Donnerstag, Oktober 3

In der alten senegalesischen Kolonialstadt Saint-Louis kennt jeder Personen, die im Meer das Leben verloren haben. Dennoch mögen die Leute nicht mehr auf eine bessere Zukunft in Afrika warten.

Vor einigen Monaten stellten die Kinder von Moussa Diagne ihren Vater zur Rede. Sie sagten: «Vater, hör zu, wir wissen, du willst uns ein besseres Leben ermöglichen. Aber wir können nicht glücklich sein, wenn du im Meer stirbst. Wir sind glücklich, wenn wir dich bei uns haben.» So erzählt er es und sagt, an jenem Tag habe er geweint.

Diagne hat fünf Kinder, das älteste ist knapp volljährig, das jüngste erst sechs. Sie wollten verhindern, dass er ein weiteres Mal die Fahrt nach Europa wagt. Aus Senegal auf die Kanarischen Inseln sind es mehr als tausend Kilometer auf einer der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Ihr Vater hat es viermal vergeblich versucht.

Moussa Diagne ist einer von Tausenden in der ehemaligen Kolonialhauptstadt Saint-Louis, die aufbrechen Richtung Norden. Mehr als 26 000 Migranten sind dieses Jahr schon auf den Kanarischen Inseln gelandet, mehr als doppelt so viele wie zum selben Zeitpunkt des Vorjahres. Fast 5000 Menschen sind laut Schätzungen allein in den ersten fünf Monaten des Jahres bei der Überfahrt gestorben. Viele von ihnen kamen aus Saint-Louis.

Dabei sollte es anders kommen. Vor einem Jahrzehnt fanden australische und amerikanische Energiekonzerne Erdgas und Erdöl vor Senegals Küste. Es hiess, die Rohstoffe würden dem Staat Milliardeneinnahmen bringen und das Land aus der Armut hieven. Eines der grössten Felder liegt im Meer vor Saint-Louis. Steht man am Strand, sieht man in zehn Kilometern Entfernung die Plattform, auf der das aus dem Meeresgrund geholte Erdgas umgepumpt und meist nach Europa verschifft werden soll. Nachts blinken die Lichter der Plattform wie zur Verheissung.

Doch statt da draussen ihre Zukunft zu sehen, wagen sich Tausende auf die Flucht in die Wellen, unter denen das Erdgas liegt – weil sie nicht glauben, dass die Zukunft so bald in Westafrika ankommt.

In Saint-Louis läuft irgendetwas schief.

1. Die Familie Diagne

In der senegalesischen Stadt, der die Zukunft versprochen wurde, gibt es viel Vergangenheit. Französische Kolonialgouverneure residierten einst in Saint-Louis, sie liessen Sklaven, Gummi und Gold verschiffen. Als die Franzosen abzogen, liessen sie in Saint-Louis Strassen zurück, die nach ihren Nationalhelden benannt waren, und hübsch verschnörkelte Gebäude, die vor sich hin bröckeln. Saint-Louis sieht aus wie Havanna oder New Orleans, eine Viertelmillion Menschen leben hier.

Auf einer Halbinsel vor dem Stadtzentrum liegt das Quartier der Fischer. Alles hier ist Fischerei: die bunt bemalten Pirogen, die im Wasser schaukeln; die riesigen Netze, die Fischer in Ölkleidern von den Booten ziehen; die kreischenden Fräsen, mit denen am Ufer Boote repariert werden.

«Ich war Fischer, bevor ich geboren wurde», sagt Moussa Diagne. Er sagt es ohne Pathos, denn so ist es einfach in Saint-Louis. Diagne sitzt im Hof des Familiensitzes, gleich neben dem Pier, an dem die Fischerboote landen. Kleinkinder stolpern zwischen Leinen voller Wäsche umher. Mehr als zwanzig Leute leben hier, drei Generationen von Diagnes. Moussa Diagne hat sieben jüngere Geschwister. Alle sind entweder Fischer oder haben mit der Fischerei zu tun.

Moussa Diagne ist nicht zur Schule gegangen. Mit dem Grossvater fuhr er von klein auf aufs Meer, zur nahen mauretanischen Grenze, wo die Fische zahlreich waren. Ein Onkel brachte ihm bei, wie er sich nachts an Mond und Sternen orientieren kann, so dass er heute noch kein GPS braucht.

Was Diagne gelernt hat, gibt er an seine Kinder weiter. Er sagt: «Alles, was wir tun, alles, was wir kennen, ist fischen. Ich verdiente nicht viel, aber ich war unabhängig und konnte meine Familie ernähren.»

