Mittwoch, Oktober 2

Wer an Belgien denkt, denkt an Pommes, Waffeln und schlechtes Wetter. Aber Granaten und Entführungen? Besuch in einem Land, in dem Drogengewalt zur Normalität geworden ist.

Einige Zuschauer drehen sich weg, als die Richterin das Video abspielen lässt. Auf dem Bildschirm im Gerichtssaal der belgischen Kleinstadt Turnhout ist ein Mann mit rotem Bart und Glatze zu sehen, der fanatisch in sein Smartphone schreit: «Schneide ihm den Finger ab. Komm schon, tschak, tschak, tschak, volles Rohr. Schneid dem Jungen den Finger ab.»

Der Mann heisst Yersen V., ist 38 Jahre alt und sitzt an diesem Mittwoch im Mai 2024 mit gesenktem Blick im Gerichtssaal. Auch er will nicht mehr sehen, was er im Februar 2023 per Handy befohlen hat.

«Bruder, pass auf, dass das gut in die Kamera kommt. Wahahahaha, das ist echte Schönheitschirurgie.»

Heute trägt V. Handschellen und einen Nike-Trainingsanzug. Ein Drogenboss in Freizeitkleidung. Vor einem Jahr hingegen sass er noch in seiner Villa im spanischen Marbella. Von hier aus schrie er die Befehle in sein Handy und sendete sie per Video-Call in ein dunkles Lagerhaus am Rande von Antwerpen, Belgien.

«Jetzt werden wir ein Schwein quieken hören. Hehehehe.»

Am Boden dieses Lagerhauses sitzt ein nackter Mann, er stöhnt und schreit. Er ist voll Blut, hat die Hände auf dem Rücken gefesselt. Um ihn herum stehen mehrere Männer. Einer filmt für den Boss in Marbella, wie die anderen dem Opfer «Dieb» auf seine Stirn ritzen, wie sie Ammoniak in seine Wunden giessen, wie sie ihn schlagen und treten – und am Ende seinen kleinen Finger abschneiden.

Dreizehn Minuten dauert der Videoanruf. Am Ende sagt Yersen V.: «Da siehst du, was passiert, wenn du mich bestiehlst.»

Die Szene wirkt mit ihrer Grausamkeit fast surreal, wie aus einer Episode der Netflix-Serie «Narcos». Drogenkrieg in Südamerika, alles weit weg.

Nur, das hier ist nicht Netflix. Und es geschieht auch nicht weit weg, sondern im vermeintlich friedlichen Herzen der Europäischen Union. Waffeln, Pommes und schlechtes Wetter: Das sind die Klischees, die einem zu Belgien einfallen. Aber Folter?

Das Land hat eine dunkle Seite. Und diese dunkle Seite hat einen Namen: Kokain. Letztes Jahr haben die Behörden 116 Tonnen sichergestellt – ein Rekord. Der Hafen von Antwerpen ist damit Europas Kokaindrehscheibe Nummer eins, noch vor Rotterdam oder Hamburg. Laut Schätzungen schmuggeln Kartelle bis zu tausend Tonnen pro Jahr ins Land.

Tausend Tonnen, das sind Einnahmen von 50 Milliarden Euro.

Belgien ist Europas Kokainverteilzentrum geworden – ein Land, das immer mehr unter der Gewalt der Drogenkartelle leidet. Ein Land auch, in dem der Justizminister entführt werden sollte und Journalisten, Anwälte und Polizisten ihr Leben riskieren. Belgien ist ein Land, in dem die Bevölkerung der grössten Hafenstadt mit Granaten, Schüssen und Entführungen terrorisiert wird.

Wie konnte es bloss so weit kommen? Ist Belgien auf dem Weg, ein Narco-Staat zu werden, in dem die Drogenmafia nach der Macht greift und Folter zur Tagesordnung gehört?


1. Die Folter

Im Gerichtssaal in Turnhout wird langsam klar, warum der damals 37-jährige Mann auf dem Betonboden jenes Antwerpener Lagerhauses gelandet ist. Er soll Yersen V. 75 Kilo Kokain gestohlen haben. Unter Drogenhändlern reicht der blosse Verdacht aus, um einen Menschen zu foltern und zu verstümmeln. Und ihn am Ende zu töten. So lautete wohl zumindest der Plan in diesem Fall, wie die Staatsanwaltschaft glaubt.

Nach der Tortur im Lagerhaus schleppten die Folterer ihr schwer verletztes Opfer in einen weissen Peugeot Boxer. Ihr Auftrag: den Mann über die nahe gelegene Grenze in die Niederlande zu bringen und ihn dort im Niemandsland zu erschiessen. Das hätte später die Aufklärung des Mordes erschwert.

