Dienstag, Oktober 8

Sich hohe Ziele zu setzen, bringt einen im Leben weiter. Aber was, wenn man nie zufrieden ist? Wann Perfektionismus zum Problem wird, was die Alarmzeichen sind und wie man lernt, gelassener zu werden.

Schlafen Sie schlecht? Das könnte daran liegen, dass Sie zu perfektionistisch sind. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Marburg. Denn Perfektionisten erleben offenbar zu viel Stress im Job und schlafen dann weniger und schlechter. «Es ist nichts dagegen einzuwenden, sich hohe Ziele zu stecken», sagt Melanie Wegerer, Psychotherapeutin in Wien. «Schädlich wird es, wenn Menschen auch dann noch an ihren hohen Standards festhalten, wenn bereits deutliche Nachteile für sie damit einhergehen.»

Perfektionisten setzen sich ausserordentlich hohe Leistungsvorgaben und streben danach, diese stets zu erfüllen und nur ja keinen Fehler zu machen. Sie sind sehr selbstkritisch und auch dann nicht mit sich zufrieden, wenn ihre Leistung spitzenmässig war. Zwar kann ein gewisses Mass an Perfektionismus einen dazu motivieren, etwas im Leben zu erreichen. Doch zu viel, beziehungsweise die «falsche» Form von Perfektionismus, wirkt sich negativ aus.

Die kanadischen Psychologen Paul Hewitt und Gordon Flett unterscheiden drei Formen dieses Gebarens: den selbstorientierten Perfektionismus («Ich muss perfekt sein»), den fremdorientierten («Meine Mitarbeiter / meine Kinder sollen perfekt sein») und den sozial vorgeschriebenen («Meine Chefin will, dass ich perfekt bin»). Die Schlafprobleme in der genannten Studie hatten vorwiegend Menschen, die ihren Vorgesetzten gefallen wollten.

«Aus der Sorge heraus, Fehler zu machen, schieben sie Aufgaben vor sich her», erklärt Kathleen Otto, Leiterin der Abteilung für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Marburg und eine der Studienautorinnen. «Dadurch erleben sie einen hohen Zeitdruck und haben Schwierigkeiten, nach der Arbeit mental abzuschalten. Aber genau das wäre wichtig für einen gesunden Schlaf.»

Perfektionisten fällt es zudem schwerer, mit Kollegen zusammenzuarbeiten – und sie sind öfter in Konflikte verwickelt. Das hat Folgen: Soll sich ein Team einen Kollegen aussuchen, wählt es als letzten jenen, der als perfektionistisch gilt.

Ungesunde Auswüchse früh erkennen

Perfektionismus kann sich aber nicht nur auf die eigene Karriere, ungünstig auswirken. So stellte Kathleen Otto jüngst in einer weiteren Studie fest, dass Führungskräfte, die glauben, perfekt sein zu müssen, weil es das Umfeld von ihnen fordert, oft Angst haben, zu versagen oder kritisiert zu werden. Sie delegieren deshalb gerne überflüssige oder ungeeignete Aufgaben an ihre Mitarbeiter. Diese müssen sich dann mit Dingen herumschlagen, die ihnen keine Befriedigung in der täglichen Arbeit verschaffen. Das kann Grund für eine Kündigung sein.

Chefs, die an sich selbst den Anspruch stellen, makellos zu sein, machen dagegen am liebsten alles allein. Doch wie will man als Untergebener jemals im Beruf wachsen machen, wenn man nicht lernt, Verantwortung zu übernehmen?

«Wird eine eigentlich positive Kompetenz – sich Ziele zu setzen – zu stark ausgelebt, kippt sie ins Negative», sagt Alexander Beck, Unternehmens- und Personalberater in Zug. «Firmen sollten Leistungsstreben und dessen negative Auswirkungen zum Thema machen, damit ungesunder Perfektionismus früh erkannt wird oder sich gar nicht erst entwickeln kann.»

Insbesondere der sozial vorgeschriebene Perfektionismus kann einen Menschen ständig unter Stress setzen und das Risiko für ein Burnout erhöhen. Betroffene leiden häufiger unter Depressionen, Ess- oder Angststörungen, Zwangserkrankungen und gar Selbstmordgedanken. Ausserdem haben sie Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen.

Thomas Curran, Professor für Psychologie in der London School of Economics and Political Science, hat festgestellt, dass junge Leute in den vergangenen Jahrzehnten immer perfektionistischer geworden sind. Dazu analysierte er die Daten von fast 42 000 College-Studenten aus den USA, Kanada und England. Die durchschnittlichen Werte auf Skalen, mit denen man Perfektionismus misst, waren von 1989 bis 2016 deutlich gestiegen.