Doch die Zeiten ändern sich. Die Fische sind rar geworden. Und Moussa Diagne hat kein Boot mehr. Er verdient sein Geld nun damit, die Boote anderer zu flicken. Er ist Tagelöhner geworden.

Kein Fisch mehr

Die Fischer von Saint-Louis haben mehrere Feinde, die ihre Existenz bedrohen.

Da sind grosse Fischerboote vor der Küste, aus China, Europa, Russland, sie können über hundertmal so viel Fisch fangen wie die senegalesischen Boote. Manche tun das illegal, manche haben Abkommen mit Senegals Regierung. Viele Experten sagen, dass das Land von internationalen Fischkonzernen nur ungenügend entschädigt werde.

Da sind steigende Lebenskosten. Und da ist der Klimawandel. Der Meeresspiegel ist gestiegen vor Saint-Louis, manche Fischer mussten ihre Häuser verlassen, weil sie ins Wasser zu brechen drohen. Die Fischer von Saint-Louis rücken auf der Landzunge wie Schiffbrüchige zusammen. 600 000 Menschen in Senegal, einem Land mit 18 Millionen Einwohnern, hängen von der Fischerei ab. Die Zukunft ihres Metiers war nie ungewisser.

Den Niedergang sieht man auch am Arbeitsplatz von Fatou Diagne, der Mutter von Moussa und Matriarchin der Familie. Sie nennen sie die «Präsidentin», weil sie die Vereinigung der Frauen leitet, die den Fisch verarbeiten. Sie wird 70 in diesem Jahr, bis vor kurzem arbeitete sie meist bis nach Mitternacht. Erst dann war die Arbeit getan.

An diesem Nachmittag sitzt Fatou Diagne zwischen Bottichen, in denen Fisch liegt, den sie am Vortag Fischern abgekauft hat. Heute hat sie keinen gefunden. Sie wetzt ein blutverschmiertes Messer, greift sich ein paar Fische, trennt die Köpfe ab, wirft sie in den nächsten Bottich. Es wirkt fast trotzig. Diagne sagt: «Es gibt kaum noch Fisch.» Vielen Leuten sei das Geschäft weggebrochen.

Um Fatou Diagne stehen Reihen leerer Stände, in denen Frauen einst dieselbe Arbeit verrichteten wie sie. Nun zerfällt alles. Fischköpfe verfaulen in der Sonne. Das Meer rauscht.

2. Das Erdgas

Wenn Fatou Diagne ein paar Schritte an den Strand geht, sieht sie dort die Verheissung: die Plattform.

Das Erdgas sollte die Wende bringen, nicht nur für die Fischer in Saint-Louis, sondern auch für Senegal, eine einstige Vorzeigekolonie, aber bis dahin ohne viele Ressourcen. 2015 wurde es entdeckt, mehrere riesige Felder vor der Küste. Internationale Konzerne installierten sich, Kosmos Energy aus den USA, British Petroleum (BP), sie spannten zusammen mit der staatlichen senegalesischen Erdöl- und Gasfirma Petrosen.

Als der Ukraine-Krieg 2022 begann, wurden die senegalesischen Erdgasfelder noch attraktiver. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz reiste an und sagte, es ergebe Sinn, eine Kooperation «intensiv zu verfolgen». Politiker aus Frankreich, Italien, Portugal, Polen kamen – Europa suchte nach Erdgas, das es aus der Abhängigkeit von Russland befreien würde.

Mehr als eine Milliarde Euro, hiess es, würde das Erdgas Senegal pro Jahr einbringen. Tausende von Arbeitsplätzen würden geschaffen, gerade auch in Saint-Louis. BP sprach in Werbeunterlagen von der «neuen Energiezentrale in Afrika», von Wohlstand und Entwicklung. Man wolle mehrere Milliarden Euro investieren.

Als Zeichen der Aufmerksamkeit finanzierte BP eine neue Geburtenabteilung im lokalen Spital. Der Frauenvereinigung von Fatou Diagne bezahlte BP neue Plastikkanister und Möbel für ihren Versammlungsraum. Mehrere hundert Fischer erhielten eine Schulung, unter ihnen Moussa Diagne. Er musste vorführen, wie er ein Boot lenkt. Die Leute von BP sagten ihm, vielleicht könne er für sie als Kapitän arbeiten. Oder als Taucher. Es gab ein Zertifikat.

Die Plattform

Doch sie warten noch immer auf das Erdgas in Saint-Louis. Erst sollte die Förderung 2022 beginnen. Dann 2023. Dann Anfang 2024. Gerade heisst es: Ende 2024. Die Arbeiten auf dem Meeresgrund erwiesen sich als komplizierter als angenommen, die Kosten für das Projekt explodierten – auf angeblich fast das Dreifache der ursprünglich budgetierten 3,6 Milliarden Euro.

