Samstag, November 23

Wo stehen Forschung und Medizin im Bereich der Demenz heute? In einer Serie beleuchten wir aktuelle Entwicklungen. Zum Auftakt:
was Patienten und Angehörige bewegt, und was sie wirklich brauchen.

In den kommenden Jahren werden mehr Menschen an Demenz erkranken als je zuvor. Prognosen gehen davon aus, dass in der Schweiz im Jahr 2050 mehr als 315 000 Demenzpatienten leben werden, in Deutschland 2,7 Millionen. Das stellt die Gesellschaft vor grosse Herausforderungen. Was sich Patienten und Angehörige wünschen und was sie benötigen, haben sie mir in vielen Gesprächen und bei Besuchen berichtet. Sie erhoffen sich dringend, aber längst nicht nur, neue Medikamente.


Kontrollverlust macht Angst

Die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, ist für sehr viele Menschen eine Horrorvorstellung. Schon von klein auf wollen wir jede Woche mehr allein entscheiden. Es fängt an beim Reis mit oder ohne Petersiliendekoration, dann geht es um die Frage, ob Velo oder Bus für den Schulweg, später um ein Nasenpiercing oder ein Tattoo. Wir fühlen uns erst richtig erwachsen, wenn wir über unser Leben entscheiden können.

Umso schlimmer, wenn uns dann eine Krankheit genau das nimmt. Zwar krempelt eine Tumorerkrankung, ein Herzinfarkt oder eine chronische Erkrankung wie multiple Sklerose das Leben massiv um. Aber jede und jeder Betroffene kann noch mitdenken, Therapien zustimmen oder sie ablehnen. Doch das alles ist bei einer Demenz anders. Betroffene verlieren Monat um Monat ein Stückchen der Kontrolle über ihr Leben. Wird die Diagnose früh gestellt, wissen sie – noch bei vollem Bewusstsein –, sie kommt nie mehr wieder.


Eine Demenz verläuft
sehr individuell

Das macht Angst. Die Patienten fühlen sich wie nie mehr seit ihrer frühen Kindheit ausgeliefert an eine unbekannte Macht. Hinzu kommt die Unsicherheit, wie genau es weitergeht. Eine Demenz ist eine sehr individuell verlaufende Erkrankung. Niemand kann derzeit vorhersagen, was bei einer Patientin oder einem Patienten wann passiert, welches Defizit zuerst manifest wird.

Manche vergessen zwar früh die Namen sämtlicher Familienmitglieder, erkennen aber die Partnerin, den Partner bis kurz vor dem Tod noch und reagieren sehr glücklich auf die geliebte Person. Für andere verschwimmt alles im Nebel. Manche wissen schon nach kurzer Zeit nicht mehr, wie man die Zahnbürste benutzt, andere vergessen zuerst den Unterschied zwischen Toilette und Blumentopf.

Wider das Vergessen . . .

Endlich können Mediziner den Gedächtnisverlust hinauszögern. Jahrzehntelange Forschung hat die tückische Erkrankung namens Demenz aus ihrem Schattendasein geholt. In einer Serie beleuchten wir diese Entwicklungen.

Diese Urangst des totalen Kontrollverlusts macht eine Demenz so brutal. Und die Notwendigkeit, dem etwas entgegenzusetzen, den Verlauf zu verlangsamen, wenn man ihn schon nicht aufhalten kann, so dringlich.


Ein Medikament soll den geistigen Abbau verlangsamen

Noch immer leben Betroffene monate- wenn nicht jahrelang mit geistigen Veränderungen, die Angst auslösen und die sie zu Aussenseitern macht. Viele Patienten wünschen sich eine frühe und exakte Diagnose. Natürlich kann eine frühe Diagnose belasten. Aber sie bietet auch die Chance, Dinge zu regeln oder Wünsche zu realisieren, bevor es zu spät ist.

Mithilfe von Bluttests kann eine Alzheimer-Demenz mittlerweile deutlich früher und vor allem einfacher diagnostiziert werden. Sie schaffen medizinische Klarheit, wenn die Klarheit im Denken bereits spürbar abnimmt. Allerdings, für die anderen selteneren Demenzformen gibt es solche Tests noch nicht. Über die fachgerechte Anwendung der Tests berichten wir in einem Beitrag unserer Serie im Laufe der kommenden Wochen.

Zudem legen wir auch Fortschritte in der Therapie dar. Zwar existiert nach wie vor keine Heilung. Aber immerhin können einige wenige Medikamente das Fortschreiten des geistigen Verfalls verlangsamen. Auch das nur bei einer Alzheimer-Demenz. Noch weiss man nicht allzu viel über die erst seit wenigen Monaten in den USA oder China und demnächst auch in der EU verfügbaren Antikörper-Medikamente. Doch Expertinnen und Experten sind zuversichtlich: Die Phase des mit nur geringfügiger Hilfe selbstbestimmten Lebens dürfte sich verlängern. Damit wäre schon viel gewonnen.