Kürzlich hat Curran die Daten für sein gerade auf Deutsch erschienenes Buch «Nie gut genug. Die fatalen Folgen des Perfektionismus» aktualisiert. Laut diesem setzt sich der Trend bis heute fort. Der Personalberater Beck führt das auf die Anforderungen in unserer Gesellschaft zurück. «Junge Menschen am Anfang des Berufslebens müssen sich behaupten, positionieren und viel leisten, um anerkannt zu werden», sagt er. «Das steigert den Druck, perfekt sein zu müssen.»

Zu einem kleinen Teil bestimmen unsere Gene, ob wir perfektionistisch werden. Hinzu kommt unsere Erziehung und wie wir aufwachsen. Eine der gängigen Theorien lautet, dass sich Perfektionismus entwickelt, wenn ein Kind das Gefühl hat, nicht akzeptiert zu werden, nirgendwo dazuzugehören und nie die Erwartungen der anderen erfüllen zu können. Solche Gefühle können aufkommen, wenn die Eltern dem Kind nicht die Aufmerksamkeit schenken, die es brauchte, oder es andersherum übermässig fordern.

Vorzüge und Nachteile sorgfältig abwägen

Letzteres sieht Thomas Curran als einen der Hauptgründe für die Zunahme von Perfektionismus. Anhand der Daten von mehr als 31 000 Studenten aus den Jahren 1991 bis 2021 fand er heraus, dass Kinder eher perfektionistisch werden, wenn die Eltern extrem hohe Erwartungen an sie haben. Ausserdem wurden die Eltern über den analysierten Zeitraum hinweg immer kritischer und übten immer mehr Druck aus. Auch der britische Psychologe führt das auf gesellschaftliche Veränderungen zurück – mehr Wettbewerb in der schulischen Ausbildung, Konkurrenzdruck und «Helikopter-Eltern», die ihre Kinder ständig überwachen.

Doch woher weiss man, ob man sich bloss «normal» hohe Ziele setzt oder bereits krankhaft perfektionistisch ist? «Natürlich kann man das mit einer Fachperson besprechen, aber ich würde mir selbst erst einmal ein paar Fragen stellen», sagt die Psychotherapeutin Melanie Wegerer. Leide ich unter meinem Perfektionismus? Bin ich gezwungen, meine hohen Standards immer erfüllen zu müssen? Hat mir schon einmal jemand gesagt, meine Ziele seien extrem hoch? Welche Aufgabe hat mein Perfektionismus? Ist es die Angst vor Ablehnung? Der Wunsch nach Bewunderung? Die Sorge, Fehler zu machen?

«Wird einem klar, dass der Perfektionismus mehr Nachteile als Vorteile bringt, kann man sich kleine Ziele überlegen», sagt Wegerer. Zum Beispiel realistische Zeitlimits für bestimmte Aufgaben setzen, feste Pausenzeiten und Freizeit einplanen und überkritische oder selbstabwertende Gedanken bewusst stoppen und sich sagen: «Es ist okay, dass ich Grenzen habe.» Es sei aber nicht so einfach, seine Ansprüche herunterzuschrauben, sagt der Psychologe und Coach Hans-Georg Willmann.

Leide man unter seinem Perfektionismus, schaffe seine Ziele nicht mehr, sei ständig erschöpft, könne man nicht mehr schlafen, spüre körperliche Symptome wie Herzrasen oder habe der Perfektionismus schon Konsequenzen gehabt – etwa, dass der Partner sich scheiden lassen wolle –, rate er zu einem Besuch beim Psychiater oder Psychologen.

Professionelle Hilfe sollte man insbesondere dann zeitnah holen, wenn man zusätzlich Zeichen einer psychischen Krankheit bemerkt, also depressive Stimmung, häufige Angstgefühle oder ein verändertes Essverhalten. Gut nachgewiesen ist, dass sich Perfektionismus und begleitende psychische Probleme mit kognitiver Verhaltenstherapie bessern lassen. Während in einigen Fällen nur eine Psychotherapie hilft, können manche Menschen schon von Beratung via Internet oder wenigen Stunden Coaching in einer Gruppe profitieren.

So gut wie nicht untersucht ist hingegen, wie andere am besten mit Perfektionisten klarkommen – privat oder im Job. «Frühes Feedback geben und die überhöhten Ansprüche thematisieren, bevor sich der Perfektionist im Team oder in der Familie in eine Sache verbohrt und anfängt zu nerven», rät Willmann. «Und wenn sich nichts verändert: Lernen, Nein zu sagen.» Will heissen: Die hohen Standards nicht auf sich übertragen. Auf jeden Fall solle man Geduld und Verständnis mit den Betroffenen haben. «Sie können nicht einfach mal fünf gerade sein lassen. Dabei gehört genau das zu einem glücklichen Leben: Gut ist besser als perfekt.»

Ein Artikel aus der «»

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