Zwei Staaten, zwei Behörden, ein einziges Durcheinander.

Doch so weit kam es nicht. Eine Panne rettete dem Mann das Leben. Ein Ölfilter des weissen Peugeots ging kaputt, das Auto fuhr nicht mehr weiter. Statt ihn zu töten, liessen seine Entführer den Mann in der belgischen Pampa zurück.

Am nächsten Tag taumelte einem Gemeindearbeiter auf einer Forststrasse ein blutüberströmter Mann entgegen, dem ein Finger fehlte.

Die Rettungskräfte fanden diesen später in seiner Jackentasche.

Das Gericht wird Yersen V. zu einer Freiheitsstrafe von 17 Jahren verurteilen. Vom Vorwurf des versuchten Mordes spricht es ihn frei – aus Mangel an Beweisen.

Der Fall sorgt wegen seiner Grausamkeit in Belgien zwar für Aufsehen, aber einen Aufschrei gibt es nicht. Zu normal ist die Gewalt der Drogenbanden geworden.

Einer der Journalisten im historischen Saal von Turnhout ist Patrick Lefelon, Mitte fünfzig, Polizeireporter. Lefelon schreibt für die grösste Zeitung des Landes: «Het Laatste Nieuws», zu Deutsch: die aktuellsten Nachrichten. Später wird er titeln: «Gericht steht unter Schock, als das Horrorvideo gezeigt wird.»

Der Reporter weiss aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, ins Visier der Drogenmafia zu kommen.


2. Die Fehleinschätzung

Patrick Lefelon ist seit über dreissig Jahren Journalist. Nur wenige haben den Aufstieg der Drogenkartelle in seinem Land so genau verfolgt wie der Polizeireporter aus Antwerpen.

Hinter einem Bier in seiner Lieblingsbar in der Stadt erklärt er, wie es so weit kommen konnte mit Belgien. «Ich muss manchmal lachen, wenn ich die Schlagzeilen von früher lese», sagt der Reporter.

Es waren Sensationsmeldungen wie: «Zehn Kilo Kokain konfisziert! Ein riesiger Erfolg für die Polizei!» Lefelon schüttelt ungläubig den Kopf. «Heute ist eine beschlagnahmte Tonne höchstens noch eine Randspalte wert.»

Eine Tonne Kokain, Strassenverkaufswert: 50 Millionen Euro. Eine Randspalte?

Vor zwanzig Jahren war das anders. Damals seien Franzosen in die Stadt gekommen, um grosse Mengen an Marihuana zu kaufen. Lefelon lacht. «Das war früher unser Drogenproblem.»

Doch dann kam das Kokain. Und zwar mit den exotischen Früchten. Anders als Rotterdam gibt es im Hafen von Antwerpen ein Terminal für Obst aus Zentral- und Südamerika. Aus Kolumbien zum Beispiel oder Mexiko. Doch von dort, wo die Mangos, Papayas und Avocados herkommen, stammt auch das begehrte weisse Pulver.

«Dieses Terminal war das Eingangstor für Kokain», sagt Lefelon. Meist war es zwischen Bananenschachteln versteckt. Eine Methode, die bis heute Bestand hat. Am Anfang habe sich kaum einer für das Rauschgift interessiert, auch nicht die Polizei. «Sie kümmerte sich lieber um Diebstähle im Hafen, um geschmuggelte Zigaretten und andere Drogen.»

Ein Fehler, denn so gelang der Kokainmafia ein steiler Aufstieg. Heute verschlingt der Krieg gegen die Drogen riesige Ressourcen: Ein Viertel aller Fälle, die die Polizei und die Staatsanwaltschaft beschäftigen, dreht sich um Drogenkriminalität. «Eine unglaubliche Zahl», sagt der Reporter.

Trotzdem treten die Kartelle so stark, so selbstbewusst und so erbarmungslos auf wie nie. Nichts illustriert dies besser als die Entführungspläne gegen den damaligen Justizminister Vincent van Quickenborne im Herbst 2022.

Hundert Meter von seinem Wohnsitz entfernt entdeckten Ermittler ein Auto mit Schusswaffen, Kabelbindern und Benzin. Eine Woche lang musste der Minister in einem Safe House verbringen – einer geheimen, bewachten Unterkunft.

In einem Interview mit der Zeitung «The Brussel Times» sagte van Quickenborne später: «Wir haben eine neue Phase des Narco-Terrorismus erreicht in unserem Land.» Er glaube, es werde noch schlimmer. Weitere Tragödien würden folgen.

