Donnerstag, November 28

Manche Investoren, die sich über eine Outperformance ihrer Aktien freuen, sind kurzfristig hohe Risiken eingegangen. Bei einer Marktkorrektur müssen sie damit rechnen, dafür zu büssen. Gerade im derzeitigen Umfeld kann es sich lohnen, das Risikoprofil mit dem Beta-Faktor im Griff zu halten.

Für die Aktienanleger läuft es in die richtige Richtung. Die Aktienmärkte haben weiter Momentum. Der weltweit massgebende US-Index S&P 500 ist in sieben Monaten seit dem Zwischentief Ende Oktober um fast 30% gestiegen, der Schweizer Leitindex SMI hat gleichzeitig immerhin 16% zugelegt. Die Anlageprofis sind so bullish wie zuletzt im November 2021.

Es dominiert ein überaus rosiges Szenario. Die Zinssenkungsfantasien sind gegeben, die Wirtschaft zumindest in den USA zeigt sich dank der grosszügigen Fiskalpolitik robust, und die meisten glauben an eine weiche Landung. Vorsichtige Stimmen mit einer negativen Meinung zu Aktien sind kaum mehr zu vernehmen.

Beta hilft zur Risikodiversifizierung

Doch je mehr die Aktienkurse und die Unbesorgtheit steigen, umso mehr ist es geboten, Risiken im Portfolio im Auge zu behalten. Ein Instrument dafür ist der Beta-Faktor – für manche Profis bildet er einen ersten, zentralen Baustein im Aufbau eines diversifizierten Aktienportfolios: Er zeigt an, wie sensitiv eine Aktie auf Veränderungen des Gesamtmarktes reagiert, und hilft damit den Investoren bei der Steuerung der Anlagerisiken.

Ein Beta von unter 1 besagt, dass die Aktie weniger stark schwankt als der Vergleichsmarkt. Ein klassisches Beispiel dafür ist Nestlé: Die Titel des Nahrungsmittelkonzerns haben über zwanzig Jahre hinweg betrachtet ein Beta von rund 0,8. Das heisst, steigt der Vergleichsindex, hier der breite Swiss Performance Index (SPI), um 10%, legen sie im Durchschnitt rund 8% zu.

Umgekehrt verlieren sie während einer Marktkorrektur auch deutlich weniger. So sank der SPI (ohne Dividendenadjustierung) in der Finanzkrise vom Höchst 2007 bis zum Tiefst im März 2009 um 55,7%. Die Nestlé-Aktie verlor vom Höchst zum Tiefst zwar 37%, verhielt sich damit aber relativ defensiv. Dazu kam, dass Nestlé selbst in jenen Krisenjahren die Dividende erhöhte, was die Gesamtrendite entsprechend besserte. Mit solchen Valoren lässt sich das Risiko im Portfolio dämpfen.

Das hohe Beta von Bankaktien

Demgegenüber schwanken die Kurse von Papieren aus zyklischen Branchen und von Finanzwerten naturgemäss stärker als der Markt. So weisen die Titel der Grossbank UBS ein hohes Beta von 1,3 auf. Dazu passt, dass sie sich im jüngsten Marktaufschwung seit Ende Oktober mit einem Plus von 32% klar besser entwickelt haben als der SPI.

Fundamental betrachtet haben die Bankaktien in jüngerer Zeit aufgrund ihrer grossen Zinssensitivität outperformt. «Denn höhere Zinsen führen zu höheren Zinsmargen und Gewinnen der Institute», erläutert Martin Schlatter, Leiter von Swiss Rock Asset Management. Aber was passiert, sollten die Zinsen wieder sinken? Laut Schlatter würde ein Rückgang des Zinsniveaus um 1 Prozentpunkt den Banken wohl nicht gross schaden, zumal tiefere Zinsen auch das Risiko von Kreditausfällen reduzieren und die Auflösung von Rückstellungen ermöglichen.

