Seit einigen Monaten stürzen auffallend viele Shahed-Drohnen ab oder fliegen nach Weissrussland statt nach Kiew. Experten sehen verschiedene Gründe dafür. Doch ausruhen können sich die Ukrainer auf dem Erfolg nicht.
2500 Shahed-Drohnen hat Russland allein im November auf ukrainische Städte losgeschickt. Das sind jede Nacht fast 100, so viele wie nie zuvor. Dazu kommen Raketen und Marschflugkörper. Sie fordern fast jedes Mal Tote und Verletzte. Und doch gibt es für die Verteidiger Grund für Optimismus: Die Kamikaze-Drohnen erreichen ihr Ziel immer seltener.
Das liegt nur teilweise daran, dass die Ukrainer die vergleichsweise langsam fliegenden Shaheds besser abschiessen können – mit auf Lastwagen montierten Maschinengewehren oder Flakpanzern. Viele dieser unbemannten Fluggeräte stürzen einfach ab. Andere fliegen, bei Angriffen auf Kiew, aus scheinbar unerklärlichen Gründen nach Weissrussland weiter und schlagen dort ein. Anfang Dezember gingen laut Kiewer Angaben 45 Prozent aller von Russland gestarteten Drohnen auf diese Weise verloren. Noch im Oktober war dieser Anteil halb so gross gewesen.
Störsender gegen Shaheds
Experten führen die abnehmende Treffsicherheit auf zwei Faktoren zurück: die gesunkene Qualität der Komponenten und die Fähigkeiten der Ukrainer zur elektronischen Kriegsführung. Jüngst schrieb das «Wall Street Journal», dass die westlichen Sanktionen Russland gezwungen hätten, bei der Produktion einheimischer Shaheds – bekannt als Geran-2 – auf billigere chinesische Technik zurückzugreifen. Ein neu eingebauter Servomotor führe bei diesen Drohnen dazu, dass sie in scharfen Kurven ausser Kontrolle geraten und abstürzen können.
Noch relevanter dürften die ukrainischen Fortschritte bei der elektronischen Kriegsführung sein. Erkennbar ist dies an der markant gestiegenen Zahl von Drohnen, die von ihrem ursprünglichen Kurs abkommen. So erklärte die weissrussische Überwachungsgruppe Hajun Project gegenüber der Plattform Euronews, im Juli 2024 seien 9 Shahed-Drohnen unerwartet in den Luftraum des mit Moskau verbündeten Nachbarlands eingedrungen. Im November seien es bereits 148 gewesen.
Die Drohnen sorgen für grosse Nervosität in Weissrussland. Die Militärführung lässt jeweils Kampfjets aufsteigen, um die Shaheds abzuschiessen. Anfang Oktober verhafteten die Sicherheitsbehörden gar eine Dorfbewohnerin, die den Einschlag einer Drohne gefilmt und das Video ins Internet gestellt hatte.
Fachleute gehen davon aus, dass die Ukrainer einen Weg gefunden haben, die Drohnen in die Irre zu führen – trotz deren eingebauten Abwehrmechanismen gegen Störsender. Die These lautet, dass dabei das «Spoofing» zur Anwendung kommt: Durch die Unterdrückung und Manipulation der Satellitensignale werden die Shaheds verwirrt. Sie erhalten entweder gar keine oder falsche Koordinaten über ihren Aufenthaltsort.
Jeder, der während eines Luftalarms in Kiew oder Charkiw war, hat schon bemerkt, dass Google Maps verrückt spielt. Die Ortung zeigt dann entweder gar nichts mehr an oder eine Ortschaft, die weit von der eigentlichen Position entfernt liegt. Die Geran-2 fliegen dann nur noch mithilfe eines deutlich primitiveren Navigationssystems als jenem, das die Satelliten zur Verfügung stellen. Sie kommen leicht von ihrem Kurs ab, etwa durch Wind.
Piranha und Pokrowa: Die Ukraine verwendet viele Systeme
Das «Spoofing» der Ukrainer geschieht offenbar durch ein System zur elektronischen Kriegsführung, das sich Pokrowa nennt. Erstmals öffentlich im Herbst 2023 erwähnt, soll es seit Februar 2024 im Einsatz sein. Die Armeeführung kündigte damals an, es werde den Grossteil der Ukraine abdecken. Das scheint eher zweifelhaft. Zumindest in den grossen Städten zeigt es aber Wirkung, auch in Verbindung mit anderen Elementen der Flugabwehr.
Die Vorstellung, ein einziges System zur elektronischen Kriegsführung könne alle Aspekte des Schlachtfeldes abdecken, ist ohnehin falsch. Die Ukrainer verfügen über Komplexe, die Piranha oder Bukowel heissen und unterschiedliche Funktionen erfüllen. Dazu kommt an der Front eine Vielzahl von Systemen, die einzelne Brigaden oder Bataillone von Freiwilligen und Kleinunternehmern herstellen und ständig an die Bedürfnisse des Kampfs adaptieren lassen.
Dabei lernen Russen und Ukrainer ständig voneinander. Sie versuchen, die gegnerischen Systeme zu überlisten und die eigenen zu verbessern, gerade im relativ neuen Bereich der digitalen Störsender. Dass sich die Verteidiger so gut halten, ist bemerkenswert: Russland gilt im Bereich der elektronischen Kriegsführung als eine der weltweit führenden Mächte und hat in den letzten Jahren erhebliche Mittel investiert. Die Russen sind dabei weniger flexibel und innovativ als die Ukrainer. Im Gegensatz zu Kiew verfügt Moskau aber über eine breite industrielle Basis, die neue Systeme in grosser Zahl herstellen kann.
Dies bedeutet auch, dass die Angreifer die höhere Verlustrate der Shahed-Drohnen momentan durch Masse kompensieren: Gegenüber den ersten sechs Monaten verdreifachten sie die Angriffe in der zweiten Jahreshälfte 2024. Sie hoffen, dass wenigstens ein Teil der Flugobjekte durchkommt und so die Moral der Ukrainer weiter schwächt.

