Die jüngsten Turbulenzen sind noch nicht der Beginn eines Bärenmarktes. Ankündigen würde sich eine Baisse durch eine technisch schwache Erholung.
Derzeit erleben wir die Ausläufer emotionalisierter Politik in die Finanz- und Kapitalmärkte.
Wie Mark Dittli in seinem Beitrag vom 11. April sehr treffend geschrieben hat, sind die Finanzmärkte in der Regel sehr effizient darin, Informationen zu verarbeiten. «Doch dieser Mechanismus versagt, wenn die Märkte mit einem Schock konfrontiert sind, der sie in einen Zustand extremer Ungewissheit versetzt.»
Das ist in diesem noch jungen Monat April mindestens zweimal geschehen und wird weiterhin geschehen.
Da kann man zunächst Trost in der Feststellung des französischen Philosophen Raymond Aron finden: «Wenn es zu dumm wird, höre ich auf zu verstehen.»
Das scheint vielen so zu ergehen, daher die hohe Volatilität an den Märkten. Gerade in solchen Phasen gibt es für mich nur eine Norm: Genau nach den Regeln agieren, die man für jede Situation aufgestellt hat.
Besonders jetzt darf man jedoch nicht der Versuchung erliegen, mehr aus den Preissignalen und aus anderen Informationen herauszulesen, als sie hergeben. Im Interview mit der «NZZ am Sonntag» vom 13. April hat Professor Tobias Straumann treffend festgestellt: «Alle wollen in einer Krise immer strategische Weitsicht beweisen. Dabei wäre es genau in solchen Momenten wichtig, die kurzfristigen Probleme zu lösen und langfristige Entscheidungen zu vermeiden, weil man nicht weiss, wohin die Reise geht.»
Worum geht es?
Es geht darum, im grundsätzlich nicht prognostizierbaren Marktsystem im Rahmen der Strategie die optimalen taktischen Schritte zu setzen mit dem Ziel, komparative Vorteile zu erlangen.
In einem Bekenntnis zum philosophischen Existentialismus sagt Tony Judt im Diskurs mit Timothy Snyder, in Buchform erschienen unter dem Titel «Thinking the Twentieth Century» folgendes: «Well, says the postwar existentialist, here we are, having to make our own history, but we didn’t get to choose the circumstances».
Die Umstände, unter denen wir agieren, können wir tatsächlich nicht wählen, aber den Umgang mit ihnen definieren wir selbst. Das ist ein eiserner Grundsatz des Existentialismus.
Und wenn wir in einem System agieren, in dem die Handlungen aller anderen den Erfolg des Einzelnen bestimmen, müssen wir einen Massstab haben, mit dem wir den Grad unserer Übereinstimmung mit dem Ergebnis aller Handlungen ebenso messen können wie unseren Erfolg oder Misserfolg im Verhältnis dazu. Das heisst: Wir müssen eine Messlatte wählen und mit dieser Messlatte als Kompass arbeiten.
Welche Messlatte ist die Richtige?
Für die meisten professionellen Investoren ist es eindeutig der MSCI Welt. Dieser Wahl schliesse ich mich vorbehaltlos an.
Neuerdings ist dieser Index aber in die Kritik geraten.
Das Gewicht des US-Marktes von rund 70% und die hohe Gewichtung einiger weniger mega-kapitalisierter Werte sind das Ziel der Kritik, die mich aber nicht überzeugt.
Der MSCI Welt soll nicht das Anlageobjekt sein, sonst wäre er keine Messlatte. Er gilt als Messlatte für das, was man bereits hat, und das, was man zu kaufen gedenkt und was man verkaufen muss.
Als Anlageobjekt dient er nur kurzfristig, wenn man überschüssige Liquidität hat, aber nicht richtig weiss, wo man diese investieren will.
Wenn sich die Kapitalisierung des US-Marktes stärker zurückbildet als die anderer Märkte, sind der MSCI USA oder der S&P 500 relativ schwach und andere Indizes relativ stark zum MSCI Welt.