Insofern ein Zinsrückgang den Aktienmärkten auf breiter Front weiteren Schub verleihen würde, müsste die mit einem hohen Beta versehene UBS-Aktie weiterhin überdurchschnittlich profitieren – umgekehrt sollte sie bei einem Marktabschwung aber stärker in Mitleidenschaft gezogen werden.

UBS: Risiken heruntergefahren

Das Beispiel UBS wirft aber auch ein Schlaglicht auf die Frage, über welche Zeitdauer der Beta-Faktor zu berechnen ist: Wird zum Beispiel die Berechnung anhand der Daten der letzten zwanzig Jahre durchgeführt, wird auch das Verhalten der Aktien in grossen Krisen wie der Finanzkrise oder der Pandemie erfasst.

Andererseits ist zu berücksichtigen, dass Unternehmen sich verändern können, was gerade im Fall UBS gegeben ist: Die Grossbank hatte vor der Finanzkrise im Investment Banking eine aggressive Strategie gefahren und wurde 2008 mit staatlicher Hilfe gerettet. In der Folge, so Schlatter von Swiss Rock, habe sie sich anpassen und ihre Risiken herunterfahren müssen, was sich auch in einem etwas tieferen Beta reflektieren sollte.

Defensiv und doch verschieden

Die Schwäche des Beta-Faktors besteht darin, «dass er spezifische Charakteristika der betreffenden Unternehmen nicht berücksichtigt», sagt Schlatter. Wie unterschiedlich Gesellschaften aus derselben Branche mit ähnlichem Beta sich entwickeln können, zeigt das Beispiel der Basler Pharmakonzerne Novartis und Roche.

Die Titel von beiden gelten als defensiv, wobei das Beta der Roche-Genussscheine wie der Novartis-Aktien um 0,9 liegt. Die Kursentwicklung unterscheidet sich allerdings stark. So haben die Genussscheine von Roche seit dem Höchst im April vor zwei Jahren 43% verloren, während die Novartis-Valoren zeitgleich 11% zugelegt haben und nahe an ihrem Allzeithoch vom Januar notieren.

Die Marktgewichte haben sich dadurch verschoben: Noch Ende 2021 wies Roche, als damals zweitwertvollstes Pharmaunternehmen der Welt, einen Börsenwert von 332 Mrd. Fr. auf und schien den Basler Nachbarn, der 195 Mrd. Fr. auf die Waage brachte, abgehängt zu haben. Nun ist Novartis, trotz der letztjährigen Abspaltung der Generikatochter Sandoz, mit einem Börsenwert von gegen 190 Mrd. Fr. etwas wertvoller als Roche.

In anderen Phasen der Entwicklung

Novartis hat denn auch eine Transformation durchgemacht und neben Sandoz die Augenheiltochter Alcon abgespalten. Die Anlagestory von einem fokussierten Pharmakonzern, der sich auf Therapiebereiche mit attraktiven Wachstumsaussichten konzentriert, scheint bei den Investoren mehr und mehr zu verfangen.

Dagegen ist der Roche-Konzern in eine Schwächephase geraten. Er gilt unter Anlageprofis immer noch als einer der besten Motoren für Forschung und Entwicklung in der Pharmabranche, hat aber ein paar Fehlschläge erlitten. Inzwischen versucht er auch, sich seinen Anteil am boomenden Markt für Abnehmpräparate zu holen: Nachdem Roche am vorletzten Donnerstag starke Studiendaten zu einem Produktkandidaten in der frühen Entwicklung präsentierte, haben die Genussscheine prompt kräftig zugelegt und sich vom Mehrjahrestief von Anfang Mai entfernt.

Neutrales Beta beugt Enttäuschungen vor

Die spezifischen Entwicklungen bei den Pharmakonzernen dienen Schlatter als Bestätigung dafür, dass der Einsatz des Beta vor allem im Kontext eines Portfolios Sinn macht. Der Faktor zeige an, ob ein Portfolio aggressiv oder eher defensiv aufgestellt sei: «Ein hohes Beta von 1,2 bedeutet, dass eine Outperformance in einer Aufschwungphase mit höheren Risiken erkauft worden ist.» Korrigiere der Markt, würden auch die Verluste überdurchschnittlich ausfallen.

