Donnerstag, April 24

Alpinismus war Männersache, bis sich vier Frauen aufmachten, die 14 höchsten Berge der Welt zu erklimmen. Alle schaffen es, doch bis heute ist unklar, ob die Siegerin des Wettstreits gemogelt hat.

16. Oktober 1986. Reinhold Messner steht auf dem Gipfel des 8516 Meter hohen Lhotse. Als der Südtiroler zurück im Basislager ist, steht fest: Er ist der erste Mensch, der sämtliche Achttausender bestiegen hat – noch dazu ohne Flaschensauerstoff. Jerzy Kukuczka aus Polen, der auch die 14 Achttausender im Blick hat, erreichte das Ziel im Jahr darauf. Nummer drei ist schliesslich 1995 Erhard Loretan. Nach Messner ist der Schweizer der zweite, der an allen Bergen ohne Flaschensauerstoff unterwegs war.

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Und was ist mit den Frauen? Wanda Rutkiewicz, eine Polin, ist bereits auf den Gipfeln von 8 Achttausendern gestanden, als sie 1992 am Kangchendzönga den Tod findet. Was genau passiert ist, weiss bis heute niemand. Sie ist verschollen. Doch dann gibt es lange Zeit keine Frau, die in den höchsten Bergen der Welt ein erstrebenswertes Ziel für sich sehen würde.

Erst mehr als zwei Jahrzehnte nach Reinhold Messner sind es schliesslich vier Frauen, die sich die 14 Achttausender zum Ziel nehmen und fest entschlossen sind, sämtliche Gipfel zu erreichen: Nives Meroi aus Italien, Gerlinde Kaltenbrunner aus Österreich, Edurne Pasaban aus Spanien und Oh Eun Sun aus Südkorea. Oh Eun Sun wird den Rekord für sich reklamieren. Dazu aber später mehr.

«Showdown im Himalaja» titelt das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» im April 2010 und schreibt in der Folge von einem «spektakulären Wettlauf um die Besteigung aller Achttausender». Nur eine würde den Ruhm ernten, ist weiter zu lesen. Es sei ein «Wettlauf in der Todeszone», heisst es in einem anderen Text ebenfalls im «Spiegel». Es ist ein internationaler Hype. Englischsprachige Medien schreiben über ein «race», französische über eine «course» und spanische über einen «gresca». Gemeint ist immer dasselbe.

Wobei: Ist das wirklich ein Wettrennen darum, welche nun die erste Frau sein würde auf den 14 höchsten Gipfeln der Welt? «Nein», sagt Gerlinde Kaltenbrunner. Konkurrenz und Wettstreit habe es für sie nicht gegeben. «Ich steige nicht auf Berge, um Siegerin zu sein.» Das Bergsteigen an den höchsten Gipfeln der Welt mache ihr Freude. «Das ist meine Welt. Da zieht es mich hin. Da will ich unterwegs sein.» Und nach dem neunten Achttausender sei dann der Wunsch aufgekommen, auch noch auf die fünf anderen zu steigen.

Ihr Meisterstück ist im Jahr 2011 der 8611 Meter hohe K2, der zweithöchste Berg der Welt, Kaltenbrunners letzter Achttausender. Weil sie es vorher von der pakistanischen Seite nicht auf den Gipfel geschafft hat, probierte sie es auf einer ungleich schwierigeren Route von der chinesischen Nordseite. Es ist ihre vierte Expedition an den K2, ihr siebter Versuch an diesem Berg. Trotz erheblichen Verzögerungen wegen widriger Bedingungen beim Aufstieg steht sie am 23. August auf dem Gipfel.

Kein einziger Atemzug aus der Sauerstoffflasche

Gerlinde Kaltenbrunner hat ihren Wunsch umgesetzt. Ohne Sherpa-Unterstützung hat sie die Gipfel aller 14 Achttausender erreicht. Sie ist die erste Frau, die bei ihren Expeditionen nie auch nur einen Atemzug aus einer Sauerstoffflasche genommen hat.