Nur wenige der Verbrechen der Drogenmafia kommen an die Öffentlichkeit. Die meisten spielen sich im Verborgenen ab. Die Polizei etwa schätzt, dass neun von zehn Entführungen nicht bekannt werden, da weder Täter noch Opfer ein Interesse haben, zur Polizei zu gehen.

Nur durch Zufall gelangen Fälle wie jener von Yersen V. ans Tageslicht. Oder besser gesagt, durch eine Autopanne. Und durch einen unvorsichtigen Umgang der Täter mit ihren Handys, auf denen die Ermittler später das Foltervideo entdeckten.

Es sind solche Funde, die einen Eindruck von der Brutalität im Milieu der Drogenhändler vermitteln. Lefelon erzählt, dass die Polizei kürzlich zwei Typen in einem Lieferwagen festgenommen hat. Im Laderaum war ein Zahnarztstuhl montiert. «Das war ein regelrechter Folter-Van.»

Der Vorfall erinnert an ähnliche Bilder aus den Niederlanden: Die Polizei entdeckte damals mehrere Container, schalldicht, mit Folterstuhl, Handschellen, Zangen und Skalpellen. Später wurden auch in Belgien solche Folterkammern entdeckt.


3. Der bedrohte Reporter

Misshandlungen, Entführungen, Mord: Patrick Lefelon erzählt davon, als wäre all das normal. Es gab aber eine Zeit, als sogar der erfahrene Reporter aus der Fassung geriet. Alles begann an einem Freitagabend Ende Mai 2021.

Lefelon erzählt es so: «Ein Polizist rief mich an und sagte: ‹Herr Lefelon, wir haben Informationen, dass es in der Drogenszene Leute gibt, die nicht so glücklich sind über Ihre Artikel. Wenn Sie etwas Ungewöhnliches beobachten, ein Auto, einen Typen, ein Telefonat: Rufen Sie uns jederzeit an und wir kommen.›»

Der Reporter blieb gelassen. Er dachte: Als Journalist machst du halt manchmal Leute sauer. Kriminelle bedanken sich nicht dafür, wenn man ihre Verbrechen aufdeckt. Er vergass die Geschichte – bis vier Tage später derselbe Polizist erneut anrief. «Er fragte: ‹Herr Lefelon, wo sind Sie?› Ich sagte:‹ Ich bin gerade zu Hause angekommen.› Und er: ‹Okay, bleiben Sie dort, nehmen Sie Gepäck für zwei, drei Nächte mit, wir müssen Sie abholen und an einen sicheren Ort bringen.›»

Zwei Stunden später sass der Reporter in einem Polizeibüro. Ein Ermittler sagte ihm, es gehe um eine Artikelserie, die seine Zeitung geplant hatte – über die grössten Drogenbosse Antwerpens. «Nichts Besonderes», sagt Lefelon. «Es war wie immer: Du nimmst die letzten zwanzig Artikel und machst einen neuen daraus.»

Doch einem Drogenboss schien das nicht zu gefallen. In einem verschlüsselten Chat, den die Behörden knacken konnten, soll der Kriminelle geschrieben haben: «Habt ihr gesehen, was ‹Het Laatste Nieuws› macht? Eine Serie über Drogenbosse. Das nächste Mal werden sie einen Artikel über mich schreiben. Schaut, wo dieser Journalist wohnt. Wir müssen etwas dagegen unternehmen, wir müssen ihn stoppen.»

Die Folge: Lefelon musste in ein Safe House ziehen. Die Sicherheitskräfte verboten ihm, ein Smartphone oder einen Laptop mitzunehmen. Sein einziger Draht nach draussen, zu seiner Familie, war ein Tastenhandy mit neuer Nummer. Alle paar Tage musste der Journalist den Ort wechseln.

Gut zwei Wochen lang dauerte diese Ausnahmesituation. Danach durfte Lefelon wieder zurück nach Hause. Die Gefahrensituation war laut den Behörden vorbei.


4. Drohkulisse Niederlande

Journalisten, Anwälte oder Polizistinnen, die um ihr Leben fürchten: Bei diesen Stichworten denkt man vor allem an die Niederlande. In Belgiens Nachbarland leben viele Menschen seit Jahren unter Polizeischutz, weil sie von der Drogenmafia bedroht werden.

Einer, der das immer abgelehnt hatte, war Peter R. de Vries, ein niederländischer investigativer Journalist – und das, obwohl er auf der Todesliste eines Drogenbosses stand. Am 6. Juli 2021 wurde er in der Innenstadt von Amsterdam erschossen.