Das führe ebenso wie eine unterdurchschnittliche Entwicklung während einer Hausse zwangsläufig zu Enttäuschungen, fügt Schlatter an: «Wir versuchen daher, in unseren Portfolios das Beta neutral auf 1 zu halten.»

Indizes im Vergleich

Aussagekraft besitzt der Beta-Faktor auch im Vergleich von Indizes. Als weltweiter Vergleichsmassstab dient normalerweise der MSCI World Index, der die Wertentwicklung von rund 1500 Unternehmen in 23 Industrieländern abbildet.

Der viel beachtete amerikanische Leitindex S&P 500, der die Aktien der 500 grössten kotierten US-Gesellschaften umfasst, hat zum MSCI World ein adjustiertes Beta von 1,03. Das heisst, die beiden Indizes bewegen sich recht ähnlich und weisen vergleichbare Kursschwankungen auf – was nicht überraschen kann. Denn die Titel aus den USA haben, nach einer über viele Jahre sehr starken Wertentwicklung insbesondere der grossen Tech-Valoren, einen dominierenden Anteil am MSCI World von etwa sieben Zehnteln.

Der MSCI Europe, der 420 Aktien aus fünfzehn Ländern des alten Kontinents umfasst, hat zum MSCI World ein adjustiertes Beta von 0,96. Er schwankt damit etwas weniger als sein globales Pendant.

SMI hebt sich deutlich ab

Im Vergleich mit den Schweizer Indizes fallen die Unterschiede viel deutlicher aus. Der SMI hat zum MSCI World ein Beta von 0,77 – was den defensiven Charakter des schweizerischen Standardwertebarometers eindrücklich unterstreicht. Allerdings verdankt sich dieser Charakter insbesondere den drei Schwergewichten Nestlé, Novartis und Roche, die zusammen rund 46% des SMI bestimmen.

Der SPI Extra, der die Entwicklung von Schweizer Aktien ohne die SMI-Titel abbildet, ist auch relativ defensiv, aber einiges weniger als das Standardwertebarometer selbst. Er weist zum MSCI World ein Beta von 0,87 aus.

Den Investoren, die über Exchange Traded Funds (ETF) in Länderindizes investieren, geben solche Vergleiche aussagekräftige Informationen. Ein ETF auf einen Index mit einem niedrigen Beta wie den SMI eignet sich besonders für eine Phase des Risk off, wenn unter den Investoren die Risikoneigung abzunehmen beginnt und sie eher sichere Anlage bevorzugen.

Sinnvoll im Portfoliokontext

Wenn die Anlegerstimmung zu kippen beginnt und die Risikobarometer deutlich nachgeben, ist es ratsam, das Portfolio nochmals unter die Lupe zu nehmen und zu prüfen, inwieweit Anlagen mit einem hohen Beta wie zum Beispiel eine Häufung von Finanzwerten oder zyklischen Titeln sich durch Alternativen mit einem niedrigeren Beta ersetzen lassen.

Wie Schlatter hervorhebt, sei der Beta-Faktor im Kontext eines Portfolios «sehr hilfreich». Für eine einzelne Aktie könne er bei hohen titelspezifischen Risiken allerdings wenig aussagen. Zudem sei er über die Zeit variabel, gerade wenn ein Unternehmen einen Wandel durchmache. Solche Effekte seien im Zusammenhang eines Portfolios aber weniger spürbar, so Schlatter.

Grundsätzlich gelte, dass ein Portfolio mit einem hohen Beta im Vergleich zur Benchmark langfristig eine entsprechend höhere Rendite bringe, unter Inkaufnahme höherer Risiken und Kursschwankungen. Es ist letztlich eine Frage der Risikobereitschaft und des Durchhaltevermögens: Wer mit einem hohen Beta das Renditepotenzial seines Portfolios erhöhen will, muss bereit und fähig sein, stärkere Kursschwankungen zu akzeptieren und allenfalls eine längere Durststrecke durchzustehen.

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