Freitag, Oktober 11

Die Armee hat die Einführung des neuen Systems zur Luftraumüberwachung suspendiert. Diese Denkpause ist kein Debakel, sondern Ausdruck eines Kulturwandels.

Wer einen Krieg gewinnen will, muss nicht unbedingt stärker, sondern schneller als der Gegner sein. Je kürzer der Zeitraum zwischen der Erfassung einer Bedrohung und der Wirkung im Ziel, desto grösser der Vorteil im Gefecht. Die Ukraine kann den Feuerwalzen Russlands unter anderem deshalb standhalten, weil die Kommandanten dank modernster Technologie rascher und direkter führen können.

Deshalb setzt auch die Schweizer Armee auf eine radikale Digitalisierung der sogenannten Kill-Chain – oder etwas umständlicher: des Sensor-Nachrichten-Führungs-Wirkungsverbunds, wie der Prozess in der schweizerischen Terminologie genannt wird. Ein zentraler Schritt ist die Integration der Luftraumüberwachung und der Einsatzführung der Luftwaffe (C2Air) in die neue Digitalisierungsplattform der Armee (NDP).

Doch das Projekt ist gegenwärtig suspendiert, wie Radio SRF am Donnerstag berichtete. Die Risiken dabei, das Führungssystem Skyview des französischen Herstellers Thales mit der eigenständigen Schweizer Systemumgebung zu verbinden, seien höher beurteilt worden als bisher angenommen, bestätigte die Armee die neueste Indiskretion aus den eigenen Reihen.

Die Herausforderung war bereits bei der Beschaffung bekannt

Das Parlament hatte die Beschaffung von Skyview bereits 2020 beschlossen und dafür einen Verpflichtungskredit von 151 Millionen Franken bewilligt. Das Verteidigungsdepartement (VBS) wies darauf hin, dass die Einführung bei laufendem Betrieb für die Armee und den Hersteller eine grosse Herausforderung sei: «Verzögerungen oder Anpassungen der Software könnten zu Mehrkosten führen», hielt das VBS damals in der Risikobeurteilung fest.

Die Einführung von Skyview war für die Zeit ab Mitte der 2020er Jahre vorgesehen. Zu den Anforderungen gehörte, auch das neue Kampfflugzeug und das System zur bodengestützten Luftverteidigung in den Systemverbund zu integrieren. Mit anderen Worten: Skyview, der F-35 und Patriot müssen zusammen funktionieren. 2020 war allerdings noch nicht klar, ob das neue Führungssystem bereits von Anfang an über die neuen Rechenzentren der Armee laufen könnte.

2021, ein Jahr nach der Skyview-Beschaffung, bewilligte das Parlament einen Ausbau dieser Zentren. Für insgesamt 79 Millionen Franken wurde unter anderem die Rechenleistung erhöht, damit auch Applikationen wie Skyview im neuen digitalen Umfeld der Armee betrieben werden können. Das System setzt sich unter anderem aus den Rechenzentren, einem sicheren Datennetz und der neuen Digitalisierungsplattform, dem eigentlichen Nervenzentrum, zusammen.

Doch die zusätzliche Ausstattung der militärischen Rechenzentren reichte offensichtlich nicht: Skyview hätte die Daten zur Luftlage trotz Upgrade noch immer nicht in Echtzeit abbilden können. Deshalb muss das VBS mit dem Rüstungsprogramm 2023 beim Parlament einen Nachtragskredit von 61 Millionen Franken beantragen. Das Problem ist also seit längerem bekannt, aber trotz mehr Geld noch immer nicht gelöst.

Luftwaffe hätte am liebsten ein eigenes Rechenzentrum

Anfang dieses Jahres hat nun die Armee das Gesamtprojekt «Air 2030» von der Beschaffungsbehörde Armasuisse übernommen und damit alles, was zur Erneuerung der Luftverteidigung gehört: die Einführung von F-35, Patriot und Skyview. Dafür setzte der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, einen neuen Projektleiter ein, der zuvor bei Armasuisse die Kampfjetbeschaffung betreut hatte.

