Nach dem Brexit-Zwist sucht die Labour-Regierung im Verhältnis zur EU den Neustart. Doch ihre Ambitionen wirken grösser als die konkreten Möglichkeiten.
Nach der Umsetzung des Brexits per 2021 standen die Zeichen auf Konkurrenz: Grossbritannien und die EU lieferten sich einen kleinlichen Streit um den Zugang zu Corona-Impfstoffen, und Premierminister Boris Johnson drohte damit, den im Brexit-Vertrag vereinbarten Verpflichtungen nicht nachzukommen. Dann setzte Rishi Sunak auf konziliantere Töne: Mit diesem Ansatz rang er der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen Konzessionen im Windsor-Abkommen ab, das den Zollstreit um Nordirland beilegte und die Beziehungen auf eine stabile Basis stellte.
Der neue Premierminister Keir Starmer will nun auf diesem Pfad der Versöhnung fortschreiten. Die seit Anfang Juli amtierende Labour-Regierung unterstreicht bei jeder Gelegenheit, dass sie in der EU eine Partnerin sehe und mit Brüssel einen «Reset» anstrebe – einen Neustart also, der die Brexit-Streitigkeiten vergessen machen soll. Wie gerufen kommt Starmer, dass Grossbritannien am Donnerstag in Oxfordshire ein Gipfeltreffen der einst von Emmanuel Macron initiierten Europäischen Politischen Gemeinschaft ausrichtet – jenes losen Formats, dem neben den EU-Staaten auch Nichtmitglieder wie die Schweiz, Norwegen oder die Ukraine angehören.
Atmosphärischer Neuanfang
Starmer will die Gelegenheit nutzen, um Beziehungen zu den Staats- und Regierungschefs zu knüpfen und den atmosphärischen Neuanfang zu zelebrieren. Die versöhnlichen Töne aus London stossen in Brüssel auch insofern auf Wohlwollen, als der spröde Zentrist Starmer einen Typ Politiker verkörpert, mit dem man in der EU-Zentrale umzugehen weiss. «Starmer ist ein ernsthafter und verlässlicher Jurist, der rechtliche und technische Details versteht», erklärt die Europarechtlerin Catherine Barnard von der Universität Cambridge im Gespräch mit ausländischen Journalisten.
Eine ganz andere Frage ist indes, wie der atmosphärische Neuanfang die Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU in der Substanz verbessern könnte. Die Labour-Regierung hat einen neuen Sicherheitspakt ins Spiel gebracht, dessen Konturen allerdings vage sind. Die Rede ist von einer Zusammenarbeit in so unterschiedlichen Feldern wie Rüstung, Cybersicherheit, Klimawandel, künstliche Intelligenz bis hin zum Reizthema der irregulären Migration über den Ärmelkanal. Wie gross das Interesse der EU-Staaten sein wird und wie eine solche Kooperation formalisiert würde, ist offen.
Wirtschaftliche Hürden
Offen ist auch, ob es Starmer gelingt, die durch den Brexit entstandenen Handelshürden abzubauen. Im Wahlkampf hatte er erklärt, er wolle das von Johnson ausgehandelte Freihandelsabkommen verbessern. Der Brexit-Vertrag sieht für 2025 eine Revision vor. Doch aus Brüssel verlautet bereits, man wolle nicht den Inhalt des Abkommens überarbeiten, sondern bloss prüfen, ob es bei der Umsetzung Verbesserungsbedarf gebe.
Johnson und sein damaliger Chefunterhändler David Frost hatten peinlich genau darauf geachtet, dass der Brexit-Vertrag keinerlei EU-Recht enthält. Denn dies hätte zur Folge, dass Grossbritannien Brüsseler Beschlüsse übernehmen müsste und dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg einschlägige Bestimmungen auslegen würde. Daran will Starmer im Grundsatz festhalten: Im Wahlkampf erklärte er, Grossbritannien werde zu seinen Lebzeiten weder in die EU-Zollunion zurückkehren noch in den Binnenmarkt, der unter anderem die Personenfreizügigkeit umfasst.
Daher dürfte Labour vorderhand nur Retuschen vornehmen können. Im Gespräch ist beispielsweise ein Veterinärabkommen, das den Handel und die Einfuhr von Tieren und tierischen Produkten regelt – ähnlich wie jenes, das die Schweiz mit Brüssel abgeschlossen hat. Hier wäre Starmer bereit, EU-Recht zu übernehmen und damit Souveränität abzugeben. Im Gegenzug würde dies die Zollkontrollen für viele Lebensmittel an den Grenzen erheblich vereinfachen.
Zudem will die Labour-Regierung britischen Musikern die Abhaltung von Tourneen auf dem europäischen Festland erleichtern oder ein Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsabschlüssen wie etwa jenen von Architekten aushandeln. Allerdings sind die technischen Details komplex.
Angeboten hat die EU schliesslich ein Mobilitätsprogramm, das 18- bis 30-jährigen Britinnen und Briten ermöglichen würde, bis zu vier Jahre lang in der EU zu studieren oder zu arbeiten. Doch da Grossbritannien Gegenrecht gewähren müsste und da sich die Migration bereits auf hohem Niveau befindet, zögert Starmer. Insgesamt spricht Anand Menon von der Denkfabrik UK in a Changing Europe im Gespräch mit Journalisten von einem Missverhältnis zwischen der Ambition Labours und den konkreten lieferbaren Ergebnissen.
Bedeutung des Brexits nimmt ab
Starmer ist auf Wirtschaftswachstum angewiesen, wenn er sich aus dem Korsett von hohen Steuern und hohen Schulden befreien und mehr Geld in die marode Infrastruktur investieren will. Eine engere Anbindung an den EU-Binnenmarkt könnte daher ein Element einer Wachstumsstrategie darstellen.
Auch politisch erschiene ein solcher Schritt mehrheitsfähig. Mehr als 70 Prozent der Britinnen und Briten sind inzwischen der Ansicht, dass es Grossbritannien wegen des EU-Austritts schlechtergehe. Umfragen ergeben Ja-Mehrheiten für einen Beitritt zum europäischen Binnenmarkt oder gar für einen Wiedereintritt in die EU. Doch vor der Wahl wollte Starmer die alten Gräben keinesfalls neu aufreissen, zumal die Bedeutung des Brexits als Thema markant abgenommen hat. «Die wichtigste Botschaft der Bevölkerung ist: Bitte lasst uns mit dem Brexit-Thema in Ruhe!», sagt Menon.
In einer Studie kam die Investmentbank Goldman Sachs kürzlich zu dem Schluss, Grossbritannien sei in den vergangenen acht Jahren wegen des Brexits um 5 Prozentpunkte weniger stark gewachsen als vergleichbare Volkswirtschaften. Sollte die britische Wirtschaft weiter stagnieren, ist laut Menon denkbar, dass aus der Labour-Fraktion im Unterhaus der Ruf nach einer engeren Anbindung an den Binnenmarkt lauter wird. In den letzten Jahren hatten oft die Brexit-Hardliner in den Reihen der Tories konservative Premierminister unter Druck gesetzt. Nun könnten die EU-Turbos bei Labour versucht sein, dem vorsichtigen Starmer Beine zu machen.

