Montag, Januar 27

Erschreckend viele Akteure des weissen Sports erliegen der Versuchung, sich bestechen zu lassen. Derzeit sind 162 Spielerinnen und Spieler gesperrt, weil sie einzelne Games oder ganze Partien her geschenkt haben.

Shérazad Reix spielte seit ihrem siebten Lebensjahr Tennis. Bereits als Jugendliche gewann die Französin sieben Einzel- und zehn Doppel-Titel auf der WTA-Challenger-Tour und weckte in Frankreich grosse Hoffnungen. Ihr erstes Profiturnier bestritt sie in Le Havre, das French Open belohnte ihre Leistung mit einer Wild Card für die Doppelkonkurrenz. Ihr winkte eine vielversprechende Karriere.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Doch 2023 wurde Reix für vier Jahre gesperrt, weil sie sechs Partien manipuliert hatte. Sie bestritt den ihr vorgeworfenen Sachverhalt nie, bezahlte eine Geldstrafe von 30 000 Dollar und verschwand ebenso schnell aus der Tennisszene, wie sie in dieser aufgetaucht war.

In zwei Jahren dürfte Shérazad Reix theoretisch auf die Tennis-Tour zurückkehren. Doch sie wird dann 37 Jahre alt sein und wäre kaum mehr konkurrenzfähig. Sie vergab einen würdigen Abschied aus dem Tennis für einige Dollar, die ihr ein Wettsyndikat für ein paar geschobene Spiele angeboten hatte.

Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein

Der Fall Reix ist einer von vielen. Insgesamt vermeldet der Internationale Tennisverband (ITF) gegenwärtig 162 Sperren gegen Spielerinnen und Spieler wegen vergleichbarer Delikte. Und längst nicht alle Fälle sind so lapidar wie jener von Reix. 50 der überführten Athletinnen und Athleten wurden von der ITF lebenslänglich gesperrt.

Zum Beispiel der Venezolaner Armando Belardi. Die International Tennis Integrity Agency (Itia) belegte ihn im vergangenen Frühjahr mit der Sanktion eines Ausschlusses auf Lebzeiten. Er ist auch Persona non grata an sämtlichen Anlässen der Organisationen, welche der Itia angeschlossen sind. Belardis Sündenregister zählt 26 Fälle, in denen er die Regeln verletzt und Spiele verkauft hat. Er akzeptierte die Sanktion und verschwand auf Nimmerwiedersehen aus der Tennisszene. Die Dunkelziffer dürfte noch einmal deutlich höher sein: Es ist gar nicht so einfach, den Sündern auf die Spur zu kommen. Gelegentlich macht ein ungewöhnliches Wettaufkommen die Ermittler argwöhnisch und bringt sie auf die Spur mutmasslicher Betrüger. Aber schon das, was bekannt ist, lässt einen düsteren Schluss zu: Tennis hat ein gravierendes Betrugsproblem. Die Verlockung, für etwas Geld einen Ball zu verschlagen oder absichtlich einen Doppelfehler zu servieren, ist gross. Nicht selten betragen die Schmiergelder gemäss Insidern lediglich ein paar hundert Dollar.

Im Herbst 2017 veränderten sich die Wettquoten im Match zwischen dem Ukrainer Alexander Dolgopolow (ATP 28) und dem Kolumbianer Thiago Monteiro (23) innerhalb kürzester Zeit auf verdächtige Weise. Der Aussenseiter Monteiro triumphierte überraschend in zwei Sätzen – und einige Wetter, die auf ihn oder eine Niederlage Dolgopolows gesetzt hatten, gewannen viel Geld. Die Itia kündigte eine Untersuchung an. Diese verlief ergebnislos. Für Dolgopolow und andere, die in den vergangenen Jahren in den Verdacht gerieten, gilt die Unschuldsvermutung. Mittlerweile ist der Ukrainer zurückgetreten, offiziell wegen einer Handgelenkverletzung.

