Seit Wochen trauern Nutzer um einen Anglerfisch, der aus unerklärten Gründen an die Wasseroberfläche schwamm und starb. Das Internet erhebt ihn zur Ikone, malt Bilder, schreibt Geschichten – und nennt ihn Ikarus.
Die Dunkelheit weicht. Ein Fisch, der nie für das Licht bestimmt war, steigt langsam hinauf. Seine Flossen sind träge geworden von seinem Gewicht und durchschneiden das fremde, ungewohnte Blau.
Die Wasseroberfläche schimmert über dem schwarzen Anglerfisch. Ein letztes Flattern seiner Kiemen. Ein letztes Schlagen der Flossen. Dann berührt sein Kinn das Licht der Oberfläche. Stille.
Der nun berühmteste Fisch der Welt stirbt im Glanz der Sonne.
So – und noch dramatischer – wird es in den sozialen Netzwerken erzählt. Seit Wochen kursieren Videos eines Anglerfischs, der an die Oberfläche schwamm und kurz darauf starb, untermalt von sentimentalen Pianotönen oder Aufnahmen weinender Nutzer. «Geboren in der Dunkelheit, gestorben im Licht», schreiben sie.
Die Aufnahmen stammen von Naturfotografen der gemeinnützigen Organisation Condrik Tenerife. Rund zwei Kilometer vor der Küste Teneriffas entdeckten sie vor einigen Wochen den senkrecht aufschwimmenden Anglerfisch. Für gewöhnlich bewohnen diese Fische Tiefen zwischen 200 und 4500 Metern. Eine Begegnung nahe der Wasseroberfläche galt bisher als unmöglich.
«Es war, als werde ein Traum wahr», sagte David Jara Boguñá gegenüber «National Geographic». Er war der Fotograf, der das Ereignis filmte. Etwa eine halbe Stunde lang beobachteten sie den Tiefseefisch und sorgten für Aufnahmen, die später auf der ganzen Welt viral gehen. «Als Kind hatte ich dieses Buch über Kreaturen der Tiefsee. Mir erschienen sie völlig verrückt, die Tiere sahen nicht echt aus.»
Der Fisch sammelt Aufrufe und Likes, als hiesse er Kardashian. Doch Bucklige Anglerfische (Melanocetus johnsonii) entsprechen kaum den Schönheitsidealen von Instagram: ein weit geöffnetes Maul, aus dem scharfe Zähne schiessen, eine leuchtende Angel auf der Stirn, ein drastischer Unterbiss. Für viele fand der erste Kontakt mit Anglerfischen im Film «Findet Nemo» statt, in dem ein Exemplar als Tiefseeungeheuer einen Auftritt hatte – und wohl für so manchen Albtraum verantwortlich sein dürfte.
In Wirklichkeit sind Bucklige Anglerfische nur für kleine Fische gefährlich. Die Weibchen werden im Durchschnitt 18 Zentimeter lang, die Männchen sogar nur 3 Zentimeter. Das Leuchtorgan vor ihrem Kopf dient ihnen als Köder, mit dem sie ihre Beute anlocken.
Was wollte der Anglerfisch an der Oberfläche?
Das aktuelle Video des Anglerfischs fand schnell grosse Beachtung und warf bei Experten viele Fragen auf. Bis jetzt ist es erst die zweite Aufnahme, die je von einem lebendigen Buckligen Anglerfisch gemacht werden konnte.
Besonders rätselhaft war für Meeresbiologen, dass der gefilmte Anglerfisch so aktiv und steil nach oben schwimmen konnte und dabei so lange unversehrt blieb. Tiefseefische sind extreme Druckverhältnisse gewohnt. Darüber hinaus sind Anglerfische eigentlich Lauerjäger, die die meiste Zeit an Ort und Stelle auf Beute warten und sich generell sehr wenig bewegen.
Das Internet tüftelt nun an eigenen Theorien, um das Verhalten des Fischs zu erklären. Etabliert hat sich die Vorstellung, dass der Fisch wohl an Einsamkeit litt. Ein Fisch, der das Dunkel der Tiefsee hinter sich lassen wollte. Der aufstieg, um endlich ein Licht zu sehen, das nicht das eigene war. Tage unermüdlichen Schwimmens – bis er die Oberfläche erreichte. Die User tauften ihn Ikarus. Der Fisch, der der Sonne zu nah kam und dafür sein Leben gab.
— beetle moses (@beetlemoses) July 9, 2024
Die Wahrheit dürfte weit weniger poetisch sein. Mehrere Szenarien könnten Ikarus an die Oberfläche getrieben haben. Eine naheliegende Theorie besagt, dass der Anglerfisch einen Beutefisch mit einer Schwimmblase oder einer gasgefüllten Drüse gefressen hat. Das eingeschlossene Gas könnte sich in seinem Körper ausgedehnt und ihn ungewollt in die Höhe befördert haben.
Doch auch die Umgebung, in der er entdeckt wurde, könnte entscheidend gewesen sein. Die Kanarischen Inseln liegen in einer Region mit hoher vulkanischer Aktivität. Es ist denkbar, dass der Fisch in eine aufsteigende Strömung aus wärmerem Wasser geraten ist – eine thermische Säule, die über einem Schlot am Meeresgrund entstanden sein könnte. Solche Strömungen können für Tiefseefische zur Falle werden und sie unwissentlich in die Höhe treiben.
Doch das Vermächtnis des Fisches endet nicht mit seinem Aufstieg. Sein Kadaver wurde geborgen und dem Museum für Natur und Archäologie auf Teneriffa übergeben. Auch im Internet lebt seine Geschichte weiter. Künstler verkaufen Gemälde und Drucke, die zeigen, wie der Fisch ins Sonnenlicht schwimmt. Daneben prangt eine Inschrift: «Lang lebe Ikarus.»