In Belgien schaut man mit Sorge auf die Niederlande. Zwar sind die Zustände hier noch nicht so schlimm wie beim Nachbarn im Norden, doch die Vorboten sind alle da: Bedrohung der Pressefreiheit, Einschüchterungen, Folter, Mord. Es gibt Leute aus dem Sicherheitsbereich, die sagen, in fünf Jahren herrschten in Belgien Zustände wie heute in den Niederlanden.

Die dortigen Kriminellen üben bereits heute einen grossen Einfluss auf Belgien aus. Das meiste Kokain, das in Antwerpen ankommt, geht über die Grenze und wird dort abgepackt und weiterverteilt.

Noch wichtiger für diese Entwicklung sind die Minderjährigen aus den Vororten grosser niederländischer Städte, die von den Drogenbanden rekrutiert werden. Für 500 Euro machten die alles, sagt einer.

Kindersoldaten, auf die auch die belgischen Narcos gerne zurückgreifen.

Sie brechen für die Kartelle in den Antwerpener Hafen ein und holen Kokain aus Containern. Sie entführen Menschen und foltern sie im Namen ihrer Auftraggeber. Wenn es sein muss, töten sie auch. Oder sie schiessen mit Kalaschnikows auf Häuser und werfen Granaten vor die Türe von Menschen, die eingeschüchtert werden sollen.

Wenn die Polizei sie schnappt, drohen ihnen kaum Konsequenzen, da sie nach dem Jugendstrafrecht behandelt werden. Manche müssen in eine Erziehungseinrichtung. Andere erhalten eine Bewährungsstrafe: Familientherapie oder Gemeinschaftsdienst.

Ihre Taten jedoch sind in der ganzen Stadt zu spüren: Die Lokalzeitung «Gazet van Antwerpen» hat einen Artikel mit einer Karte publiziert, auf der alle Orte in der Stadt vermerkt sind, an denen Mitglieder der Drogenkartelle geschossen, getötet oder Sprengsätze gezündet haben. In einigen Quartieren ist vor lauter Punkten die Karte nicht mehr zu sehen.

Eine Reise entlang der Tatorte.


5. Der makabre Stadtspaziergang

Merksem ist ein Arbeiterviertel im Nordwesten von Antwerpen. Alles wirkt aufgeräumt, breite Fahrradwege, kleine Backsteinhäuschen. Vor einem dieser Gebäude geschah am 9. Januar 2023 ein Mord.

Ein paar niederländische Minderjährige, angeheuert von Drogenkriminellen, fuhren mit dem Auto die Strasse entlang und schossen aus dem Fenster auf das weisse Garagentor des roten Hauses. Es hätte eine Warnung sein sollen, an eine Familie, die im Drogengeschäft tätig ist.

Doch hinter dem Garagentor stand ein 11-jähriges Mädchen. Ein Zufallsopfer. Es starb später im Krankenhaus.

Wenn man sich in Merksem umschaut, fällt auf, dass einige Häuser mit Überwachungskameras ausgestattet sind. Früher wollten sich Anwohner damit vor den Drogenbanden schützen. Heute aber sei es genau umgekehrt, sagt ein Kenner der Szene: Jetzt sind die Kameras ein Hinweis darauf, dass in diesen Häusern Drogenkriminelle wohnen, die sich vor Angriffen der Konkurrenz schützen wollen.

Ähnliches sieht man auch im benachbarten Quartier Borgerhout. Hier leben viele Menschen mit Wurzeln in Marokko und anderen Ländern Nordafrikas. Die Karte der «Gazet van Antwerpen» zeigt in diesem Viertel eine Häufung von Attacken auf engstem Raum. Eine Auswahl.

Van Cortbeemdelei: Exekution auf offener Strasse.

Maréestraat: Fassade beschossen.

Zegepraalstraat: Schiesserei.

Ledeganckstraat: Brandstiftung.

Betogingstraat: Explosion.

Verlindenstraat: Handgranate.

Vaderlandstraat: Brandstiftung.

Heute sieht man nicht mehr viel von der Verwüstung. Die meisten Fassaden sind repariert. Nur an wenigen Orten entdeckt man bei genauerem Hinschauen schlecht mit Mörtel ausgebesserte Einschusslöcher.

Manchmal treffen die Attacken auch Unbeteiligte: eine ältere Frau etwa, die in ihrem Wohnzimmer sass und dort beinahe von einer vorbeifliegenden Kugel getroffen wurde. Oder eine 93-jährige Witwe, deren Hausfassade fälschlicherweise von einem Sprengsatz zerstört wurde.

