Samstag, Oktober 5

Deutschland und die Schweiz hinken laut Kardiologen den europäischen Richtlinien für den Einsatz der cholesterinsenkenden Medikamente hinterher. Allgemeinmediziner widersprechen.

Ein neuer Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums zur Vermeidung von Herz-Kreislauf-Toten hat in Deutschland die Debatte um den Einsatz von Statinen neu entfacht. Die Mittel senken die Blutfettwerte. Kardiologen plädieren ebenso wie der Gesundheitsminister Karl Lauterbach für eine Ausweitung der Verschreibungen. Deutschland erfülle in puncto Statinnutzung die von europäischen Fachgesellschaften festgelegten Leitlinien nicht. Allgemeinmediziner hingegen sehen eine Ausweitung kritisch und wehren sich gegen «Staatsmedizin» und «Gaga-Gesetz».

Lauterbach sah sich zum Handeln gezwungen, weil in Deutschland seit einiger Zeit die Lebenserwartung etwas geringer ist als in anderen wohlhabenden Ländern. So leben Frauen wie Männer in Deutschland ungefähr zwei Jahre weniger lang als in der Schweiz. Das liege vor allem daran, dass in Deutschland ältere Menschen sowie jene, die sich dem Pensionsalter näherten, häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen stürben als in anderen Ländern, hielten Forscher aus Rostock und Wiesbaden vergangenes Jahr fest.

Statine werden bereits seit Ende der 1980er Jahre eingesetzt. Sie hemmen die Cholesterinsynthese in der Leber. Das Fettmolekül ist lebensnotwendig für uns Menschen: Es hält die Zellhüllen stabil und ist unter anderem Grundbaustein für die Sexualhormone. Wenn die körpereigene Produktion durch Statine gedrosselt wird, schnappt sich die Leber das aus der Nahrung ins Blut transportierte Cholesterin. Somit drosseln Statine den Cholesterinwert und auch den LDL-Wert im Blut, das ist das «schädliche» Cholesterin im Blut.

Diskussion um den anzustrebenden Blutfettwert

Ein erhöhter LDL-Wert ist eine der Ursachen kardiovaskulärer Erkrankungen, da sind sich Kardiologen und andere Ärzte einig. Daher sei eine Senkung des Werts eine wichtige Präventionsmassnahme gegen Herzinfarkt, Schlaganfall und andere Erkrankungen. Doch seit Jahren gehen die Meinungen auseinander, wer denn nun seinen LDL-Wert mithilfe von Statinen senken sollte.

Unstrittig ist zwar, dass Menschen, die bereits einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder eine sonstige Herzerkrankung hatten, einen niedrigen LDL-Wert aufweisen sollten und daher von Statinen profitieren. «Das Ziel sollte ein LDL-Wert von 55 mg pro Deziliter sein», betont Holger Thiele, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. «Doch weniger als ein Fünftel der Menschen dieser Gruppe erreichen in Deutschland diesen Wert. Hier besteht also eindeutig eine Unterversorgung.»

Debattiert wird jedoch erneut vor allem über die Primärprävention. Also darüber, ob Personen, die noch keine der genannten Akutprobleme hatten, aber bereits diverse Risikofaktoren dafür aufweisen, prophylaktisch Statine einnehmen sollten. Dazu zählen neben den Blutfettwerten auch ein erhöhter Blutdruck, Plaques in den grossen Blutgefässen, Übergewicht, ein stressiges Leben, Rauchen oder Diabetes, aber auch andere Faktoren wie Einkommen, Bildung oder Einsamkeit.

Sind die Leitlinien der Kardiologen zu strikt?

Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie geben deutliche Vorgaben für Personen mit solchen Risikofaktoren. Zuerst sollte mithilfe der bei einer Person erfassten Faktoren berechnet werden, wie hoch das Risiko für sie ist, in den nächsten zehn Jahren eine kardiovaskuläre Erkrankung zu bekommen. Für die jeweiligen Risikogruppen ist ein anzustrebender LDL-Wert definiert. Als Faustregel gilt: Je höher das Risiko, desto tiefer sollte der LDL-Wert sein.

