Der Westen betrachtet Auschwitz als seine Offenbarung. Mit dem Kampf gegen den Antisemitismus stand man auf der richtigen Seite der Geschichte. Diese Haltung wird nun auf die Probe gestellt.

Das Holocaust-Museum in Amsterdam erstrahlt an diesem frühen Frühlingsmorgen. Die Sicherheitskräfte sind diskret und freundlich. Doch bevor wir eintreten, müssen wir den Kontext skizzieren. Im Frühjahr 2024 ist dieser Kontext Gaza. Vor der Eröffnung des Museums drehten sich die Gespräche, wenn man sie so nennen kann, vor allem um die Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten Yitzhak Herzog und die Proteste dagegen.

Ich hielt es für klug, mit Nazi-Metaphern vorsichtig umzugehen und Gaza und die Shoah auseinanderzuhalten, auch wenn die Shoah nicht zuletzt von israelischen Politikern instrumentalisiert wurde. Doch wer die Meinungsseiten der Zeitungen liest oder sich in den sozialen Netzwerken umsieht, wird feststellen, dass Gaza und die Shoah nicht mehr zu trennen sind.

Der Autor Pankaj Mishra hat sich in der «London Review of Books» zu Recht gefragt, was aus der Shoah nach Gaza werden soll. In einem der letzten Absätze bemerkte Mishra: «Es gibt zu viele Hinweise dafür, dass sich der Bogen des moralischen Universums nicht in Richtung Gerechtigkeit spannt.» Mit anderen Worten: Auch die Shoah hat sich nicht wie erwartet entwickelt.

Es geht nicht nur um die Shoah. In den vergangenen Monaten ist es unmöglich geworden, über Juden zu sprechen, ohne Gaza zu erwähnen. Wie sehr Identität und Identifikation die Grundlage dieses Diskurses sind, lässt sich an der erneuten Diskussion über Antisemitismus ablesen. Wer sie auch nur mit halbem Ohr verfolgt, muss begreifen, dass die Debatte über den Antisemitismus vor allem eines bewirkt: einen neuen Disput über die Definition von Antisemitismus.

Und wer den Antisemiten neu definieren will, muss zwangsläufig auch den Juden neu definieren, der in diesem Fall Gefahr läuft, mit dem Zionisten verwechselt zu werden. In der Praxis lassen sich diese beiden Begriffe nur schwer voneinander trennen, so wie es vor einem Jahrhundert schwierig war, den Bolschewisten vom Juden zu trennen. Der Jude durchläuft viele Wandlungen.

Industrie der Leidensbewältigung

Der Philosoph Elad Lapidot schrieb ein aufschlussreiches, wenn auch etwas hermetisches Buch über jüdische Identität und Identifikation mit dem Titel «Jews Out of the Question. A Critique of Anti-Anti-Semitism». Eine zentrale Frage lautet in dem Buch, wie man Juden und das Judentum als etwas Reales verteidigen kann, wenn sie nur mehr als Klischees in den Köpfen der Antisemiten existieren.

In der Tat vertritt der anti-antisemitische Diskurs die Position, dass Wissen über die Juden unmöglich ist. Sartre schrieb in seinen «Überlegungen zur Judenfrage», dass der Jude vom Antisemiten beurteilt, betrachtet und definiert wird. Dass der Antisemit dabei von einem Phantasma, von Paranoia ausgeht und sich falscher Argumente bedient, ist weniger wichtig; das unwahre oder falsche Wissen wird (zumindest teilweise) als wahr angenommen, und in manchen Fällen hat es auch reale Konsequenzen für reale Menschen.

Nach 1945 begann der Westen den Anti-Antisemitismus und die Shoah als wichtigen Teil seiner eigenen Identität zu betrachten. Der kürzlich verstorbene niederländische Philosoph Wouter Oudemans sprach in seiner Dissertation von der Industrie der Leidensbewältigung. Die westliche Kultur ist mit ihrer Umarmung von Anti-Antisemitismus, Antikolonialismus, Antirassismus und Antifaschismus zur Kultur der Leidensbewältigungsindustrie geworden.

Es ist nicht zynisch, zu sagen, dass das zugefügte Leid, ob von Menschenhand oder nicht, derzeit die westliche Identität stützt. Nach dem französischen Philosophen Philippe Lacoue-Labarthe hat sich der Westen in Auschwitz «offenbart», und er offenbart sich seither weiter.

Musealisierte tote Juden

War der Holocaust eine Zäsur in der Geschichte? Oder sollte der Holocaust als Teil der Kolonialgeschichte betrachtet werden? Diese Frage ist natürlich in erster Linie eine politische Frage, denn Geschichtsforschung bedeutet ja, Geschichte neu zu erfinden. Sicher ist, dass der Westen selbst, vor allem Deutschland, Auschwitz als seine Offenbarung betrachtete.

Diese Offenbarung brachte im Westen eine neue Selbstidentifikation hervor, die Post-45-Theologie, die in den toten Juden die Märtyrer ihres eigenen neuen Ursprungsmythos entdeckte, komplett mit Menschenrechten und allem. Man gedachte der toten Juden, nahm sie behutsam auf und musealisierte sie schliesslich. Der Feind war der Antisemit, der Faschist, der Völkermörder.

Heute werden die toten Juden herbeigepfiffen, damit sie in verschiedenen Holocaust-Museen auf der ganzen Welt auftreten. Jugendliche werden in diese Museen geführt in der Hoffnung, dass sie weniger antisemitisch wieder herauskommen, als sie hineingegangen sind. Diese Hoffnung ist oft vergebens. Im besten Fall verlassen die Kinder das Museum und schreiben auf einen Zettel: «Ich verspreche, netter zu sein.»