Bereits auf Juniorenstufe kommen viele Spielerinnen und Spieler erstmals mit mutmasslichen Betrügern in Kontakt, die sie dazu verleiten wollen, einzelne Games oder ganze Partien zu verschenken. Oft stehen hinter diesen Versuchen ganze Syndikate, welche das Wettgeschäft lenken. Swiss Tennis weist im Rahmen seiner Athleten-Schulungen auf die Gefahren hin.

Prominente Spieler werden kaum überführt

Prominente Namen gibt es im langen Register der überführten Sünder kaum. Kein Novak Djokovic, kein Jannik Sinner, keine Coco Gauff. Was nicht zwingend heissen muss, dass diese Spieler nicht auch schon von der Wettmafia kontaktiert worden wären. Der international erfolgreichste Spieler, der bisher in das Visier der Untersuchungsbehörden geriet, war der Russe Nikolai Dawydenko, der insgesamt 21 Titel gewann und im Ranking einst die Nummer 3 war. 2003 kam es mehrmals zu auffälligen Resultaten bei Spielen Dawydenkos. Doch definitiv überführt wurde er nie.

Marco Chiudinelli spielte siebzehn Jahre lang auf der Profi-Tour. Er arbeitete sich im Schatten seines Jugendfreunds Roger Federer im Ranking bis auf Position 52 vor. Chiudinelli sagt: «Am Anfang meiner Karriere ging man mit diesem Thema noch ziemlich locker um. Wir bewegten uns damals in einer Art Grauzone. Wenn man erwischt wurde, dann wurde man nicht gleich gesperrt. Erst später begann die ATP vehementer auf solche Fälle zu reagieren.»

Das grosse Wettgeschäft findet nicht an den Major-Turnieren wie dem Australian Open statt, das am Sonntag mit dem Männer-Final zwischen Jannik Sinner und Alexander Zverev endet. Die meisten Spieler erreichen in ihrer Karriere nie einen solchen Match, der im Fokus der Weltöffentlichkeit steht. Wie Marco Chiudinelli verbringen sie ihren Alltag an kleineren Veranstaltungen, an denen die Annehmlichkeiten und Verdienstmöglichkeiten klein sind – und die Verlockung, sich auf ein illegales Geschäft einzulassen, entsprechend grösser.

Ins öffentliche Bewusstsein drang das Thema 2016, als am ersten Turniertag des Australian Open dank einer Recherche der BBC und des amerikanischen Online-Portals «Buzzfeed» öffentlich wurde, dass 16 Spieler aus den besten 50 der Weltrangliste mit abgesprochenen Partien zu tun gehabt hätten. Namen wurden keine genannt.

Novak Djokovic sagte damals: «Das löst bei mir ein schreckliches Gefühl aus. Ich möchte in keiner Weise mit solchen Dingen in Verbindung gebracht werden.» Der Serbe sah einen Grund für die Betrugsfälle in der ungleichen Verteilung der Preisgelder. Er macht sich seither für gerechtere Ausschüttungen stark. 2023 sagte er am Rande des US Open: «Wenn nur rund 400 Spieler in einem globalen Sport wie dem unseren einigermassen von dem leben können, was sie tun, ist das kläglich. Das ist ein Versagen unseres Sports.»

Djokovic gründete deshalb 2019 zusammen mit dem Kanadier Vasek Pospisil die Professional Tennis Players Association (PTPA), die sich eine gerechtere Verteilung der Preisgelder auf die Fahne schrieb. Bewirkt hat die Initiative noch nicht allzu viel. Ihr Vordenker Djokovic hat im Laufe seiner Karriere bisher 185 541 164 Dollar verdient.

Aktive Spieler wollten zum Betrug verführen

Für Marco Chiudinelli greift es zu kurz, die Wettproblematik allein mit der Verteilung der Preisgelder zu begründen. Er sagt: «Das Ganze ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine des Charakters. Natürlich ist man empfänglicher für solche Angebote, wenn man jeden Franken zweimal umdrehen muss, ehe man ihn ausgibt. Doch selbst wenn alle im Tennis gut verdienten, gäbe es den einen oder anderen, der noch mehr möchte.»

