch noch verändert? Sind wir wirklich eine kinderfreundliche Gesellschaft? Und wie stark hat zum Beispiel der Leistungsdruck zugenommen? Ich denke nicht, dass alles besser wäre, gäbe es keine Smartphones.

Für manche Jugendliche vielleicht schon. Woran können Eltern merken, dass ihr Kind ein problematisches Nutzungsverhalten hat?

Natürlich gibt es dafür Anzeichen. Dazu gehört: Die Interessen des Kindes werden immer stärker eingeschränkt, es vernachlässigt Dinge, die es vorher gern gemacht hat. Es trifft sich vielleicht weniger mit Freunden oder geht weniger nach draussen zum Spielen. Es beginnt womöglich auch, die Nutzungszeit zu verheimlichen. Eventuell schläft es zu wenig, und die Schulleistungen verschlechtern sich. Wenn man mit seinem Kind im Austausch ist und Anteil nimmt an der Art und Weise, wie es Medien nutzt, dann merkt man meist früh, ob irgendetwas in eine ungünstige Richtung läuft.

Bei den Regeln für die Smartphone-Nutzung wünschen sich viele Eltern konkrete Tipps. Sind feste Zeitfenster, in denen das Gerät genutzt werden darf, noch zeitgemäss?

Wichtiger ist die Frage, welche Inhalte genutzt werden und aus welchen Motiven heraus. Ich kann Youtube-Videos anschauen und Musik hören, weil ich Dinge vor mir herschiebe, die mir unangenehm sind – oder ich tue das zum Lernen, zur Entspannung oder zur Anregung meiner Phantasie. Dann hat dieselbe Zeit eine ganz andere Bedeutung. Und man sollte vor allem darauf achten, dass die Balance stimmt. Geht das Kind genügend nach draussen? Trifft es sich mit Freunden? Das ist wichtiger, als einfach ein Zeitbudget festzulegen.

Haben Sie dennoch konkrete Tipps für einen sinnvollen Umgang mit dem Smartphone, an die sich Eltern und Kinder halten können?

Bei den ganz Kleinen ist klar, dass sie Bildschirmmedien nicht allein nutzen sollten, sondern in Begleitung von Erwachsenen. Wir drücken einem Kleinkind ja auch nicht einfach ein Bilderbuch in die Hand und überlassen es dann sich selbst. Im Jugendalter sollte das Kind aber seine Privatsphäre haben und sich mit Freunden austauschen, ohne dass die Eltern alle Chats kontrollieren. Es gilt also, sich an das Alter und den Entwicklungsstand des Kinds anzupassen und schrittweise mehr Selbstverantwortung zu ermöglichen.

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Würden Sie Eltern empfehlen, die Mediennutzung der Kinder per App zu tracken, also zu überwachen, um nachzuvollziehen, wann und wie sie das Handy nutzen?

Ich würde nicht die Geräte tracken, sondern ich würde im Gespräch gemeinsam die Bildschirmzeit anschauen, die auf dem Smartphone angezeigt wird. Das muss man vorher mit dem Kind vereinbaren – und im Gegenzug sollte man auch die eigene Bildschirmzeit mitteilen. Über ein Gespräch hinaus können technische Hilfsmittel helfen, gewisse Eindrücke objektiv festzustellen. Tracking halte ich aber generell nicht für sinnvoll.

Warum nicht?

Eltern sollten ihren Kindern Freiheiten und Privatsphäre zugestehen, ihnen Verantwortung übertragen, ihnen etwas zutrauen und sie nicht ständig überwachen. Das gilt auch fürs GPS-Tracking, mit dem man schauen kann, wo sich das Kind aufhält. Die Kinder und Jugendlichen in unseren Befragungen sagen übrigens auch, dass ihnen die Überwachung unangenehm ist. Das kann ich nachvollziehen. Das Smartphone sollte kein Instrument der Halbgefangenschaft sein.

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