Donnerstag, Oktober 10


Kontroverser Trend

Beim Anblick der gegenwärtigen Laufstege fühlt man sich ins 16. Jahrhundert zurückversetzt: Strickpullover, Trenchcoats und Lederjacken kommen alle mit Statement-Kragen daher. Aber natürlich ist dieses Mal (fast) alles anders.

Als die Designerin Phoebe Philo, Hohepriesterin des guten Geschmacks, Anfang März die zweite Kollektion ihres gleichnamigen Modelabels lancierte, erregte ein Kleidungsstück besonders viel Aufmerksamkeit: eine Art seidener Schlauch, sein Inneres mit weichen Daunen gepolstert. Er sitzt auf den Schultern der Trägerin und reicht bis zu ihrer Nasenspitze. «Pillow Scarf» heisst das Ding, und es kostet fast 1500 Franken.

Der «Telegraph» nannte es in einem Artikel ein «überteuertes Reisekissen»; in den Kommentaren fiel das Wort «Airbag». Auf X wurde das Accessoire mit den medizinischen Halskrausen verglichen, die bei einem Schleudertrauma verschrieben werden. Gewiss, es ist ein ungewohnter Anblick.

Die crèmeweisse Version des Schlauchschals macht das Tragen von Make-up beinahe unmöglich, will man das Innere nicht innert Sekunden beschmutzen. Auch das Styling könnte eine Herausforderung werden. Und wie soll man damit die Gesichtserkennungssoftware auf dem iPhone nutzen können?

Scheuklappen und Rebellion

Doch die «Pillow Scarf» ist nur das extremste Beispiel von vielen Kleidungsstücken, die den Hals derzeit grosszügig ummanteln. In der Herbstkollektion 2024 des französischen Modelabels Courrèges reichten die breiten Kragen von Trenchcoats bis zu den Nasen der Models, die Haare trugen sie darin eingesteckt.

Auch beim Label Plan C bedeckten breite, steife Stehkragen den Hals. Bei Victoria Beckham begann die Show mit tiefen V-Ausschnitten, die bald von hohen und dann noch höheren Kragen verdrängt wurden. Trenchcoats und Lederjacken streiften den Hinterkopf und bildeten so etwas wie einen Trichter, der kaum etwas vom Gesicht entblösste.

Gleiches galt für die Debütkollektion des Designers Seán McGirr bei Alexander McQueen. Ein crèmefarbener Strickpullover bestand zu einem grossen Teil aus einem gigantischen Kragen, der den Hals des Models wie ein Autopneu umgab. Ein anderes Model trug ein steifes, mit Kunstpelz bedecktes Oberteil, das ab der Taille wie ein Panzer gerade nach oben verlief und fast die Nasenspitze erreichte.

McGirr sprach vom «rauen Glamour» des Londoner East End, der ihn inspiriert habe, und von Höflichkeitsverweigerung in einer «sehr einheitlichen Zeit». Kragen, wie er sie zeigte, können tatsächlich dazu beitragen: Schliesslich gilt es in westlichen Kulturen als unhöflich, seinen Mund nicht zu zeigen und beim Sprechen zu nuscheln.

Auch bei Rick Owens ging es um Rebellion. Dicke Stoffbahnen umgaben die Hälse und Schultern seiner Models, die auf hohen Hacken den Laufsteg beschritten. «Ich biete andere Möglichkeiten als die engen, strengen, fast schon grausamen ästhetischen Standards, mit denen wir jeden Tag bombardiert werden», sagte Owens über die Kollektion. Der Kragen als Teil einer Kampfzone.

Kragen als Aussage und Versteck

Neu ist das nicht. Ob die 2o20 verstorbene Ruth Bader Ginsburg, Richterin am obersten amerikanischen Gerichtshof, ein Urteil guthiess oder ihm widersprach, konnte man häufig auch an ihrem sorgfältig ausgewählten Kragen ablesen – gelb und pink gehäkelt bedeutete Zustimmung, Schwarz mit Strasssteinen kam zum Einsatz, wenn sie nicht einverstanden war. Mit der Zeit wurde das so sehr zum Symbol der RBG, dass ein Werbeposter für den Dokumentarfilm über sie 2018 neben dem Titel schlicht eine Illustration ihres Kragens zeigte. 2022 wurde eines ihrer Exemplare aus Glasperlen für über 160 000 Franken versteigert.

Auch die weissen, exzessiv gestärkten Exemplare des Designers Karl Lagerfeld wurden zusammen mit seinem Pferdeschwanz und seiner Sonnenbrille zu einer Art Avatar. Oft seien die Kragen breit wie eine Halskrause gewesen, schrieb die Autorin Robin Givhan einmal, sie liessen «seinen Kopf wie ein gekochtes Ei aussehen, das auf einer Porzellantasse balancierte». Manche spekulierten, er habe sie nach seinem dramatischen Gewichtsverlust getragen, um überschüssige Haut am Hals zu kaschieren.

Sich für eine Halskrause verschulden

Die Kragen aus den neuen Modekollektionen könnten in ihren geschichtlichen Referenzen aber noch weiter zurückreichen: Sie erinnern auch an die Halskrausen, die im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts umherschwirrten. Dank Metallgerüsten, Nadeln und reichlich Stärke ragten die Accessoires aus Leinen oder Spitze (wegen ihrer Form auch Mühlsteinkragen genannt) weit von den Hälsen adeliger Spanierinnen und reicher Holländer.

In Porträts der englischen Queen Elizabeth I. umrahmen sogenannte «ruffs» ihr Antlitz wie besonders prächtige Heiligenscheine. Ein solcher Kragen verlangte nach einer aufrechten Haltung, war waschbar und schützte die Kleidung darunter vor Klecksen und Haarpuder. (Apropos: Auch Karl Lagerfeld puderte seine Haare.)

Früher galt: Je breiter und aufwendiger die Halskrause, desto wichtiger und reicher die Trägerin oder der Träger. Damit wurde sie zu einem Zeichen des sozialen Aufstiegs, das man sich im Gegensatz zu einem Adelstitel kaufen konnte. Der englische Puritaner Philip Stubbes lamentierte 1583 in einem passionierten Text, dass manche Bürger gar ihr Land verkauften oder verpfändeten, um sich edle «ruffs» leisten zu können. Als Vergleich: Für die «Pillow Scarf» von Phoebe Philo würde der Verkauf eines mittelpreisigen Sofas ausreichen.

Doch bald verbot Queen Elizabeth I. ihren Untertanen das Tragen von «ruffs», zumindest der doppelschichtigen, die damals en vogue waren. Auch Schüler sollten «ihre Halskrausen und andere ungebührliche Exzesse zügeln», schrieb ein Statut vor. Die herrschende Klasse wollte sich die Möglichkeit sichern, sich visuell abzuheben.

Den Kopf in den Sand stecken

Diente die Halskrause des 16. Jahrhunderts noch zur feierlichen Zurschaustellung des Kopfs – quasi auf dem Silbertablett aus gestärkter Spitze –, erlaubt es jene des 21. Jahrhunderts, sich je nach Bedarf und Stimmung schildkrötenartig darin zu verstecken. Sie ist zwar grandios, bietet aber vor allem Unterschlupf: Statt in den Sand, steckt man seinen Kopf jetzt eben in den Kragen.

Dieser dient einer ähnlichen Funktion wie schon die fluffige Daunenjacke: Wenn man die Welt schon nicht in Watte packen kann, dann wenigstens einen Teil seines Körpers.

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