Mittwoch, Januar 15

Venezuelas Wirtschaft ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Dabei könnte das Land unter einer anderen Regierung sofort boomen.

Nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung hoffte vor den Wahlen optimistisch auf einen friedlichen Regierungswechsel. Auch viele Unternehmen und Investoren wünschten sich eine Ablösung des Regimes. Präsident Nicolás Maduro hat sich gerade für weitere sechs Jahre im Amt bestätigt. «Das ist unumkehrbar», sagte er – trotz offensichtlichen Manipulationen, die inzwischen auch von den Wahlbeobachtern des Carter Center festgestellt worden sind.

Das ist nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich eine bittere Enttäuschung: Denn das nach Bevölkerung und Fläche sechstgrösste Land Lateinamerikas könnte unter stabilen rechtsstaatlichen Verhältnissen in kürzester Zeit zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt werden. Alejandro Arreaza von Barclays schätzt, dass Venezuela unter einer neuen Regierung in den nächsten zwei Jahren sofort zweistellig wachsen könnte.

Das kleine Nachbarland Guyana macht vor, wie ein Land durch ausländische Investitionen in seine Ölindustrie unter einer geschickt agierenden Regierung seit zwei Jahren ein explosives Wachstum erreicht.

Die Wirtschaft könnte schnell zu einer Erfolgsgeschichte werden

Diese Erfolgsgeschichte könnte Venezuela wiederholen. Der Karibikstaat verfügt nicht nur über die grössten Ölreserven der Welt. Es hat nach zehn Jahren staatlicher Misswirtschaft und Korruption auch einen enormen Nachholbedarf an Investitionen. Multilaterale Geldgeber und eine Aufhebung der US-Sanktionen könnten die Ölproduktion in kurzer Zeit steigern, sagt Arreaza.

Die USA hatten die Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela wegen des Wahlbetrugs ab 2019 verschärft. Diese wurden im vergangenen Jahr gelockert, weil das Regime freie Wahlen versprach. Nun ist offen, ob die USA die Strafmassnahmen wieder in Kraft setzen.

Seit letztem Jahr dürfen ausländische Ölkonzerne wie Chevron, Eni und Repsol wieder eingeschränkt Öl in Venezuela fördern. Die Lizenzen wurden gerade von den USA verlängert. Sie wären also von einer erneuten Verschärfung der Strafmassnahmen wohl nicht betroffen.

Unter anderem wegen der Lockerung der Sanktionen erlebt Venezuela seit einiger Zeit eine wirtschaftliche Stabilisierung – allerdings auf niedrigem Niveau. So wird Venezuela laut Internationalem Währungsfonds (IWF) in diesem Jahr um rund 4 Prozent wachsen. Die Inflation für Verbraucher ist auf 160 Prozent gesunken. Das ist vergleichsweise wenig: 2018 lag die Geldentwertung bei einer Million Prozent. Seit drei Jahren ist der Dollar inoffizielles Zahlungsmittel.

Für Staatsangestellte und Soldaten, die in Bolívar bezahlt werden, ist das bitter: Der monatliche Mindestlohn beträgt umgerechnet immer noch rund 3 Dollar. Hinzu kommt für Angestellte ein staatlicher Lebensmittelkorb im Wert von etwa 40 Dollar. Bedürftige erhalten weitere 90 Dollar, wenn sie über die «Vaterlandskarte» bei der staatlichen Sozialversicherung registriert sind.

Viele Auswanderer hoffen auf eine Rückkehr

Viele Venezolaner werden von Verwandten im Ausland unterstützt. Davon gibt es inzwischen viele: Rund acht Millionen Menschen – etwa ein Viertel der Bevölkerung – haben in den elf Jahren unter Maduro das Land verlassen. Das betrifft alle sozialen Schichten und bedeutet für das Karibikland einen gigantischen Braindrain und einen ebensolchen Verlust an Arbeitskräften. Viele der Auswanderer hoffen, nach einem Abgang Maduros nach Venezuela zurückkehren zu können. Denn die meisten Emigranten sind nicht freiwillig gegangen, sondern aus wirtschaftlicher Not.

Der Abstieg Venezuelas von einer der reichsten Volkswirtschaften Lateinamerikas in 25 Jahren Linksregierung, erst unter Hugo Chávez und jetzt unter Maduro, ist gewaltig: Die Wirtschaftsleistung ist in elf Jahren um drei Viertel geschrumpft. Mit einem Bruttoinlandprodukt von rund 100 Milliarden Dollar liegt Venezuela heute nur noch knapp vor Uruguay, das nur ein Zehntel der Einwohner Venezuelas hat. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 8500 Dollar – etwa so wie in Bangladesh.

Dabei hatte Venezuela noch vor fünfzig Jahren eine breite Mittelschicht wie kaum ein anderes Land der Region. Sie ist heute weitgehend verschwunden. Einkommensarmut betrifft in Venezuela 85 Prozent der Bevölkerung. Die öffentliche Versorgung mit Krankenhäusern, Schulen und Universitäten funktioniert nur noch rudimentär.

Die wenigen Reichen mit Verbindungen zum Regime leben in Saus und Braus. Nicht umsonst steht Venezuela auf der Liste der korruptesten Staaten der Welt von Transparency auf Platz 177 (von 180 Staaten).

Die meisten Reichen trauen sich nicht ins Ausland, aus Angst, verhaftet zu werden, oder weil sie auf den Sanktionslisten der USA stehen. Also fahren sie mit ihren Lamborghinis und Porsches durch Caracas und feiern rauschende Feste. Wer Zugang zu Dollars hat, bestellt in Miami bei spezialisierten Firmen auch Dinge des täglichen Bedarfs und Medikamente – und bekommt sie drei Tage später per Kurier geliefert.

Venezuela müsste umschulden – darf es aber nicht

Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 36 Prozent. In den ehemaligen Industriegebieten Venezuelas um Caracas oder Valencia sind fast alle Fabriken und Anlagen seit Jahren geschlossen und meist verlassen.

Um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, müsste die Regierung eine Umschuldung der Auslandsschulden organisieren. Erst dann könnten westliche Geldgeber wie Unternehmen wieder offiziell im Land investieren.

Seit 2017 bedient Venezuela seine Schulden in Höhe von rund 150 Milliarden Dollar nicht mehr. Zuvor gehörte Venezuela über viele Jahre zu den Staaten, die trotz hohen Aufschlägen stets zuverlässig Zins und Tilgung auf ihre Anleihen gezahlt haben.

Doch der Weg zurück an die internationalen Finanzmärkte ist Venezuela versperrt: Gläubiger dürfen wegen der US-Sanktionen nicht mit Venezuela verhandeln.

Die grössten Hoffnungen setzt die Regierung nun darauf, dass die leichte Erholung der Ölindustrie anhält und das Wachstum weiter stützt: So schätzt Barclays, dass Venezuelas maroder Ölsektor zahlreiche Möglichkeiten für eine kurzfristige und kostengünstige Sanierung bietet. Steigerungen von mehr als 250 000 Barrel pro Jahr seien jedoch eine Herausforderung.

Vor der Wahl prognostizierte die Investmentbank einen Anstieg der Ölproduktion von derzeit 850 000 auf zwei Millionen Barrel pro Tag bis 2030. Nun dürfte es von der nächsten US-Regierung abhängen, welche Politik sie gegenüber Venezuela verfolgt – und damit, wie stark der Ölstaat wachsen wird.

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