Stefan Blankenberg, Leiter des Herzzentrums am Universitätsklinikum Eppendorf, hat zusammen mit Kollegen die Risikoberechnung entwickelt. Er sagt: «In Deutschland werden diese Leitlinien für die Prävention zu wenig beachtet. Dementsprechend bekommen zu wenig Personen Statine.» Aber es gehe nicht darum, dass jede und jeder punktgenau den Zielwert treffe. Zudem müsste nicht nur der Cholesterinspiegel, sondern auch ein Bluthochdruck behandelt werden. Dabei können Medikamente helfen, aber auch eine Änderung des Lebensstils.

Die Allgemeinmediziner haben ebenfalls Leitlinien für die kardiovaskuläre Prävention formuliert. Die sind allerdings weniger strikt. Es gebe keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass die Einhaltung der in den Leitlinien der Kardiologen aufgeführten LDL-Zielwerte einen Mehrwert biete im Hinblick auf die Vermeidung von Todesfällen durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sagt Martin Scherer, Präsident der Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin.

Blankenberg bestätigt, dass es für die strikten LDL-Zielwerte in den Kardiologen-Leitlinien keine klinische Studie gebe. Aber die Berechnung basiere auf Patientendaten aus mehreren Ländern und liefere eine sehr gute Risikoeinschätzung. Betroffene sollten ihr Risiko kennen und dann zusammen mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt entscheiden, wie sie den LDL-Zielwert erreichen wollten. Die Kardiologen Blankenberg wie auch Thiele begrüssen den Gesetzentwurf, weil er darauf abziele, dass die europäischen Leitlinien in Deutschland besser umgesetzt würden.

Statinverschreibung in der Schweiz

Auch François Mach, Kardiologe am Unispital in Genf, hält den Gesetzentwurf für wichtig. Allein schon, weil das Thema Prävention nun mehr Aufmerksamkeit erhalte. Auch in der Schweiz gebe es zu viele Menschen mit zu hohen Blutfettwerten und eine Unterversorgung mit cholesterinsenkenden Medikamenten. «Jede Woche haben wir hier in Genf einen Herzinfarkt oder einen anderen schlimmen Vorfall, nur weil die Betroffenen ihre Blutfettwerte und generell ihre Risiken nicht kennen und somit auch nichts dagegen unternehmen.» Mach empfiehlt daher allen, die bereits Plaques in grossen Blutgefässen am Hals oder am Herzen haben, Statine, unabhängig vom Alter.

Denn Statine seien mittlerweile sehr günstig, so Mach. Die Tagesration koste weniger als einen Franken beziehungsweise einen Euro. Und sie seien sehr sicher. Die Mittel verursachen bei ungefähr zwei bis fünf Prozent der Personen Muskelschmerzen, in sehr selten Fällen kommt es zu Muskel- oder Nierenschäden. Gemäss heutigem Standard sollten sie lebenslang eingenommen werden.

Wie in Deutschland sehen das auch in der Schweiz die Allgemeinmediziner kritisch. Etwa 730 000 Menschen in der Schweiz nehmen Statine, viele von ihnen sind bereits über 70 Jahre alt. Und wiederum viele dieser Personen haben zwar erhöhte Cholesterinwerte, jedoch ohne vorbestehenden Schlaganfall oder Herzinfarkt. Ist die medikamentöse Behandlung in solch einem Fall sinnvoll? Nicolas Rodondi, Professor am Berner Institut für Hausarztmedizin, sagt dazu: «Die Datenlage ist unklar.» Das Problem: «Es gibt kaum wissenschaftliche Studien mit Patienten in diesem Alter. Die wenigen Daten, die es gibt, zeigen, dass Statine das Risiko für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt in dieser Gruppe nicht senken.»

Um mehr Klarheit zu schaffen, führt er derzeit die Stream-Studie durch. «Darin untersuchen wir den umstrittenen Nutzen von Statinen bei älteren Personen und mögliche Vorteile eines Absetzens – insbesondere hinsichtlich Muskelschmerzen und Lebensqualität.»

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