Dienstag, Oktober 1

Täterinnen sind meist Frauen. Zu Strafanzeigen kommt es kaum – aus kultureller Rücksicht.

Mit der Zuwanderung kommt auch die archaische Praxis der Genitalverstümmelung in die Schweiz. Jungen Mädchen wird von sogenannten Beschneiderinnen mit einer Rasierklinge oder einem anderen Gerät die Klitoris entfernt. Teilweise werden auch die inneren und äusseren Labien weggeschnitten. Bei der schwersten Form näht man ihnen zusätzlich die Vagina zu und lässt nur ein winziges Loch, so dass Urin und Menstruationsblut tröpfchenweise abfliessen können. Ein normales Sexualleben ist danach nicht mehr möglich, was wohl das Hauptziel dieser Praxis ist, die nicht nur in Afrika bekannt ist.

Opfer suchen Schweizer Arztpraxen auf

Befragungen des Hilfswerks Unicef legen nahe, dass viele Schweizer Ärztinnen und Ärzte solche Verstümmelungen in ihren Praxen sehen. Im Jahr 2012 gaben 40 Prozent des befragten medizinischen Personals an, schon in Kontakt mit beschnittenen Mädchen oder Frauen gekommen zu sein. Die Opfer stammen in der Regel aus Subsahara-Afrika, beispielsweise aus Somalia, Äthiopien oder dem Sudan. Oft haben sie lebenslang Schmerzen, die nur durch eine Operation behoben werden können. Wo diese Beschneidungen erfolgt sind – im Heimatland, im benachbarten Ausland oder in der Schweiz –, bleibt meist unklar. Verboten ist die Praxis mittlerweile fast überall.

Vor zwölf Jahren ist in der Schweiz ein vergleichsweise scharfes Gesetz gegen Genitalverstümmelung in Kraft getreten. Auch wenn die Tat im Ausland begangen wird, kann die Täterschaft mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Gemäss Artikel 124 des Strafgesetzbuches droht Eltern oder Verwandten dieselbe Strafe, wenn sie die Tat veranlasst oder ihr zugestimmt haben. Das erklärte Ziel war: Abschreckung. Strafbar gewesen waren die Verstümmelungen schon zuvor, aber es hatte bloss zwei Verurteilungen gegeben. Man hoffte, dass sich dies ändern würde.

Scharfes Gesetz – kaum Strafverfolgung

Doch auch der neue Gesetzesartikel ist ein Papiertiger geblieben, obwohl die Verjährungsfrist auf 15 Jahre angehoben wurde und die Tat bei minderjährigen Opfern erst im Alter von 25 Jahren verjährt. Zudem ist die Genitalverstümmelung nun ein Offizialdelikt, das von Amtes wegen verfolgt werden muss. Das Gesetz ist seit 2012 in Kraft. Aber seither kam es schweizweit bloss noch zu einer einzigen Verurteilung im Kanton Neuenburg. Ein Mann zeigte seine Ehefrau an, weil sie die gemeinsame Tochter hatte verstümmeln lassen. Die Mutter wurde zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Simone Giger ist Projektverantwortliche beim Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz, das Prävention leistet und Fachpersonen und Betroffene berät. Der Name der Organisation ist allerdings ein Euphemismus. Er beschönigt eine brutale und strafbare Verstümmelung, doch er ist bewusst gewählt. Giger sagt, man verwende einen «neutralen Ausdruck», um Betroffene und ihre Gemeinschaften nicht zu stigmatisieren.

Sie sieht den weiten Geltungsbereich des Strafartikels gegen Genitalverstümmelung kritisch. Die Verurteilung im Neuenburger Fall, die mittlerweile vom Bundesgericht bestätigt wurde, habe eine Frau betroffen, die zum Zeitpunkt der Beschneidung noch nicht gewusst habe, dass sie in die Schweiz migrieren würde. Sie sei Analphabetin gewesen und habe die Beschneidung ihrer Töchter in Somalia unter grossem gesellschaftlichem Druck machen lassen. Der Schuldspruch habe in der somalischen Gemeinschaft der Schweiz für grosse Verunsicherung gesorgt, was die Präventionsarbeit erschwere. Man dürfe nicht eine ganze Bevölkerungsgruppe kriminalisieren, findet die Fachfrau. Auch eine generelle Meldepflicht gegenüber der Kinderschutzbehörde sieht sie kritisch.

Mehr Strafurteile wünscht sich hingegen Natalie Rickli. «Ich würde es begrüssen, wenn diese Straftaten härter geahndet würden, zumal es sich um ein Offizialdelikt handelt», sagt die Zürcher Gesundheitsdirektorin. Die SVP-Politikerin hatte das Tabuthema schon vor Jahren im Nationalrat aufgebracht und hat kürzlich im Kanton Zürich eine Anlaufstelle für Betroffene eröffnet.