In den meisten Fällen aber sind die Betroffenen selbst ins Drogengeschäft verwickelt. Wenn es wieder einmal knallt in der Nachbarschaft, zucken wohl viele die Schultern und sagen sich: selbst schuld. Warum lassen sie sich auch auf die Kartelle ein?

Doch so einfach ist es nicht: In den betroffenen Quartieren wohnen viele Hafenarbeiter. Hafenarbeiter, die irgendwann von den Handlangern der Kokainkartelle korrumpiert wurden. Sie sind zentral für die Kartelle, im Gegensatz zu den leicht zu ersetzenden Kindersoldaten aus dem Nachbarland. Denn Hafenarbeiter können Container mit Kokain verschwinden lassen.

Die Kokainmafia setzt deshalb Rekrutierer auf sie an. Sie sind gut informiert und wissen, wer anfällig ist. Zum Beispiel Leute, die dringend Geld brauchen und dafür die ungeliebten, aber besser bezahlten Nachtschichten machen. Oder Leute, die ihren Kollegen erzählen, dass sie sich schon immer ein Boot kaufen wollten. Oder Leute, die selbst viel Kokain konsumieren.

Also bieten ihnen die Rekrutierer Geld, Drogen oder ein Boot, ein schönes Boot. Der versprochene Lohn ist beträchtlich: Bis zu 400 000 Euro können Hafenarbeiter verdienen – für eine halbe Stunde dreckiger Arbeit. Oder manchmal auch bloss fürs Wegschauen im richtigen Moment.

Die Rekrutierer geben sich jovial. Wenn ein Hafenarbeiter sich zum Beispiel gerade von seiner Frau trennen lässt, bezahlen sie ihm einen guten Scheidungsanwalt – wenn er einen Container für sie verschwinden lässt.

Hat der Vermittler mit diesem Ansatz keinen Erfolg, greift er zu einem härteren Mittel: schlecht kaschierte Drohungen. Er lässt in einer Unterhaltung etwa den Namen der Tochter fallen und den Ort, an dem sie zur Schule geht.

Lenkt der Hafenarbeiter irgendwann ein, ist er verloren, gefangen in einem System, das zwar hält, was es verspricht – das Geld für den Scheidungsanwalt –, aber aus dem es kein Entrinnen gibt. Verweigert er weitere Dienste, ist es gut möglich, dass auch an seiner Eingangstür ein Sprengsatz explodiert oder dass sein Haus beschossen wird.

Aber warum gelingt es nicht, die Kartelle bei ihrem Treiben am Hafen von Antwerpen aufzuhalten?


6. Kolumbien liegt in Europa

Von einer Brücke am Stadtrand von Antwerpen sieht man auf den Hafen. Das Gelände sieht von weitem aus wie der Spielplatz eines Titanen: Riesige Kranen laden in Zeitlupe Container von den Schiffen. Dazwischen erkennt man die Docks, diese verzweigten Wasserstrassen, auf denen die riesigen Frachter im Schritttempo entlanggleiten, bis sie an ihrem Terminal angekommen sind.

Irgendwo rauchen zwei Kühltürme eines Atomkraftwerks vor sich hin, ab und zu sieht man Windräder, deren Rotorblätter gemächlich ihre Runden drehen, während dahinter das Gelände im Antwerpener Dunst verschwindet.

Dieser Hafen ist grösser als die Stadt Zürich. Jährlich kommen hier 20 000 Schiffe an und bringen über 12 Millionen Container aus der ganzen Welt – durchschnittlich alle drei Sekunden einen. Wie soll man in diesem Chaos aus Kranen, Schiffen und Lastwagen ausgerechnet jene Container herausfischen, die eine verbotene Ladung beherbergen?

Einer, der das wissen muss, ist Kristian Vanderwaeren. Er ist Direktor des belgischen Zolls und damit so etwas wie der oberste Wächter am Koks-Eingangstor in Europa. Vanderwaeren erzählt, wie die Kartelle an seinen Leuten vorbeikommen wollen: mit Verstecken hinter Bananenschachteln, in doppelten Containerwänden oder in flüssiger Form, auf Kleider gesprüht.

Vanderwaerens Mittel dagegen: Scanner. Immer wieder habe man damit Erfolg, sagt er. Doch genau dann müssen seine Angestellten besonders aufpassen. Denn manchmal versuchen Banden, beschlagnahmte Lieferungen zurückzuholen.

«Wir haben einmal 40 Tonnen Kokain in einem Monat konfisziert. Meine Leute waren gerade am Inventarisieren, als mehrere Männer mit Kalaschnikows sie angriffen.» Den Zöllnern gelang es, die Polizei zu rufen, die Sache ging gerade nochmals gut. Es war der erste von drei Rückeroberungsversuchen der Kriminellen.