Was wir uns alle wünschen: für alle Demenzformen einen ähnlichen Zustand wie bei vielen Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erreichen. Wer einen zu hohen Blutdruck hat, bekommt blutdrucksenkende Mittel. Wer zu hohe Blutfettwerte hat, bekommt Blocker. Schön wäre: Wer Ablagerungen und damit erste Anzeichen für die verheerenden Zerstörungen im Gehirn hat, erhält Medikamente, die den stetigen Verlust von Nervenzellen abbremsen.

Es ist durchaus möglich, dass wir dies in absehbarer Zeit erreichen. Die Chancen auf eine adäquate Betreuung standen zumindest für Alzheimer-Patienten dank den Fortschritten in Diagnostik und Therapie noch nie so gut wie derzeit.

Was von Patienten wie Angehörigen immer wieder gefordert wird und für sie genauso wichtig ist wie die medizinischen Innovationen: Demenz darf nicht mit Scham behaftet sein. Je früher die Familie die Demenz eines Angehörigen bekannt macht, je transparenter sie mit den zunehmenden Defiziten umgeht, desto mehr Hilfe und Verständnis bekommen Angehörige wie auch der Patient. Man darf, ja muss sich trauen, «es» zu sagen.

Die kryptischen Signale der Patienten verstehen lernen

Für Angehörige ist die Demenz eines Familienmitglieds und die damit verbundene Betreuung eine enorme Anstrengung. Daher benötigen sie Hilfe – und zwar genauso dringend, wie Betroffene neue Medikamente benötigen. Die Betreuung von Demenzpatienten ist nämlich so viel mehr als zeitintensive Organisation des Alltags. Es geht nicht nur darum, dass die Ehefrau oder der Lebenspartner oder die Kinder immer wissen, wo der Haustürschlüssel ist oder dass alle Arzttermine in den Kalender eingetragen wurden.

Angehörige und andere Betreuungspersonen müssen meist in mühevoller Kleinarbeit herausfinden, welche Beschäftigung einer Patientin oder einem Patienten zusagt. Der eine liebt tägliche Spaziergänge, die andere ist bei Näharbeiten wie Schürzen für Teddybären glücklich. Oft hilft Musik, aber es gilt, die individuell passende zu finden. Manche werden durch alte Schlager glücklich, andere entspannen sich durch Mozarts Klarinettenkonzert oder finden Trost in Kirchenliedern.

Angehörige müssen Tricks lernen, die den Alltag erleichtern. Und zwar sich und dem Erkrankten. Wie behält man die Nerven, wenn man zum zehnten Mal noch vor dem Frühstück gefragt wird, wie man geschlafen hat? Wie viel Hilfe für den Patienten ist nötig, wann ist Anleitung zur Selbsthilfe besser?

Viele Patienten werden unsicher und dann aggressiv, wenn sie mit einer der klassischen W-Fragen konfrontiert werden: Wie war es gestern beim Tanzen? Welchen Pullover möchtest du heute anziehen? Wie geht es dir? Denn wenn die demente Person merkt, dass sie nicht erwartungsgemäss geantwortet hat, wird sie unsicher. Und traurig. Auch das Essen kann erleichtert werden. Bunte Becher und Teller helfen, zumindest für einige Zeit, die Essensgeräte zu orten und dann auch zu benutzen.

Angehörige müssen die oftmals kryptischen Signale der Patientinnen und Patienten richtig deuten lernen. Demente Menschen kämpfen jeden Tag darum, noch ein bisschen Kontrolle zu behalten. Sowohl der Kampf und die Niederlagen als auch die Zerstörungen im Gehirn machen manche aggressiv. Oftmals liegt der Aggression eigentlich Angst und Überforderung mit der Umgebung zugrunde, die man zunehmend weniger versteht. Die unaufgeregte Nähe einer bekannten Person – auch wenn die Patienten den Namen vergessen haben – kann beruhigen.


Schulungen für Angehörige

Allein diese wenigen Beispiele zeigen, wie anspruchsvoll die Betreuung von dementen Personen ist. Und gerade in den ersten Jahren wird sie fast ausschliesslich von Angehörigen gestemmt. Doch diese benötigen sehr viele Informationen, wie sie mit ihren Schützlingen umgehen sollen. Alzheimergesellschaften, aber auch Hilfsorganisationen oder medizinische Betreuungsdienste haben das erkannt und bieten zunehmend Schulungen für Angehörige an.

Doch zum einen ist es nicht immer leicht, rechtzeitig, also mit der Demenzdiagnose, diese Informationen zu erhalten. Zum anderen ist die Hürde, Schulungen und generell Hilfe von aussen anzunehmen, für viele Angehörige hoch. Je mehr das Stigma, dement zu sein, verschwindet, desto einfacher ist der Alltag für alle.

Noch gibt es viele ungelöste Probleme. Aber es gibt auch positive Entwicklungen und Fortschritte in Medizin und Pflege. Und für jeden Einzelnen gibt es auch eine gute Nachricht. Weil die Ernährung vieler Menschen gesünder ist, Risikofaktoren von Demenz wie zu hoher Blutdruck oftmals behandelt werden, aber auch die Luft weniger verschmutzt ist, ist das Risiko einer heute 60-jährigen Person, eine Demenz zu entwickeln, geringer als das einer 60-jährigen Person vor zwanzig Jahren.

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