Montag, September 1

Die Staatsbibliothek will ihren jahrhundertealten Zettelkatalog makulieren – ein Monument der Geistesgeschichte. Auf dem Weg in die Zukunft vergisst die Stadt ihre Vergangenheit. Aus Kostengründen.

Die Berliner sind bekannt dafür, dass sie ihnen unliebsam gewordenes Gerümpel einfach auf die Strasse stellen. So ist es in dieser Causa nicht. Es ist auf andere Weise schlimm. Achim Bonte, amtierender Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin, hat dieser Tage verlauten lassen, dass der aus Millionen von Karteikarten bestehende Zettelkatalog seines Hauses demnächst zum Altpapier wandern werde. Ein Monument aus Jahrhunderten der Geistesgeschichte? Vielleicht, aber man brauche es nicht mehr. Die Container seien schon bestellt.

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Die Angelegenheit ist bezeichnend für die galoppierende Ignoranz der deutschen Kultureinrichtungen. Sie ist bezeichnend für ein Schlamassel aus Geldnot und Grössenwahn. Genau gegenüber von einem der beiden Häuser der Staatsbibliothek, nahe dem Potsdamer Platz, wird gerade am neuen Museum «Berlin modern» gebaut, einem scheunenförmigen Ausstellungshaus, geplant von den Architekten Herzog & de Meuron. Bis zur Fertigstellung werden die Kosten auf über 500 Millionen Euro explodieren. Bei einer Fläche von rund 9000 Quadratmetern. Man staunt: Bescheidene 100 Quadratmeter Stellfläche würde es brauchen, um den physischen Katalog der Staatsbibliothek dauerhaft unterzubringen und ihn auch weiterhin für die Forschung zu erhalten, doch dafür fehlt angeblich das Geld.

Dauerhaftes Syndrom

«Berlin modern» ist nicht nur der Name eines neuen Museums, sondern auch ein dauerhaftes Syndrom. Auf dem Weg in die Zukunft vergisst die Stadt ihre Vergangenheit. Diese ist auch in die scheinbar unscheinbaren Karteikarten des enormen Wissensspeichers namens Staatsbibliothek eingeschrieben und ist alles andere als ein Fall für die Müllentsorgung. Die heutige Berliner Bibliothek repräsentiert mit ihren Büchersammlungen einen Schnittpunkt zwischen der östlichen und der westlichen Hemisphäre, zwischen dem deutschen Westen und der DDR. Was in den durch die Systeme und die Mauer getrennten Nachbarländern an Büchern erworben und katalogisiert worden war, hat nach der Wende zusammengefunden. Die Spuren der Geschichte davor finden sich auf den Karteikarten.

Es gibt darauf Notizen, Anhaltspunkte für die DDR-Zensur und die Herkunft mancher Bücher. Für die Provenienzforschung sind die originalen physischen Belege von grosser Bedeutung. Nicht zuletzt ist ein Katalog wie der der Berliner Stabi, wie sie hier genannt wird, auch ein auratisches Möbel. Es trägt die Spuren des Menschlichen, das die Ordnungen und das Technische hartnäckig unterläuft. Die Digitalisierung mit ihren genormten Einträgen und ohne Benützungsspuren eliminiert die sprechenden Zeichen der Zeitgenossenschaft. Und: Der Zettelkatalog ist nicht nur das konservierte Gehirn früherer Zeiten, sondern auch ein Ort intellektueller Zufälle und Anregungen. Man kann in ihm blättern, wie man es bei Suchmaschinen nicht kann.

Geschichte von Chaos und Ordnung

Die bedeutendsten Bibliotheken der Welt haben in ihrer Entscheidung, was nach der Digitalisierung mit den analogen Relikten geschehen soll, grösste Vorsicht walten lassen. Am deutlichsten hat sich die grösste Büchersammlung der westlichen Welt, die Library of Congress in Washington, für den Erhalt der analogen Recherchiermaschine entschieden. Der Zettelkatalog steht Nutzern weiterhin zur Verfügung. Genauso halten es die Bibliothèque nationale in Paris und die Schweizerische Nationalbibliothek. Die Österreichische Nationalbibliothek hat ihren Zettelkatalog 1998 verabschiedet und mit einer eigenen Ausstellung zu Grabe getragen. Man hat die seit 1501 entstandenen Karteikarten fotografisch archiviert, aber selbst davon kann in Berlin nicht die Rede sein.

Das jetzige Medium heisst hier Mikrofiche, ist von bedauernswert schlechter Haltbarkeit und oft nur schwer zu lesen. Den Bestand der Karteikarten vor der Vernichtung wenigstens abzufotografieren, schliesst man bis jetzt aus. Aus Kostengründen. Eine hausinterne bibliothekarische Arbeitsgruppe, die aufgerufen war, Alternativen zu einer Makulierung der Bestände zu finden, hat sich klar gegen eine solche ausgesprochen. Offenbar ohne Wirkung.