Zwar blinken in Saint-Louis die Lichter der Plattform nachts noch immer, doch es ist still geworden um das Erdgas. Die Firmen haben keine Büros hier. Auf Interviewanfragen reagieren sie nicht. Und die Fischer sagen, sie wüssten nicht, was eigentlich vor sich gehe.

Aber die Fischer sagen nicht nur, das Erdgas bringe keinen Nutzen. Sie sagen: Was da sei, das schade. Moussa Diagne demonstriert es an einem Morgen. Er steht im Bug einer Piroge, die sich durch die Wellen in Richtung Plattform kämpft. Dann stoppt er. «Früher kamen wir hierher, fischten ein, zwei Stunden, hatten einen guten Fang», sagt er. «Nun verjagt uns die Marine.»

Die Plattform wurde in einen der besten Fischgründe der Gegend gerammt. Die Fischer dürfen sich ihr nur bis auf einen halben Kilometer nähern, danach ist Sperrzone. Die Marine kreuzt in der Distanz. Dringen Fischerboote zu weit vor, werden sie hinauseskortiert. Diagne sagt: «Ich wünschte, diese Plattform würde verschwinden.»

Es sind nicht nur die Fischer, die sagen, die Plattform stehe auf einem Riff, das grosse Fischschwärme anziehe. Die städtischen Behörden, die weiter auf das Erdgas hoffen, sagen dasselbe. Auch ein Senegalese aus der Hauptstadt Dakar, der für eine spanische Zulieferfirma auf der Plattform arbeitet, sagt: «Es hat viele Fische unter der Plattform.» Vielleicht würden sie vom künstlichen Licht angelockt.

Der Senegalese wohnt mit anderen, mehrheitlich ausländischen Arbeitern in einem Hotel nahe dem Strand. Er ist einer der wenigen, denen das Erdgas bisher Arbeit verschafft hat. Er sagt: «Das Gas bringt dem Land mehr als die Fische.»

Die Fischer von Saint-Louis haben Zweifel. Und weil sich beim Erdgas nichts tut und die Fische weniger werden, brechen sie auf in Richtung Europa.

3. Die Reise

In fast jeder Familie in Saint-Louis haben Leute die Fahrt über das Meer in Richtung Europa versucht. Jeder in Saint-Louis kennt Personen, die gestorben sind. Ertrunken, verdurstet oder verschwunden, ohne dass die Familien je erfahren, was passierte.

Seit ihn seine Kinder anflehten, es nicht mehr zu versuchen, ringt Moussa Diagne mit sich. Er will ihnen keinen Schmerz zufügen. Gleichzeitig glaubt er, dass er der Familie besser helfen könnte, wenn er es nach Europa schaffen würde. Er sagt: «Ich bin bereit, mich selber zu opfern, um die Familie zu unterstützen.»

Bei seinen bisherigen vier Versuchen ging stets etwas schief. Der Wind war nicht günstig, das Essen ging aus. Diagne hat Leichen im Wasser treiben sehen, hat gesehen, wie Menschen vor Angst und Kälte fast den Verstand verloren. Beim letzten Versuch im vergangenen Jahr gerieten sie in einen Sturm. Das Boot drohte zu kippen. Diagne, der das Boot steuerte, beschloss ein weiteres Mal, umzukehren. Er dachte sich: Vielleicht ist Europa nichts für mich.

Er hat es nicht nach Europa geschafft. Doch er lebt und hat damit mehr Glück als Tausende andere. Zum Beispiel als sein Bruder Mbaye Cissé, der Lieblingssohn von Fatou Diagne. Als der 21-Jährige spurlos verschwand, getraute sich während Tagen niemand, das der Mutter zu sagen. Sie glaubte lange, er sei fischen gegangen.

Sie kommen und bauen Häuser

Es sind nicht nur Not und Pflichtgefühl, die die Fischer von Saint-Louis dazu bringen, die Fahrt zu wagen. Es ist auch die Gelegenheit. Saint-Louis liegt an einer Migrationsroute, auf der viele Westafrikaner vorbeikommen, aus Gambia, aus Guinea, von weiter südlich in Senegal. In Saint-Louis haben sie die Boote.

Die Fischer gehen auch, weil ihnen jene, die es geschafft haben, den Eindruck vermitteln, dass sie in Europa erfolgreich sind. «Sie kommen zurück und lassen hier Häuser bauen», sagt Diagne. «Ich habe über vierzig Jahre gefischt und kann mir das nicht leisten.»

Deshalb überlegt er sich, das Flehen seiner Kinder doch zu ignorieren und es zum fünften Mal zu versuchen. In Saint-Louis floriert das Geschäft mit der Migration.