Chiudinelli weiss, wovon er spricht. Er hat den Grossteil seiner Karriere an kleineren, weniger lukrativen Turnieren verbracht und kam an diesen ebenfalls mit der Wettmafia in Kontakt. «Bereits 2010 habe ich eine erste konkrete Anfrage erhalten. Ich hatte damals eine sportlich schwächere Phase und spielte vornehmlich an kleineren Turnieren. Man kam auf mich zu und bot mir an: Wenn du interessiert bist, dann melde dich bei mir, wir werden dir helfen. Es waren nicht Aussenstehende, sondern Spieler, die selbst noch aktiv waren. Alle wussten von ihnen, doch unternehmen wollte niemand etwas gegen sie.»

Namen nennt Chiudinelli keine. Es seien alte Geschichten, und hinter diesen Spielern hätten meist ganze Syndikate gestanden, die in der Wahl ihrer Mittel nicht wählerisch gewesen seien. «Ich meldete den Kontakt sofort an die zuständige Stelle, um mich abzusichern. Doch wirklich passiert ist nichts.»

Illegale Wetten im Tennis waren ähnlich wie Doping lange ein Tabuthema. Es gab sie nicht, weil es sie nicht geben durfte. Chiudinelli aber erzählt von einem Turnier im ukrainischen Dnjepropetrowsk, an dem ein Hintermann tagelang im Spielerbereich unterwegs gewesen sei, um Kontakte zu manipulationswilligen Spielern zu knüpfen. In das Ganze seien auch Top-Ten-Spieler involviert gewesen. Erst da begann die ATP, sich des Themas vermehrt anzunehmen.

Zeitweise hatten vor allem die Italiener einen schlechten Ruf. Der Fall von Daniele Bracciali machte Schlagzeilen. Am 7. August 2015 wurde er von einem Tribunal des italienischen Tennisverbandes mit einer lebenslangen Sperre und einer Geldstrafe über 40 000 Euro belegt.

Aber auch in anderen Ländern erwischte es immer wieder fehlbare Akteure. Der Österreicher Daniel Köllerer wurde 2011 wegen Spielmanipulationen in drei Fällen lebenslang gesperrt und zu einer Busse von 100 000 Euro verurteilt. Lediglich die Geldstrafe wurde ihm später in der Berufung erlassen. Der Russe Andrei Kumantsow erhielt 2014 ebenfalls eine lebenslange Sperre, weil ihm nachgewiesen wurde, dass er zwischen 2010 und 2013 an verschiedenen abgesprochenen Partien beteiligt gewesen war.

Die Liste liesse sich problemlos fortsetzen. Doch letztlich waren die Überführten stets nur Figuren in einem weit grösseren Spiel, in dem es um teilweise exorbitante Summen geht. Sportwetten sind ein Milliardengeschäft, und die Einzeldisziplin Tennis ist besonders leicht zu manipulieren. Experten schätzen den weltweiten jährlichen Wettumsatz im sogenannten weissen Sport auf 5 Milliarden Euro.

Gemäss dem deutschen Amt für Wirtschaft und Energie wurden 2014 54,5 Prozent aller Wetten im Fussball getätigt. Tennis folgt mit einem Anteil von 17,1 Prozent auf Platz 2. In den beiden weltweit grössten Sportarten wird praktisch täglich gespielt und damit auch gewettet.

So viele Verdachtsfälle wie nie zuvor

Mittlerweile kommen 80 Prozent aller der Wettmanipulation verdächtigten Sportereignisse aus dem Tennis. Im vergangenen Jahr meldeten Tennisverbände 292 verdächtige Matches, so viele wie nie zuvor.

Vor allem Tennisturniere der zweiten und der dritten Kategorie, sogenannte Challenger- und Future-Turniere, sind für Betrug anfällig, weil hier das Schmiergeld schnell höher ist als die ausgeschütteten Preisgelder. Marco Chiudinelli sagt, oft liesse sich mit einem verkauften Match mehr verdienen als mit einem Sieg am gesamten Turnier.

Am Australian Open ist das nicht so. Dem Sieger des heutigen Finals winkt ein Check von 3,5 Millionen australischen Dollar, das sind umgerechnet knapp 2 Millionen Franken. Doch wie sagt Marco Chiudinelli: Reichtum schützt nicht vor Gier.

Exit mobile version