Auf die mediale Inszenierung schaut die Österreicherin heute entspannt. «Was passiert denn da gerade?», habe sie sich damals gefragt. Die Antwort, die sie sich selbst gab: «Die Welt braucht immer einen Ersten, einen Sieger.» Als sie das realisiert habe, habe sie nichts mehr gelesen, was sie in diesen medial inszenierten Wettbewerb mit anderen stellte. In ihrer Jugend habe sie bei Ski- und Mountainbike-Rennen genug davon gehabt, so schildert es Kaltenbrunner. «Diesen Wettkampf wollte ich nicht mehr.» Vielmehr noch: Sie sei sogar davon ausgegangen, dass es das beim Bergsteigen nicht gebe. «Mir ist wichtig, dass alle zu den Gewinnern gehören und gesund zurückkommen.»

Kaltenbrunner ging einen anderen Weg, als ihn die Medien gerne gehabt hätten, und schon gar nicht liess sie sich von diesen einspannen. Sie nahm Kontakt zu Edurne Pasaban auf. 2007 sind die beiden Frauen gleichzeitig am Broad Peak (8051 Meter) unterwegs. Der Zufall will es, dass sie am gleichen Tag vom letzten Hochlager Richtung Gipfel starten. Die letzten Meter steigen sie Hand in Hand auf. «Dass wir das miteinander gemacht haben, hat damals aber niemanden interessiert», sagt Kaltenbrunner. Ein Jahr später finden sie am Dhaulagiri (8167 Meter) wieder zusammen und stehen wieder am selben Tag auf dem Gipfel.

Die Freundschaft der Frauen hält bis heute, wie Pasaban bestätigt. «Ich habe immer tiefen Respekt und Zuneigung für Gerlinde empfunden. Wir haben auch nie darüber gesprochen, wer Erste sein würde oder so etwas. Wenn wir uns trafen, sprachen wir über unser Leben, unsere Erfahrungen, unsere Kämpfe. Gerlinde ist für mich nach wie vor eine gute Freundin und ein wichtiger Mensch in meinem Leben.» Es habe nie eine Rivalität zwischen Gerlinde Kaltenbrunner, Nives Meroi und ihr gegeben, auch wenn manche vielleicht den Eindruck erwecken wollten.

Das wachsende Interesse an den Erfolgen der Frauen und daran, welche nun die Erste sein würde, spürte auch Edurne Pasaban. Vor allem als Oh Eun Sun, eine Bergsteigerin aus Korea, auf die Bühne trat: mit einem ganz anderen Ansatz, viel Geld im Hintergrund und einem viel schnelleren Tempo als die anderen Frauen. «Ich hoffte, dass eine von uns als Erste ins Ziel kommen würde: Gerlinde, Nives oder ich. Wir waren auf traditionellere Weise geklettert und hatten über viele Jahre hinweg hart gearbeitet. Wir hatten lange Zeit die Achttausender bestiegen, ohne dass uns grosse Teams oder Sponsoren unterstützt hätten.»

Pasabans Hoffnung erfüllt sich nicht. «Oh Eun – wer?», das fragen sich damals vermutlich die meisten und reiben sich verwundert die Augen, als die Meldung um die Welt geht, die Südkoreanerin habe geschafft, was noch nie eine Frau erreicht hatte. In Europa ist die Koreanerin nur ganz genauen Beobachtern ein Begriff.

Oh Eun Sun verhehlte nicht, dass der Titel, die erste Frau auf allen 14 Achttausendern zu sein, sie antrieb. «Als ich mir 2007, nach dem Erfolg am K2, die Besteigung aller 14 Achttausender vornahm, hatte ich erst fünf Gipfel geschafft. Die anderen Frauen hatten da schon neun oder zehn», sagte sie nach ihrem Triumph. Weil sie schon über 40 Jahre alt war, befürchtete sie, ihre körperliche Verfassung würde es nicht mehr zulassen, wenn sie sich nicht beeile. Für Oh Eun Sun war es ein Wettstreit. Zwischen Mai 2008 und August 2009 stieg sie auf 8 Achttausender.

«Ohne meine Konkurrentinnen hätte ich das nie geschafft», sagte Oh Eun Sun damals. «Sie haben mir die Motivation gegeben, das zu erreichen, was ich erreicht habe.» Am Nachmittag des 27. April 2010 stand sie in Begleitung von drei Sherpas und zwei Kameramännern auf dem Gipfel der Annapurna. Die Achttausender-Reihe war komplett. Es ging dabei um Tage. Edurne Pasaban erreichte am 17. Mai 2010 den Gipfel der Shishapangma. Für Bergsteiger interessant: Beim Abstieg von Mount Everest und Kangchendzönga benötigte sie Flaschensauerstoff.