Der Schmuggler

«Früher organisierten wir eine oder zwei Reisen pro Monat», sagt Fadel Diop. «Nun sind es eine oder zwei pro Woche.» Diop steht pünktlich da beim vereinbarten Treffpunkt, einer kleinen Hütte am Strand. Pünktlichkeit ist wichtig in seinem Metier. Diop ist ein Menschenschmuggler, er heisst eigentlich anders.

Er ist 49 und sieht aus wie ein Büroangestellter: weisses Hemd, gebügelte schwarze Hose. Auch er wollte einst übers Meer nach Europa. 2018 war das, zwei Jahre nachdem er seine Stelle in einer Plastikfabrik in Dakar verloren hatte. Doch der Generator fiel aus, sie trieben drei Tage auf dem Meer, bevor Fischer sie fanden. Diop sagt, er habe furchtbare Angst gehabt.

Er blieb in Senegal, und weil er die Kontakte schon hatte, ging er ins Geschäft mit dem Menschenschmuggel. Er hat eine Gruppe von Leuten unter sich, die in den Quartieren Interessierte suchen, die aufs Boot wollen. Er hat auch Leute über sich: «Ich habe Bosse, die haben wieder Bosse.» Er hat die Bosse nie gesehen, sie sagen ihm erst am Tag der Abfahrt, dass ein Boot losgeht. Er leitet es an die Passagiere weiter. Wer zu spät ist, verliert sein Geld.

400 000 bis 500 000 westafrikanische Francs (CFA) kostet die Reise, 600 bis 750 Franken. Mindestens 80 Leute passen in ein Boot. Das Geschäft ist einträglich. Diop sagt, in einem guten Monat verdiene er eineinhalb Millionen CFA, etwas mehr als 2000 Franken. Das ist in Senegal ein stolzes Einkommen.

Doch Diop ist nicht euphorisch. «Das Geschäft ist abgefuckt», sagt er. Zu viele Leute, die nichts davon verstünden, drängten in das Gewerbe. Sie nähmen kleinere Boote, nicht gemacht für die hohe See. Sie füllten die Boote mit zu vielen Leuten, was die ohnehin lebensgefährliche Reise noch riskanter mache. «Denen sind die Menschen egal», sagt Diop. Er sieht sich als Schmuggler, der den Fischern von Saint-Louis hilft, anderswo eine Zukunft zu finden.

4. Liegt die Zukunft in Afrika?

Anfang Juli sank nördlich von Saint-Louis ein Boot, das zu den Kanarischen Inseln unterwegs war. Fast 90 Personen verschwanden im Meer. Einige Tage später hielt Ousmane Sonko, Senegals Ministerpräsident, eine Rede an der Universität von Saint-Louis. Er sagte: «Ich appelliere an die Jugend: Eure Lösung liegt nicht in den Ländern, die ihr zu erreichen versucht. Die Zukunft der Welt liegt in Afrika – dem Kontinent, der das Wachstum der Welt in den nächsten fünfzig Jahren tragen wird.»

Es wirkt nicht, als ob in Saint-Louis viele diese Zuversicht teilten.

Es ist eine alte Geschichte in Afrika. Wo man Erdöl und Gas fand, profitierten nur wenige. Meist gehörten sie zur politischen und wirtschaftlichen Elite der Länder. Die Bevölkerung vor Ort blieb arm, sie wurde nicht benötigt, um die Ressourcen zu fördern. So war es in Nigeria, Moçambique, Kongo-Kinshasa. Weil sie sich betrogen fühlten von ihren Politikern und den Unternehmen, gründeten die Leute mancherorts Rebellengruppen.

Nicht so in Saint-Louis. Hier steigen sie in Boote, die sie nach Europa bringen sollen.

Senegals Regierung, im Amt seit April, versucht gerade zu beweisen, dass sie einiges besser machen kann. Sie hat versprochen, die Verträge mit den Erdgaskonzernen neu auszuhandeln, damit die Bevölkerung mehr von den Millionen hat, die noch immer fliessen sollen. Sie hat ausserdem angekündigt, unvorteilhafte Fischereiverträge etwa mit der EU neu zu verhandeln.

Ob das reicht, um die Fischer in Saint-Louis davon zu überzeugen, dass ihre Zukunft in Afrika liegt? Dass es sich lohnt, zu warten, bis das Gas doch noch strömt?

Ihre Boote dümpeln im Meer, in dem es kaum noch Fisch zu fangen gibt. Es sind dieselben Boote, in die sie steigen, um nach Europa zu gelangen. Möglich, dass die Zukunft in Saint-Louis zu lange auf sich hat warten lassen.

Exit mobile version