Der Staatsbibliotheksdirektor Achim Bonte hält die Digitalisierung offenbar so sehr für einen Gewinn, dass er Verluste jederzeit in Kauf nimmt. Wie die «FAZ» berichtet, gehen schon die Abwicklungen von Zettelkatalogen in der Dresdner Staats- und Universitätsbibliothek und in Heidelberg auf sein Konto. Natürlich kann man beim technischen Fortschritt ganz ungerührt mitgehen, aber wenn Kultur nicht nur eine Frage des technisch Sinnvollen und finanziell Machbaren ist, sondern auch ein Spiegel menschlicher Ideen, bleibt eine Restverpflichtung gegenüber der Geschichte dieser Ideen. Es ist eine Geschichte von Chaos und Ordnung, und sie beginnt ironischerweise mit einer Art Container.

In der mittelalterlichen klösterlichen Buchkultur bargen eisenbeschlagene Truhen die Bücher, bis man zu viele Bücher hatte. Sie wanderten in Regale, und es entstanden Metatexte, die über ihren Inhalt Auskunft gaben oder Exzerpte enthielten. Der erste Zettelarchivar war im 16. Jahrhundert der Zürcher Universalgelehrte Conrad Gesner, der von sich behauptete, alle seit der Erfindung des Buchdrucks erschienenen Bücher gelesen zu haben. Er bastelte sich aus Papierstreifen ein Register.

Ein grosser Schritt in die Zukunft begann 1767 in Wien mit dem Versuch, die kaiserliche Hofbibliothek einheitlich zu katalogisieren. Der sogenannte Josephinische Katalog mit seinem ausgeklügelten Verweissystem und seinen 300 000 Zetteln war gemäss seinem Erfinder Gerard van Swieten auch ein demokratisches Projekt. Aus der Büchersammlung des Hofs sollte eine «Bibliothek für die gebildete Classe der Hauptstadt» werden. Zehn Jahre später waren die nachrevolutionären Franzosen dran. Man erliess eine landesweite Katalogisierungsvorschrift und sorgte dafür, dass die vorhandenen Bücher gleichmässiger im Land verteilt wurden.

Wenn die Zettelkästen einen Philosophen haben, dann den Deutschen Gottfried Wilhelm Leibniz. Er liess sich als Bibliothekar in Wolfenbüttel eine hölzerne Wissensmaschine bauen, wie sie später in den Katalogsälen üblich wurden. Tragischerweise hat Leibniz als Mathematiker auch jenes binäre System miterfunden, auf dem die heutige Digitalisierung basiert. Interessant ist auch, dass Kultur, Bürokratie und Ökonomie im Geist der Zettelkästen Gemeinsamkeiten haben. Die Lochkarte, die einen entscheidenden Anteil an der frühen Computerisierung hat, ist eine Nachfahrin der Karteikarte. Und diese könnte man auch als frühen Datenträger bezeichnen.

Ausgewählte Zettel sollen als «Zeitkapseln» dienen

Altpapier und Entsorgung sind schnöde Worte, wenn man die Kultur und die Geschichte der Zettelkästen betrachtet. Aus internationalen Bibliotheks- und Wissenschaftskreisen hört man, dass Petitionen gegen die Vernichtung des analogen Stabi-Katalogs geplant sind. Er ist derzeit in einem Depot in Berlin-Friedrichshagen eingelagert, das von der Staatsbibliothek angeblich dringend gebraucht wird. Für zehn Jahre muss das Institut wegen einer Generalsanierung geschlossen werden. Die Bestände aus den Häusern Unter den Linden und Potsdamer Platz sollen ausgelagert werden. Man braucht Raum, und dabei scheint es auf 100 Quadratmeter anzukommen.

Die Stabi selbst hat sich nach den jetzt geführten Debatten auch zu Wort gemeldet. Man will dabeibleiben, hält die Entscheidung, Millionen von Karteikarten zu makulieren, «weiter für richtig», auch wenn man den Zeitrahmen jetzt mit «bis Ende 2026» angibt. Ausgewählte Zettel sollen als «Zeitkapseln» dienen. Mit einzelnen Zeitkapseln wird die Forschung wohl künftig nicht viel anfangen können. Überhaupt dient diese Idee wohl eher zur Beschönigung einer radikalen Aktion. Der kulturelle Schaden ist auch Teil eines Dominoeffektes. Die Staatsbibliothek zu Berlin gehört zur Stiftung Preussischer Kulturbesitz, und die muss in den nächsten Jahren massiv sparen. Es ist ein deutsches Grossunternehmen, dessen Auftrag das Bewahren ist. In diesem Sinne ist die Lage zurzeit sehr prekär. Es wäre nicht schön, würde sich die Stiftung in eine Stiftung preussischer Kulturverluste verwandeln.

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