Das trifft nicht nur auf regional organisierte Indizes, sondern auch auf Sektor- und Industrieindizes zu.
Dass der S&P 500 über längere Zeiträume relativ schwach war, hat es schon gegeben, wie von November 1976 bis Oktober 1978, von Februar 1985 bis November 1988, von Januar 1993 bis Dezember 1994 und von April 2003 bis August 2008.
Um einen Zahlenfriedhof zu vermeiden, greife ich einfach die letzte Periode relativer Schwäche des S&P 500 zum MSCI Welt heraus, nämlich jene von April 2003 bis August 2008.
In diesem Zeitabschnitt legte der MSCI Welt 65,3% zu, der S&P 500 38,3% und der Stoxx Europe 600 63,7%.
Aktuell ist vor breiten Indizes zu warnen
Die Marktbreite ist seit langem sehr bescheiden. Sie variiert um die 40 bis 50%, je nach Markt.
Das ist nicht erstaunlich, denn die Kursavancen bis vor dem April-Crash sind auf einzelne Industrien in wenigen, relativ starken Sektoren zurückzuführen.
Das Gewicht der Sektoren in einigen Indizes wie dem Euro Stoxx 50 oder dem Dax hat in allen Regionen zu starken Divergenzen kleinerer Indizes relativ zu den breiten Barometern geführt. Und zwar Divergenzen in beide Richtungen, nach oben wie nach unten.
Die Schere zwischen dem Stoxx Europe 600 und dem S&P 500, die sich seit der Wahl von Präsident Trump bis vor zwei Wochen zugunsten des Stoxx Europe 600 öffnete, hat sich mittlerweile geschlossen. Dass dies zu erwarten war, zeichnete sich bereits in den Daten ab, die ich in meinem Beitrag vom 3. April publiziert hatte.
Selbst der ab Ende 2024 bis Anfang März relativ schwache Topix hat den Anschluss an MSCI, S&P 500 und Stoxx Europe 600 gefunden.
Was bedeutet die neueste Panik?
Wenn Panik ausbricht, gleichen sich die Indizes an.
Doch Panik ist kein Dauergast.
Somit stellt sich die Frage nach dem Raum, den man Kursschwankungen in einer Panik geben möchte.
Es ist sehr wichtig, zwischen einem Crash, einer Korrektur und einem Bärenmarkt zu unterscheiden. Und zwar deshalb, weil ein Bärenmarkt eine Revolution gegen ein Paradigma ist, das sich in einem geschlossenen pfadabhängigen System gebildet hat. Auf den Trümmern dieser Revolution bildet sich für mehrere Monate der Boden für eine neue Hausse.
Sowohl ein Crash als auch eine Korrektur entstehen in einer Marktphase ohne Paradigma. Es handelt sich in einem pfadabhängigen System um eine Bifurkationsphase, in der ein Paradigma gesucht wird. Solange die Suche läuft, ist die Volatilität relativ hoch, selbst wenn keine exogenen Schocks stattfinden. Wir haben es 2022 gesehen, als im Oktober eine Korrektur abrupt endete, die in eine Wiederaufnahme des alten Aufwärtstrends mündete, der bis zur Kursspitze im Februar dieses Jahres im MSCI Welt einen Gewinn von 64,4% in Dollar einbrachte. Davon ist am Tag, an dem dieser Artikel verfasst wurde, immer noch ein Gewinn von 46% übrig.
Die meisten Kommentaren waren von September 2022 bis in das Jahr 2023 hinein der Meinung, es handle sich nur um eine Bärenmarktrally und nicht um die Fortsetzung des alten primären Aufwärtstrends. Dies, weil sie sich mental verrannt hatten in Überzeugungen, die sich ganz einfach als falsch herausstellten, was der oft unterschätzten Weisheit der Massen nicht entgangen war. Es handelte sich um Annahmen zu Konjunktur und Inflation mit einer völlig falschen Einschätzung der Halbleiterindustrie auf breiter Front.
