Dutzende Aussenminister wollen die russische Führungsriege für den Angriffskrieg gegen die Ukraine zur Verantwortung ziehen. Diese muss vorderhand jedoch nichts befürchten.

Zufall war das natürlich nicht: An dem Tag, an dem Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau seine grosse Militärparade abhielt, versammelten sich in der westukrainischen Stadt Lwiw Dutzende von hohen Vertretern westlicher Staaten. Sie wollten einen Kontrapunkt setzen zu den Festivitäten in Russland, jenem Land, das die Ukraine seit nunmehr dreieinviertel Jahren mit unverminderter Härte angreift. Die Ukraine gedenkt zwar auch jedes Jahr des Endes des Zweiten Weltkriegs, seit 2023 – in Abgrenzung gegenüber Russland – aber bereits am 8. Mai.

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Mit leeren Händen sind die über dreissig Aussenminister und Botschafter nicht angereist. Die EU sicherte dem ebenfalls anwesenden ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski weitere Unterstützungsleistungen in der Höhe von einer Milliarde Euro zu. Das Geld stammt aus den Dividenden von eingefrorenen russischen Vermögenswerten.

Von grösserer symbolischer Kraft war allerdings das Bekenntnis, ein Sondertribunal für eine juristische Aufarbeitung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine einrichten zu wollen. «Das Tribunal wird sicherstellen, dass die Hauptverantwortlichen für den Angriffskrieg gegen die Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden», sagte die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas. Formell ist zwar noch nichts besiegelt, aber politisch handelt es sich um einen bedeutsamen Schritt.

Entsprechende Gespräche sind seit Anfang 2023 im Gang. Eine Kerngruppe von Ländern, der im Herbst jenes Jahres auch die Schweiz beitrat, trieb in der Zwischenzeit die von Selenski seit Kriegsausbruch geforderte Institution voran. Auch die USA waren lange dabei, sie haben sich vor der letzten Verhandlungsrunde im Februar dieses Jahres aber zurückgezogen und waren nun auch in Lwiw nicht an Bord. Dass der amerikanische Präsident Donald Trump von internationaler Strafgerichtsbarkeit nicht viel hält, ist hinlänglich bekannt. «Die Abwesenheit der USA beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit des Gerichts nicht», schreibt die Pressestelle des Europarats, unter dessen Führung das Tribunal eingerichtet werden soll.

Rechtslücke schliessen

Warum aber ist ein solches Sondergericht zur Ahndung von Russlands Angriff aus Sicht der Unterstützergruppe überhaupt notwendig? Schliesslich nennt auch das Römer Statut, das dem in Den Haag ansässigen Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zugrunde liegt, das Verbrechen der Aggression. Es ist neben Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einer der vier Straftatbestände, für die der ICC zuständig ist.

Doch das Römer Statut sowie das spätere Kampala-Amendment weisen eine Rechtslücke auf. Denn anders als für die drei übrigen Straftatbestände müssen sowohl «Opferstaat» als auch «Täterstaat» das Römer Statut ratifiziert haben, damit der Gerichtshof zum Verbrechen der Aggression ermitteln kann. Dies war in den Verhandlungen der Vertragsstaaten eine Konzession insbesondere gegenüber Frankreich und Grossbritannien.

Zum Zeitpunkt des russischen Grossangriffs waren weder die Ukraine noch Russland Mitglied des ICC (die Ukraine ist seit Anfang 2025 dabei). Alternativ könnte auch der Uno-Sicherheitsrat dem ICC die Zuständigkeit übertragen, was wegen Russlands Vetorecht aber ausgeschlossen ist.

Russische «Troika» ist geschützt

Das Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine, dessen Rechtstexte zwischen dem Europarat und der Ukraine beschlossen würden, soll Abhilfe schaffen. Ob es das wirklich tut oder allenfalls gar kontraproduktive Effekte haben könnte, ist unter Völkerrechtlern allerdings umstritten. Denn was sich auf den ersten Blick stringent anhört, bietet bei näherer Betrachtung einige juristische Fallstricke.

Die ursprüngliche Absicht des Sondertribunals war stets, die höchste politische Führung Russlands juristisch zur Rechenschaft zu ziehen – schliesslich ist ein Aggressionskrieg, anders als etwa ein Kriegsverbrechen, ein sogenanntes «Leadership-Crime». Im Visier stehen Entscheidungsträger wie der Staatspräsident, der Ministerpräsident und der Aussenminister.

Doch genau diese «Troika» kann gemäss Vertragstext derzeit nicht belangt werden. Denn solange die Führungspersonen im Amt sind, geniessen sie aus völkerrechtlicher Sicht absolute und persönliche Immunität. An diesem Grundsatz – der für das Verbrechen der Aggression, nicht aber für die drei anderen ICC-Straftatbestände gilt – wollten die Grossmächte nicht rütteln.

Auch nationale Gerichte könnten anklagen

Darum könnten gemäss dem in Lwiw nun beschlossenen Vertragstext gegen Wladimir Putin, Dmitri Medwedew und Sergei Lawrow zwar Ermittlungen durchgeführt werden, diese würden aber auf nicht einmal halbem Weg gestoppt. Nach einer allfälligen Anklageerhebung muss das Verfahren wegen der Immunität suspendiert werden.

Es stellt sich also die Frage, was ein neuer, teurer Gerichtshof bringt, wenn Russlands oberste Führung an dem Tag, an dem sie nicht mehr im Amt ist, aufgrund der universellen Gerichtsbarkeit ohnehin von nationalen Gerichten belangt werden könnte. Die Problematik muss letztlich politisch beantwortet werden, schliesslich wollen die Unterstützerstaaten gegenüber der Ukraine auch ein Zeichen der Solidarität aussenden.

Die Gefahr besteht jedenfalls, dass sich gewisse Regierungen wegen der geplanten Troika-Regelung dafür aussprechen könnten, der politischen Führung von Nichtvertragsstaaten künftig auch bei Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit persönliche Immunität zu gewähren. Der internationale Strafverfolgung würde damit geschwächt statt gestärkt.

Manche Staaten sind darum nicht mehr mit dem gleichen Enthusiasmus bei der Sache wie zu Beginn. Sie wollen in Bezug auf das Verbrechen der Aggression lieber die Kompetenzen des ICC ausweiten, als nun eine neue Institution zu schaffen, die zahnlos zu bleiben droht. Ob das politisch möglich ist, ist allerdings offen.

Der Ball liegt nun in Strassburg

Die Schweiz etwa vermeldete noch vor anderthalb Jahren, dass sie sich für die Einrichtung eines Sondertribunals «einsetze». Nun schreibt das Aussendepartement auf Anfrage, dass man dessen Schaffung «grundsätzlich unterstütze», den Ratifikationsentscheid aber erst «je nach Verlauf der Diskussionen und gewähltem Modell» treffen werde. Dass nicht Aussenminister Ignazio Cassis, sondern lediglich der zuständige Botschafter nach Lwiw reiste, dürfte nicht ausschliesslich terminlichen Schwierigkeiten geschuldet sein.

Auf juristischer Ebene geht es nun beim Europarat in Strassburg weiter. Der zuständige Ministerrat nimmt das Vertragswerk am 14. Mai zur Kenntnis, die in einem zweiten Schritt erforderliche Zweidrittelmehrheit gilt als sicher. Danach müssen manche Staaten, je nach Verfassungsbestimmung, die Texte parlamentarisch ratifizieren – wo politischer Widerstand alles andere als ausgeschlossen ist.

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