An solchen Anlaufstellen fehlt es nicht. Mittlerweile gibt es in den meisten Kantonen Angebote. Doch ihre Wirkung ist bescheiden. Die Anzahl Betroffener und Gefährdeter in der Schweiz hat sich in den letzten Jahren erhöht. Die Zahl wurde vom Bundesamt für Gesundheit mehrfach nach oben korrigiert auf gegenwärtig 24 600 Personen. Ein Grund ist die anhaltende Zuwanderung aus Ländern, in denen solche Verstümmelungen üblich sind. Auch Jahre nach der Einwanderung in die Schweiz scheinen Mütter oder Grossmütter in manchen Gemeinschaften die blutige Tradition an ihre weiblichen Nachfahren weiterzugeben.

Sara Aduse gibt diesem schwierigen Thema in der Schweiz ein Gesicht. Die gebürtige Äthiopierin spricht perfekt Schweizerdeutsch. In ihrem Buch «Ich, die Kämpferin» und ihrem Film «Do You Remember Me?» erzählte sie, wie sie als Kind verstümmelt worden ist. Heute bekämpft sie die Praxis in Afrika und in der Schweiz mit ihrer eigenen Stiftung.

Betroffene werden kaum erreicht

Aduse wundert sich nicht, dass die Präventionsbemühungen in der Schweiz wenig Wirkung zeigen. «Es gibt zwar grosse Organisationen mit grossen finanziellen Mitteln, aber die Zusammenarbeit mit Betroffenen müsste dringend ausgebaut werden», sagt sie. Eine Somalierin oder eine Äthiopierin werde sich aus kulturellen Gründen mit einem derart tabuisierten Thema kaum einer Schweizer Sozialarbeiterin anvertrauen. Von den 130 Anfragen, die das Schweizer Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung im Jahr 2023 erreichten, kamen denn auch die meisten von Fachpersonen. So steht es im Jahresbericht.

An Aduse selbst wenden sich viele Betroffene, weil sie auf Social Media sehr aktiv ist. So weiss sie, dass es in Genf eine grosse somalische Gemeinschaft gibt, die jeweils Beschneiderinnen aus England kommen lässt. Sie spricht von Genitalverstümmelung. Das sei nicht diskriminierend, sondern eine Tatsache. Eine härtere Strafverfolgung hält sie aber nicht für zielführend, dann würden sich die Betroffenen mit ihren Beschwerden nicht mehr zum Arzt getrauen. Aber eine Meldepflicht gegenüber der Kinderschutzbehörde würde sie begrüssen.

Aduse hält manchmal Vorträge an Ärztekongressen. Kürzlich habe ihr eine Ärztin erzählt, dass ihr Eltern verboten hätten, die Windel ihres Kindes zu öffnen. Offensichtlich wussten sie, dass das, was sie getan hatten, strafbar ist. Die Ärztin habe den Fall nicht gemeldet. Dies, obwohl die ärztliche Schweigepflicht im Fall von strafbaren Handlungen an Kindern aufgehoben ist.

Frankreich und England kennen Anzeigepflicht

Weniger zögerlich als in der Schweiz wird das Thema in Frankreich angegangen. Dort wurden gemäss einem Bundesratsbericht zwischen 1979 und 2015 über vierzig Strafverfahren geführt und etwa dreissig Urteile gefällt. Die Medien berichteten jeweils intensiv darüber. In der Folge hätten französische Krankenhäuser bei weiblichen Babys mit afrikanischem Migrationshintergrund einen Rückgang der Verstümmelungen verzeichnet, schreibt der Bundesrat. Frankreich lancierte allerdings auch umfassende Gesundheits- und Erziehungskampagnen und kennt obligatorische Vorsorgeuntersuchungen für Kinder unter sechs Jahren. Medizinische Fachpersonen sind zudem verpflichtet, Genitalverstümmelungen der Staatsanwaltschaft zu melden.

Auch in Grossbritannien ist vorgeschrieben, dass Lehrpersonen, Sozialarbeiterinnen und medizinische Fachpersonen Genitalverstümmelungen bei der Polizei anzeigen müssen.

Die Schweiz stattet somalische und andere afrikanische Familien neuerdings mit einem Schutzbrief aus. Darin bestätigt der Bundesrat in allerlei Sprachen, dass weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz strafbar ist. Man hofft, die Verwandten in Somalia würden Einsicht zeigen und die Rasierklingen wieder wegräumen.

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