Beim zweiten Versuch konnte die Polizei die Angreifer am Terminal stoppen. «Und beim dritten Mal habe ich die Regierung um Unterstützung gebeten. Nebst der Polizei hilft uns seither auch das Militär.»

Später stellte sich heraus, dass die Drogenbande ihre Ladung mit Trackern versehen hatte. «Seither achten wir in jeder Lieferung auf solche Sender», sagt Vanderwaeren.

Polizei und Militär als Schutz für Zollbeamte, es hört sich an wie in einem schlechten Film. «Ja», sagt Vanderwaeren, «das sind Szenen wie in Lateinamerika. Das kennt man hier in Europa eigentlich nicht. Wir müssen uns nicht nur auf Schiessereien gefasst machen – sondern auch auf Entführungen.»

Seine Mitarbeiter würden mit Waffen bedroht, die man normalerweise nur im Krieg benutze. Oder man versucht sie wie die Hafenarbeiter zu bestechen. Vier Zöllner waren vor kurzem in einen Korruptionsfall involviert. Ziemlich wenig, findet Vanderwaeren – im Vergleich zu den 3000 Zöllnern in ganz Belgien. «Bisher hatten wir sehr viel Glück.»

Belgien sei noch kein Narco-Staat, sagt der Zolldirektor. «Aber wir müssen sehr vorsichtig sein, sonst passiert genau das.»

Aber ist die Entwicklung noch aufzuhalten? Das fragt sich Vanderwaeren auch. Schliesslich ist die Nachfrage nach Kokain so gross wie nie. Die Droge wird längst nicht nur von Ravern in Zürich und Berlin konsumiert. Oder von Bankern in London oder Frankfurt.

Auch die Lehrerin aus der Innerschweiz zieht es sich die Nase hoch, der Bauarbeiter aus dem Tessin ebenso, ja sogar Menschen, die bei jedem Proteinriegel darauf achten, dass er bio, vegan und glutenfrei ist und möglichst kein Palmöl enthält. Beim Kokain, der Droge, an der so viel Blut klebt, machen alle eine Ausnahme. Und dank dem grossen Angebot kostet in der Schweiz eine Line weniger als ein Cocktail.

Es ist diese Dynamik, die den Aufstieg der Drogenmafia scheinbar unaufhaltsam macht. Wie sehr, zeigte sich am 9. März 2021. Als etwas passierte, was das Potenzial hatte, die ganze Branche zu erschüttern.


7. Der Anwalt der Bosse

Im achten Stock eines edlen Geschäftshauses im Zentrum von Antwerpen befindet sich die Anwaltskanzlei von John Maes. Hierher kommt man eher nicht, wenn man Probleme mit der Mietkaution hat. Dieses Anwaltsbüro muss man sich leisten können.

Im gläsernen Sitzungszimmer hängt ein Bild mit einem Frachtschiff an der Wand. Viele bunte Container sind zu sehen, auf dem Bug steht MSC, der Name eines der grössten Schifffahrtsunternehmen der Welt mit Sitz in der Schweiz. «Nicht meine Kunden», sagt Maes, als er den Raum betritt. «Aber viele meiner Kunden interessieren sich für dieses Bild», erklärt er mit einem Grinsen. «Sie fragen sich: Wo könnte man hier am besten Drogen verstecken?»

Ein ironischer Witz, der zeigt, wie sehr man sich in Belgien an die Präsenz der Kokainbanden gewöhnt hat.

John Maes ist einer der besten Anwälte Antwerpens. Zu ihm kommen viele belgische Narcos, wenn sie Probleme mit dem Gesetz haben. Kokainbarone als Kunden? Maes antwortet: «Wenn Sie Anwalt in dieser Stadt sind, können Sie gar nicht vermeiden, dass Drogenkriminalität zu Ihrem Tätigkeitsfeld wird.» In einem Rechtsstaat haben schliesslich alle Anspruch auf einen Verteidiger, auch die gefürchteten Drogenbosse.

John Maes erzählt von einem der denkwürdigsten Tage, die er als Anwalt erlebt hatte: dem 9. März 2021. Es war der Tag, an dem die Behörden plötzlich daran glaubten, sie könnten die Drogenmafia wirklich besiegen.

«Ich war gerade auf dem Weg nach Brügge, als mein Telefon klingelte. Ein Klient war dran und sagte: ‹Die Polizei war gerade bei mir, Hausdurchsuchung. Doch sie interessierten sich nur für mein Smartphone.›» Maes war irritiert. Hausdurchsuchungen sind sonst umfassender. «Fünf Minuten später rief der nächste Klient an – und erzählte exakt das Gleiche.»

