Mittwoch, Oktober 9

Wurde der Boss des Sinaloa-Kartells von den eigenen Leuten verraten? Oder handelte es sich um eine Undercover-Aktion der USA in Mexiko? Auch ein Verbündeter des mexikanischen Präsidenten muss sich erklären.

Am Nachmittag des 25. Juli landete ein aus Mexiko kommendes Kleinflugzeug in der texanischen Grenzstadt El Paso. An Bord: der Sohn des in den USA zu lebenslanger Haft verurteilten Drogenhändlers Joaquín «El Chapo» Guzmán, Joaquín Guzmán Lopez, sowie Ismael Mario Zambada García alias «El Mayo», der mit «El Chapo» einst das mächtige Sinaloa-Drogenkartell gegründet hatte. Seit Jahrzehnten waren amerikanische Behörden hinter dem 76-jährigen «El Mayo» her. Nun wurden er und «El Chapos» Sohn, der ebenfalls von der amerikanischen Justiz gesucht wurde, auf dem Rollfeld in Texas festgenommen.

Die Aktion wirft viele Fragen auf. Gab es einen Deal der amerikanischen Justiz mit der Familie von «El Chapo», um «El Mayo» den Behörden zuzuführen? Oder hat «El Mayo», der schwer krank sein soll, selber eine Übereinkunft mit den amerikanischen Behörden geschlossen? Erste Berichte der Associated Press hatten Letzteres nahegelegt.

Mexikos Regierung beeilte sich zu erklären, nicht in die Aktion eingeweiht gewesen zu sein, und verlangte «umfassende Erklärungen» von der amerikanischen Regierung. Diese will aber auch nichts gewusst haben. Man sei kurzfristig informiert worden, dass Guzmán Lopez und «El Mayo» auf dem Weg in die USA seien. Der auf Drogenkriminalität spezialisierte Journalist Ioan Grillo berichtete jedoch, dass «El Mayo» in Mexiko unter Mithilfe von amerikanischen Agenten durch Guzmán López gekidnappt wurde.

Wer hat wen verraten?

Die Frage, was genau geschah, ist äusserst heikel. Mexiko hatte sich in der Vergangenheit erbost über Undercover-Aktionen der USA in Mexiko gezeigt. Der Verdacht, selber an diesen beteiligt zu sein, würde der mexikanischen Regierung innenpolitisch schaden. Im Sinaloa-Kartell drohen derweil interne Machtkämpfe um die Frage, wer wen verraten oder einen Deal mit den Amerikanern gemacht hat: der Chapo-Clan oder die «El-Mayo»-Fraktion.

Mexikos Sicherheitsministerin Rosa Icela Rodríguez erklärte Anfang August, es habe eine Abmachung zwischen dem ebenfalls in den USA inhaftierten Chapo-Sohn Ovidio und seinem Bruder Joaquín gegeben, sich zu stellen. Inwieweit «El Mayo» Teil des Deals war, liess sie offen. Der Anwalt der Chapo-Familie in den USA, Jeffrey Lichtman, widersprach: Joaquín Guzmán López habe weder eine Abmachung mit seinem inhaftierten Bruder noch mit der amerikanischen Justiz. Vor dieser erklärte Guzmán López, nicht in die Drogengeschäfte seiner Familie involviert zu sein. Auch habe er «El Mayo» nicht entführt.

Der amerikanische Sender CNN berichtete derweil, dass Guzmán Lopez seit Monaten mit Behörden verhandelt habe, um sich zu stellen. «El Mayo» sei Teil der Abmachung gewesen. Doch was heisst das genau? Der amerikanische Botschafter in Mexiko, Ken Salazar, erklärte am 9. August, dass sich Guzmán López freiwillig stellte, «El Mayo» jedoch nicht. Die USA seien nicht involviert in das Kidnapping gewesen. «Das war nicht unser Flugzeug, nicht unser Pilot, nicht unsere Leute.»

«El Mayo» spricht von Entführung

Am 10. August veröffentlichte «El Mayos» Anwalt ein Schreiben seines Klienten. Er wolle angesichts der Falschmeldungen die Fakten klarstellen: «Ich wurde entführt und gewaltsam und gegen meinen Willen in die USA gebracht.» Er habe mit niemandem einen Deal gemacht.

Joaquín Guzmán Lopez habe ihn eingeladen, am Morgen des 25. Juli den Gouverneur des Gliedstaates Sinaloa, Rubén Rocha Moya, und den ehemaligen Bürgermeister der regionalen Hauptstadt Culiacán, Héctor Melesio Cuén Ojeda, zu treffen, um zwischen den beiden politischen Widersachern zu schlichten. Am Treffpunkt hätten Cuén Ojeda sowie Guzmán Lopez ihn erwartet. Dieser habe ihn dann überwältigt, gefesselt und in das Flugzeug gesetzt, mit dem die beiden ohne Zwischenstopp nach Texas flogen.

«El Mayos» Version zeigt eine ungesunde Nähe des Drogenbarons zum politischen Establishment. Sie birgt zudem politischen Sprengstoff für Präsident Andrés Manuel López Obrador, als dessen enger politischer Wegbegleiter Gouverneur Rocha Moya seit den neunziger Jahren gilt. Zudem gab «El Mayo» an, dass einer seiner bei dem Kidnapping getöteten Leibwächter ein Polizeikommandant gewesen sei.

Doch am schwersten wiegt seine Behauptung, der ehemalige Bürgermeister Cuén Ojeda sei bei dem morgendlichen Treffen erschossen worden. Tatsächlich wurde seine Leiche am späten Abend in ein Krankenhaus eingeliefert. Laut der Staatsanwaltschaft sei Cuén Ojeda gegen 22 Uhr an einer Tankstelle erschossen worden, als man sein Auto klauen wollte. Ein Überwachungsvideo zeigt, wie zwei Vermummte die Tür des Wagens öffnen. Wer jedoch in dem Wagen sitzt, ist nicht zu erkennen. Die Autopsie ergab Zweifel an der Version der Behörden.

Revelan video del ataque contra Héctor Melesio Cuén

Gouverneur bestreitet Treffen mit «El Mayo»

Der Gouverneur Rocha Moya bestritt, von dem Treffen mit «El Mayo» und Cuén Ojeda gewusst oder daran teilgenommen zu haben. Er sei an jenem Morgen nach Los Angeles zu Verwandten geflogen. Ein der Presse zugespieltes Flugprotokoll soll seine Version stützen. Das Kleinflugzeug, mit dem er in die USA geflogen sein will, gehört einem Lokalpolitiker, gegen den bereits wegen Drogenhandels und Geldwäsche ermittelt wurde.

Die zukünftige Präsidentin Claudia Sheinbaum, die am 1. Oktober die Nachfolge von López Obrador antritt, verteidigte den Gouverneur. Weil dieser genau wie «El Chapo» in dem Dorf Badiraguato geboren sei, «stigmatisiere» man ihn als Kriminellen. Doch ihr Parteikollege sei ein ehrlicher Mensch.

Wie so oft, wenn es in Mexiko um die Verquickung von Kriminalität und Politik geht, ist alles umgeben von Mysterien und Intrigen. Vielleicht kommt im September Licht in den Fall, wenn «El Mayo» vor demselben Gericht in New York erwartet wird, von dem 2019 sein ehemaliger Kompagnon «El Chapo» zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

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