Damit kann man arbeiten
Das primäre Instrument zur Definition des Trends und zur Feststellung der Volatilitätstoleranz ist die Kombination von 40- und 20-Monate-Bollinger-Bändern.
Ein Rückschlag in einem primären Aufwärtstrend kann ein Crash oder eine begonnene Korrektur sein, aber kein Bärenmarkt. Ein Bärenmarkt wird erkennbar, wenn nach dem Rückschlag eine technisch schwache Erholung einsetzt.
Nun zeige ich Ihnen einen Chart des MSCI Welt seit dem 31. Dezember 2004 mit Monats-Kerzencharts, dem gestrichelten 20-Monate-Bollinger-Band und dem durchgezogenen 40-Monate-Bollinger-Band:
Gelb markiert ist der Spielraum, den ich politischen Börsen zugestehe. Im MSCI Welt liegt er zwischen etwa 3100 und knapp 4000 Punkten.
In diesem Bereich darf es nicht zu einer technisch schwachen Erholung kommen, wie das im Jahr 2008 geschehen ist (orange markiert).
Wenn es zu technisch schwachen Erholungen kommt, gibt es noch eine ganze Reihe von Tests, die ich durchführe, bevor ich einen Bärenmarkt ausrufe.
Auf einen offenen Ausgang setzen
MSCI Welt, MSCI USA und S&P 500, MSCI Europa und DJ Stoxx Europe 600, Nikkei 225 und Topix in Japan sowie die meisten Sektoren, aber nicht alle Industrien, befinden sich in Bifurkationsphasen. Das spricht dafür, dass die Volatilität hoch bleibt, weil sehr viele Marktteilnehmer der Versuchung erliegen werden, der neuesten Nachricht ein höheres Gewicht zu geben als allen sorgfältig verarbeiteten Informationen. Eigentlich sollte das ein Anfängerfehler sein.
Es gibt viele Gründe, warum die Zollpolitik der amerikanischen Regierung sehr negative Folgen auf die US-Konjunktur und wahrscheinlich weltweit haben kann. Es gibt aber auch sehr viele Gründe, damit nicht so umzugehen, als wäre es sicher, dass eine schädliche Zollpolitik auf Gedeih und Verderb durchgezogen wird. Oder zu ignorieren, dass die keynesianische Orientierung der kommenden deutschen Bundesregierung ungeahnte Wachstumsschübe auslösen könnte. Dass es Überraschungen geben kann, haben wir zuletzt in den ersten zwei Aprilwochen erfahren dürfen. Und nicht nur das: Es liegt in der Natur der Märkte, dass auf dem Weg von der Gegenwart in die Zukunft neue Einsichten und Erkenntnisse auftauchen, die neue Handlungen mit wirtschaftlichen Folgen auslösen können.
Wer sich zu früh auf einen Bärenmarkt festlegt, wird sich der Wahrnehmung positiver lokaler, sektorieller oder industriespezifischer Entwicklungen verweigern.
Daher zum Abschluss noch ein Wort zum letzten grossen Bärenmarkt, der im Oktober 2007 begann. Dreizehn Industrieindizes erreichten ihr Höchst im Mai 2008, zwölf im Juni 2008, zwei im Juli 2008 und drei im August 2008. Selbst in einem Bärenmarkt, der von der Dysfunktionalität des alle Personen und Unternehmen betreffenden Finanzsystems induziert wurde, sind mehrere Industrieindizes über Monate verschont geblieben.
Ich kenne die Zukunft nicht. Aber so wie Sie kenne ich einiges aus der Vergangenheit, und dieses Wissen stellt für mich eine Warnung dar, nicht zu früh auf einen Bärenmarkt zu setzen. Mein Mantra bleibt: in dubio pro tauris.
Alfons Cortés