Am Ende waren es 15 Klienten mit derselben Geschichte. Und Maes war noch nicht einmal in Brügge angekommen. «Ich fragte mich: Was zum Teufel ist da los?» Der Anwalt ahnte, dass etwas Grosses am Laufen war.

Der Tag, von dem John Maes erzählt, war der Anfang eines beispiellosen Fahndungserfolges. Europäischen Polizeibehörden war es gelungen, Sky-ECC zu knacken, das Whatsapp der Verbrecher.

Dieser verschlüsselte Messenger war sehr beliebt in der Unterwelt. Hier tauschten sich Drogenhändler, Hafenarbeiter, Verbrecherfamilien und korrupte Anwälte weltweit aus – über Drogenlieferungen, Mittelsmänner oder Mordaufträge.

Weil sich der Messenger auf einem verschlüsselten Krypto-Handy befand, fühlten sich die Verbrecher sicher. So sicher, dass sie sogar Selfies von sich verschickten, auf denen sie in ihren Häusern oder vor einer Grossladung Kokain stehen.

Und nun lag all das, was eigentlich hätte verborgen bleiben sollen, auf dem Tisch der Ermittler: 500 Millionen Chat-Nachrichten von 70 000 Nutzern – inklusive Transportwegen, Lagerhäusern und Bildern von gefolterten Menschen.

Die Auswirkungen dieses Hacks spürte auch John Maes. «An diesem Tag, als ich eigentlich nach Brügge fahren wollte, begann eine neue Dynamik», erzählt der Anwalt. «Wir waren konfrontiert mit einem Ausmass an Beweismitteln, das wir uns nie hätten vorstellen können.» Klient um Klient wurde verhaftet. Die Gefängnisse waren überfüllt. Maes sagt: «Wenn die Polizei die Zahl ihrer Ermittler hätte verdoppeln können, sie hätten auch doppelt so viele Fälle bearbeiten müssen.»

Es war der härteste Schlag gegen die organisierte Drogenmafia, den es je gab. Die Beweislage war erdrückend. Entsprechend euphorisch waren die Behörden. Endlich konnte man gegen die grossen Bosse vorgehen, nicht nur gegen die Kleindealer oder einfach zu ersetzenden Mittelsmänner. Endlich konnte man die Köpfe der Netzwerke ausschalten und dem internationalen Kokainhandel massiv schaden.

Die Anwälte sahen nun, was ihre Mandanten wirklich trieben. Unter den Narcos herrschte Panik. Wer noch nicht im Gefängnis war, versuchte, sich in andere Länder abzusetzen, in die Türkei oder nach Dubai.

Und die Behörden? Sie sahen erstmals, wie weit sich die Tentakel der Drogenmafia bereits in der Gesellschaft ausgebreitet hatten – und das nicht nur in Belgien, sondern in ganz Europa.

Sie sahen auch, dass die europäischen Drogenbosse keine Pablo Escobars waren, die ihre Organisation strikt hierarchisch führen, und nicht davor zurückschreckten, einen ganzen Staat zu terrorisieren.

Im Kokainhandel von heute gibt es viel Zusammenarbeit. Ein Insider drückt es so aus: «Wer gemeinsam in Südamerika eine Tonne bestellt, kann sich die Transportkosten teilen. Das kommt für alle günstiger.»

Auch John Maes sagt, er sei erschrocken gewesen über das Ausmass des internationalen Drogenhandels. In Chats seien Bilder von unvorstellbaren Geldmengen aufgetaucht. «Da standen Tische herum, überhäuft mit Bargeld. 20 Millionen Euro in Cash.»

Er habe Klienten gehabt, die sozusagen nicht gewusst hätten, wohin mit dem vielen Geld. Der Anwalt erzählt von einer Hausdurchsuchung der Polizei: «Als sie die Türen der Küchenschränke öffneten, fielen ihnen Geldbündel in Millionenhöhe auf den Kopf.»

Doch auch die Chat-Inhalte schockierten. «Wir sahen Entführungspläne, Mordaufträge, Folterfotos.» Maes sagt: «Es gibt nicht genügend Polizisten, um all diese Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.»

Dennoch hat die «Operation Sky», wie das Sky-ECC-Hack genannt wurde, ein nie da gewesenes Ausmass erreicht: Allein in Belgien hat die Polizei knapp 900 Personen festgenommen.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Obwohl die Ermittler in vielen Ländern Tausende Kriminelle verhafteten, obwohl sie schwindelerregende Summen konfiszierten und Tonnen von Drogen vernichteten – es hatte keine Auswirkungen auf den Drogenmarkt.