Der neue Verantwortliche setzte gleich einen Kulturwandel bei der Risikobeurteilung durch: Probleme sollen nun frühzeitig und vollständig auf den Tisch gelegt werden – auch im Wissen darum, dass Bundesrätin Viola Amherd, die VBS-Chefin, einen weiteren Zusatzkredit in Zusammenhang mit Skyview unbedingt verhindern will. Statt einfach weiterzudoktern, verlangte der Projektleiter eine Denkpause – und suspendierte das Projekt.

Am 10. September wurden erste Varianten präsentiert, um das Projekt vom Status «suspend» auf «modify» zu wechseln. Doch im Sinne einer offeneren Kultur wurden zusätzliche Risiken benannt – insbesondere bei den Abhängigkeiten zwischen der NDP, die von der Swisscom und dem Kommando Cyber aufgebaut wird, und der Thales-Applikation Skyview. Die Varianten wurden auf eine Hauptstossrichtung reduziert, das Projekt bleibt aber vorerst auf «suspend».

Thales und Swisscom können weiterhin an ihren Teilprojekten weiterarbeiten, das Hauptprojekt selbst soll aber erst weitergehen, wenn die offenen Fragen geklärt sind. Hinter den Kulissen setzte allerdings eine operative Hektik ein. Insbesondere die Luftwaffe scheint mit dem weiteren Vorgehen nicht glücklich zu sein. Als Systembetreiberin hätte sie dem Vernehmen nach ohnehin lieber gleich ein eigenes Rechenzentrum gehabt.

Der Preis einer souveränen Lösung

Tatsächlich führt die Luftwaffe bis heute ein Eigenleben innerhalb der Armee. Ein bedeutender Teil ist professionalisiert und auf das Tagesgeschäft ausgerichtet: den Luftpolizeidienst mit den F/A-18 oder den Lufttransport mit den Helikoptern. Daran hat auch die Integration ins Kommando Operationen nichts geändert. Wie das Heer ist die Luftwaffe in der Hierarchie weiter nach unten gerutscht, hat aber ihr Selbstverständnis als Teilstreitkraft noch immer nicht ganz abgelegt.

Mit dem Wiederaufbau der Verteidigungsfähigkeit ist nun aber eine definitive Integration aller Teile der Armee zu einem Gesamtsystem zwingend – unter anderem, um eine durchgehende Kill-Chain sicherzustellen. Insbesondere mit der Einführung des F-35 werden der Kampf am Boden und jener an der Luft näher aneinander herangeführt. Artilleriefeuer könnte neu direkt aus dem Cockpit ausgelöst werden.

Das Ziel wäre ein durchgehender Datenfluss mit dem neuen Kampfflugzeug als wichtige Drehscheibe. Doch dafür muss sich die Schweizer Armee vom Denken in Drehstuhllösungen, wie sie heute praktiziert werden, vollständig verabschieden. Das Gefecht am Boden, in der Luft, auf taktischer und operativer Stufe wird bis zur Einführung der NDP und ihrer Applikationen auf unterschiedlichen Systemen geführt.

Ein Grund für die komplexe Digitalisierung ist der Anspruch, die NDP als Herzstück selbständig in der Schweiz zu konstruieren. Das ist der Preis der Souveränität, um bei zunehmenden Spannungen wenigstens bei der Führung die Abhängigkeiten vom Ausland zu reduzieren. In anderen Bereichen werden sogenannte Helvetisierungen tunlichst vermieden, um auf den Erfahrungen anderer Kunden aufzubauen.

Keine Mehrkosten, aber weitere Verzögerungen

Gewichtige Mitglieder der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats haben irritiert auf die Unsicherheiten beim Skyview-Projekt reagiert. Die Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth regt eine bessere parlamentarische Aufsicht über Projekte dieser Grössenordnung an.

Die Armee will Ende Jahr entscheiden, wie es mit der Einführung von Skyview weitergehen soll. Weitere Verzögerungen sind möglich, Mehrkosten dürften verhindert werden. Im schlimmsten Fall muss die Luftwaffe bis 2030 mit dem alten Führungs- und Überwachungssystem fliegen. Ausfälle sind zwar theoretisch möglich, aber wenig wahrscheinlich. Die beschleunigte Kill-Chain wird aber auf sich warten lassen.

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