Kein Geringerer als Reinhold Messner singt das Hohelied auf «Miss Oh» und nimmt sie sogar in Schutz dafür, dass sie mit Unterstützung von gleich mehreren Sherpas und Flaschensauerstoff unterwegs war und auch in einen Helikopter stieg, um keine Zeit zu verlieren. Die Medien stimmen ein.

Die Himalaja-Chronistin Elizabeth Hawley dagegen resümiert nach Prüfung der Fakten und Berichte über Oh Eun Sun: «Es bleibt die Frage, wer die erste Frau war, die alle Achttausender bestiegen hat. Die Zweifel an Miss Ohs Behauptung, sie habe den Gipfel des Kangchendzönga bestiegen, werden wohl nie ausgeräumt werden können.» So ist es in dem Eintrag der Himalayan Database zu der Besteigung von Oh Eun Sun am Kangchendzönga (8586 Meter) nachzulesen.

Oh Eun Sun behauptet zwar steif und fest, ganz oben gewesen zu sein. Doch die Fotos, die sie vorlegt, ihre Schilderung des Aufstiegs und der Zeitplan sprechen eine andere Sprache. Zudem gibt es einen Sherpa, der berichtet, man habe 150 Meter unter dem Gipfel umgedreht. In einer Erklärung der Korean Alpine Federation (KAF) heisst es: «Die Fakten zum Nachweis ihrer Gipfelbesteigung sind nicht ausreichend.»

Die KAF erklärt die von Oh Eun Sun reklamierte Besteigung für «unwahrscheinlich». Dem vorausgegangen waren ausführliche Gespräche mit sieben Kangchendzönga-Besteigern. Ein Versuch vor ein paar Wochen, mit Oh Eun Sun Kontakt aufzunehmen, scheiterte.

Das Leben ihres Mannes war ihr wichtiger

So plötzlich Oh Eun Sun damals auf der Bergsteiger-Bühne auftaucht, so plötzlich verschwindet Nives Meroi. Nur Annapurna (8091 Meter), Makalu (8485 Meter) und Kangchendzönga (8586 Meter) fehlen der Italienerin 2009 noch, als ihr Mann Romano Benet schwer erkrankt. Am Kangchendzönga übermannt Benet in 7500 Metern Höhe, eine Etappe vor dem Gipfel, eine unerklärliche Schwäche. Sein Vorschlag: Seine Frau solle allein zum Gipfel aufsteigen.

Meroi entscheidet sich dagegen. Mit Mühe und Not bringt sie ihren Mann an den Fuss des Berges. Die Diagnose der Ärzte zu Hause in Italien: schwere Knochenmarkaplasie. Zwei Knochenmarktransplantationen und eine lange Isolationsphase folgen. Meroi beschreibt diese Zeit in ihrem Buch mit dem Titel «Ich werde dich nicht warten lassen» als ihren «15. Achttausender».

Als Romano Benet geheilt ist, steigt das Paar wieder auf hohe Berge. Am 11. Mai 2017 stehen sie auf dem Gipfel der Annapurna. Nives Meroi ist damit nach Gerlinde Kaltenbrunner die zweite Frau, die die Gipfel sämtlicher Achttausender ohne Flaschensauerstoff erreicht hat. Gemeinsam sind sie das erste Ehepaar. Und noch immer sind sie auf neuen Routen an hohen Bergen unterwegs. Gerade wieder versuchen sie eine Erstbegehung am 7590 Meter hohen Yalung Peak in der Kangchendzönga-Region.

Dass Frauen an den höchsten Bergen der Welt genauso leistungsfähig sind wie Männer, ist heute keine Frage mehr. Sie setzen sogar Massstäbe. Zuletzt zeigte das Kristin Harila. In einem Team mit Tenjen Lama Sherpa brauchte die Norwegerin 2023 insgesamt nur 92 Tage für die 14 Achttausender und unterbot damit den Rekord von Nirmal Purja deutlich, der etwas mehr als sechs Monate unterwegs war.

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