Der Kokainpreis blieb gleich tief, die Reinheit des Stoffes gleich hoch. Die Versorgung mit Kokain ging einfach weiter, als ob nichts gewesen wäre.

Der massive Schlag gegen das organisierte Verbrechen verkam zu einem Schlag ins Wasser. Und so war der grösste Fahndungserfolg im Kampf gegen die Drogenkriminalität nicht mehr als ein Rumpeln im Motor des internationalen Kokainhandels.

Wie konnte das sein?

Die Antwort des Anwalts ist einfach: Geld. Das Kokain-Business ist der lukrativste Wirtschaftszweig der Verbrecher, einträglicher als Waffen- oder Menschenhandel, einträglicher als alle anderen Drogen. Ein Narco-Boss mag noch so einflussreich sein, über noch so viele Kontakte verfügen. Wird er verhaftet, springt sofort der nächste ein – und das Geschäft geht weiter.

Es geht einfach um zu viel Geld.

Was die Behörden zusätzlich beunruhigt: Die organisierte Kriminalität hat sich fast unbemerkt aus dem Untergrund in der Mitte der Gesellschaft ausgebreitet. Sie ist nicht mehr nur in dunklen Gassen anzutreffen, wo Dealer ein paar Gramm Kokain verkaufen.

John Maes erzählt von einem Porsche-Event, zu dem er eingeladen war, um neue Autos anzuschauen. Einmal blickte er zum Nebentisch. «Da winkten mir mehrere Leute zu. Ich merkte: Das sind Klienten von mir.» Klienten, das heisst: belgische Drogenhändler. Und ebenfalls Porsche-Kunden. «So schnell geht es, dass sich die Parallelwelt mit unserer Welt verbindet.»

Man könne es ihnen nicht ansehen, sagt Maes. Sie seien umgänglich, «nice guys», Unternehmer – aber Unternehmer eines wirklich verwerflichen Geschäfts. «Denn eines bleibt gleich: Egal, wie sie sich geben, sie sind und bleiben Drogenhändler.»


8. Der ungleiche Kampf

John Maes’ Einführung in der Unterwelt ist zu einer Lektion darüber geworden, wie eng diese Welt mit unserer Welt verbunden ist. Sie zeigt ein Land, das die Drogenmafia auch mit ihrem bisher härtesten Schlag nicht aus dem Gleichgewicht gebracht hat.

Es ist ein ungleicher Kampf. Ein hochgerüstetes, globales Netzwerk gegen einen Staat mit begrenzten Ressourcen.

Am Hafen von Antwerpen zeigt sich diese Ungleichheit an einem viel zu kühlen Morgen im Mai. Aus einem gepanzerten BMW steigt der belgische Justizminister Paul Van Tigchelt aus. Der Politiker schreitet auf eine Gruppe von siebzig Polizisten zu. Zusammen mit seiner Kollegin Annelies Verlinden, der belgischen Innenministerin, bleibt er vor einem etwas unförmigen Rechteck aus neonorangen Leuchtwesten stehen.

Die Polizisten begrüssen den hohen Besuch aus Brüssel mit einem ungelenken Appell. Sie sind neu in ihrem Job und werden an diesem Tag vereidigt, um die Drogenbanden am Hafen zu bekämpfen. Sie verstärken dabei die Sicherheitskräfte und Zöllner, die bereits hier sind.

Zwei Minister vor siebzig Polizisten.

Das Bild, das die Politiker vermitteln wollen: Wir schauen hin, wir verstärken die Kräfte im Kampf gegen den Kokainhandel am Hafen.

Das Bild, das sie tatsächlich zeigen: siebzig neue Polizisten auf einem Gelände von 130 Quadratkilometern.

Später sagt Paul Van Tigchelt: Die Kartelle könnten bereits mit hundert Tonnen Kokain fünf Milliarden Euro verdienen – das ist mehr als das Budget von Polizei und Justizbehörden in Belgien zusammen. «Diesem Feind stehen wir also gegenüber.»

Ist ein solcher Kampf überhaupt zu gewinnen? «Nein», sagt der Justizminister, «wir werden den Kampf niemals gewinnen. Aber ich bin überzeugt, dass wir der organisierten Kriminalität das Rückgrat brechen können.»

Der Kampf ist nicht zu gewinnen, also weiterkämpfen.

Belgien ist zwar kein Narco-Staat. Aber Belgien ist eine Warnung – an die Schweiz, an Europa. Es wäre ein Fehler, die Ausbreitung der Kartelle zu unterschätzen. Denn sie sind bereits da. Mitten unter uns.

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