Vor einem Jahr veröffentlichte die Journalistin und Autorin Dara Horn in «The Atlantic» einen langen Artikel mit dem Titel «Is Holocaust Education Making Anti-Semitism Worse?». Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: Ja.

Das Ziel vieler, wenn nicht aller amerikanischen Holocaust-Museen ist es, den Besuchern, insbesondere den Jugendlichen, beizubringen, dass sie nicht nur zuschauen, sondern aktiv werden sollen. Die toten Juden werden als Prügel benutzt, um die Jugendlichen moralisch anzuleiten; kein Wunder, dass sie manchmal von den noch lebenden Juden ein wenig irritiert sind.

Obwohl Horn ausschliesslich über Holocaust-Erziehung und -Museen in Amerika spricht, scheint mir die Situation in Europa nicht viel besser zu sein. So wie Gefängnisse Erziehungseinrichtungen für Kriminelle sind, entpuppt sich Holocaust-Pädagogik oft als Erziehungseinrichtung für Antisemiten.

Versuch zur Vermenschlichung

In der niederländischen Tageszeitung «NRC» erhielt das Holocaust-Museum in Amsterdam fünf Sterne, so wie der Holocaust in der europäischen Geschichte fünf Sterne bekam. Diese Bewertung hat das Museum auch verdient. Die Fallstricke anderer Holocaust-Museen (aufdringliche Sentimentalität; Versuche zur Nachinszenierung, die immer in Kitsch enden) wurden weitgehend umgangen.

Das religiöse Judentum kommt zu kurz, aber das ist logisch; jedes Holocaust-Museum ist gezwungen, der Logik des Antisemitismus zu folgen, und Religion spielte keine bedeutende Rolle mehr.

Hingegen wird versucht, die vor dem Krieg in den Niederlanden lebenden Juden zu vermenschlichen, indem ihre Alltagsgegenstände gezeigt werden. Zum Beispiel ein Puppenhaus oder ein Fussballspiel: «Nico war ein Einzelkind und wohnte in der Lepelstraat in Amsterdam. Dieses Fussballspiel hat er zum Geburtstag bekommen.» Der Besucher kann nicht anders, als zu denken: Diese Juden waren Menschen wie du und ich.

Doch die Geschichte lehrt, dass Assimilierung und Entmenschlichung Hand in Hand gehen. Lapidot schreibt über solche Versuche der Juden, sich unsichtbar zu machen: «Je weniger jüdisch die Juden waren, desto jüdischer wurden sie.» Mit anderen Worten: Gerade weil die assimilierten Juden in Europa kaum oder gar nicht mehr von den Christen zu unterscheiden waren, wuchs die Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit der Juden.

Und so sehr das Museum auch versucht, diejenigen zu vermenschlichen, die entmenschlicht wurden, so bleibt doch ein Unbehagen. Es handelt sich um die Vermenschlichung von Toten. Im Augenblick, als es darauf ankam, waren die Juden grundlegend anders, ob sie selbst so dachten oder nicht, ist unwichtig. Im entscheidenden Moment ist Identifikation nie Selbstidentifikation, im entscheidenden Moment wird man durch den Feind identifiziert, und das gilt natürlich nicht nur für Juden.

Trotz den guten Absichten des Amsterdamer Holocaust-Museums kommt das Museum nicht umhin, in erster Linie ein staatliches Museum für den (nichtjüdischen) Niederländer zu sein, der hier seine Identität nach 1945 finden oder stärken kann. Es ist eine offene Frage, wie lange diese Identität noch Bestand haben wird.

In der Zwischenzeit erweisen sich die allzu lebendigen Juden als Problem für viele Anti-Antisemiten, für jenen Westler also, der sich nach 1945 allmählich als Anti-Täter entpuppt hat. Mit anderen Worten: jemand, der sühnen wollte, indem er sich auf die gute Seite der Geschichte stellte.

Der Antisemitismus hat den Holocaust hervorgebracht. Der Holocaust hat dem Zionismus den entscheidenden Schub gegeben und so den Staat Israel hervorgebracht. Israel hat Gaza hervorgebracht. Die Verwirrung ist verständlich. Der Völkermörder ist der Feind, aber der Jude steht plötzlich selbst als Völkermörder unter Anklage. Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag spricht Bände. Damit hat die Verwirrung darüber, wo der Staat Israel aufhört und der jüdische Bürger anderer Länder beginnt, nur noch zugenommen.

Wir können versuchen, den Zionisten vom Juden zu trennen, aber in der Praxis erweist sich das als schwierig. Genau wie vor einem Jahrhundert wurde der Jude, der zum Christentum konvertierte, nicht immer als Christ wahrgenommen, um es gelinde auszudrücken. Die Erinnerungskultur, die einige Jahrzehnte nach 1945 mit den besten Absichten entstanden ist, was man fast vergessen könnte, ist zu einem Kulturkrieg verkommen, der, wie so mancher Kulturkrieg, in erster Linie ein Identitätsspiel für die Westler ist.

Die Debatte über den Antisemitismus ist zu einem Disput über seine Definition geworden. Und so ist aus dem Diskurs über die Erinnerungskultur die Frage hervorgegangen, welche Lehren genau daraus gezogen werden sollen. Als ob man diese Geschichte für eigentlich naheliegende Lektionen in Humanismus brauchte.

Die Erinnerung, insbesondere die institutionalisierte, musealisierte Erinnerung, hat sich als eine Form der Verdrängung der eigenen Vergangenheit erwiesen.

Arnon Grünberg ist ein niederländischer Schriftsteller und Journalist. Er wuchs in einer Familie jüdischer Einwanderer auf, die aus Deutschland stammte. Seine Mutter war eine Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz. Grünberg arbeitet und lebt in New York. – Aus dem Englischen von rbl.

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