Mittwoch, Oktober 30

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Während des Wirtschaftswunders machten Millionen Deutsche Ferien in Italien. Nach den Schrecken des Weltkrieges lernten sie dort das gute Leben kennen – und konnten wieder Hoffnung schöpfen.

Italien, Ort der Sehnsucht und der Leichtigkeit, Land der wärmenden Sonne, in dem längst nicht nur Zitronen blühen. 1957 wurde ein Brief mit diesen Zeilen nach Deutschland geschickt:

«Auf dem Brenner steckten wir in tiefem Schneegestöber. Als wir Gossensass und Sterzing erreichten, flockte es noch leicht vom Himmel, aber von Brixen, wo wir die ersten Weingärten sahen, floss das Licht warm und golden, und wir spürten: Hier beginnt der Süden.»

Goldenes Licht, verheissungsvoller Süden: Knapp siebzig Jahre sind seit der Abfassung des Briefes vergangen. Noch heute würden viele Menschen das Gefühl, in Italien zu sein, wahrscheinlich ähnlich beschreiben.

Das Land ist seit Jahrhunderten ein Sehnsuchtsort, vor allem für die Deutschen. Sie stellen regelmässig eine bedeutende, wenn nicht sogar die grösste Touristengruppe. Vergangenes Jahr reisten mittlerweile etwa 10,5 Millionen Deutsche nach Italien, auf sie folgten mit Abstand auf Platz zwei die Amerikaner mit etwa 6,8 Millionen Besuchern. Auch 2022 und 2021 lagen die Deutschen vorn. Für sie hat Italien zwei Vorteile: Es ist nah genug, um gut erreichbar zu sein, und fern genug, um exotisch zu sein.

Italien steht für Sommer und endlose Tage am Strand, für leckeres Essen und Schlager voller Lebenslust. Das Kolosseum oder das Forum Romanum: jahrhundertealt. Die Pinien und Zypressen: atemberaubend schön. Die Menschen sind elegant gekleidet und herzlich, das Leben ist leicht, dolce und leidenschaftlich. Ciao ragazzi, ciao, ciao!

Schriftsteller, Künstler oder Naturliebhaber – alle reisten gen Süden: Albrecht Dürer und Johann Gottfried Herder, Friedrich Nietzsche und Rainer Maria Rilke, Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Von jedem Aufenthalt bringe man «ein unschätzbares inneres Kapital» mit, schrieb Hermann Hesse: «Man holt sich da eine Frische und Freiheit und zugleich einen inneren Besitz von Freude und Schönheit, der alles aufwiegt.»

Für Goethe war sein Italienaufenthalt wie eine «Wiedergeburt»

Der grösste Reiseboom setzte in den 1950er Jahren ein, dabei hatte es Phasen der Italiensehnsucht schon lange vorher gegeben. Erstmals in der Renaissance, als junge Adelige für ihre Grand Tour, eine Bildungsreise, gen Süden zogen. Später folgten Bürger sowie Pilger und Intellektuelle.

Lange war Johann Wolfgang von Goethe der bekannteste Tourist. Zwischen 1786 und 1788 besuchte er unter anderem Venedig, Siena und Florenz, die längste Zeit hielt er sich in Rom, Neapel und auf Sizilien auf. In seinen Tagebüchern und Briefen bezeichnete er die Reise als «neues Leben» und «Wiedergeburt», als «Reinigung der Seele und des Geistes».

Verrückt: Schon Goethe drückte zwischen Gelato und Zypressen den Reset-Knopf.

Nach 1945 suchten die Deutschen Wärme und Leichtigkeit

Im 20. Jahrhundert folgten ihm seine Landsleute in Scharen, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen einen Neubeginn dringend nötig hatten. 1945 lag ihr Land in Trümmern. Nicht nur die Städte waren zerstört, auch die Menschen, körperlich und seelisch. Die Deutschen waren hungrig: nach Wärme, Erholung, Leichtigkeit.

All das fanden sie in Italien. Das Land war für sie ein Ort der Ruhe, des Friedens und der Hoffnung: Hier, südlich der Alpen, könnte es möglich sein, die Schrecken und die Schuld des Krieges hinter sich zu lassen. 1958 hiess es in einem der damals wichtigsten Reiseführer: «Wenn wir aus den Trümmern, die zwei Weltkriege hinterliessen, ein besseres und einiges Europa aufbauen wollen, brauchen wir gute Europäer. (. . .) Die Italienreise ist die Reise des guten Europäers und derer, die es werden wollen. Es ist die Reise in unser aller Mutterland. (. . .) Ich glaube bestimmt: Wer Italien kennen und lieben gelernt hat, wird nie ein schlechter Europäer sein.»

Das Wirtschaftswunder, das Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren erlebte, brachte das nötige Geld, um sich diese Ferienwünsche zu erfüllen. Pauschalreisen mit dem Bus machten Touren auch für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich. Viele campierten.

Das Leben spielt sich draussen ab

«Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer. Und wir tun, als ob das Leben eine schöne Reise wär», sang Caterina Valente 1956. Das liessen sich die Deutschen nicht zweimal sagen: Reisten 1950 noch etwa 170 000 nach Italien, waren es fünf Jahre später 2,3 Millionen und 1958 mehr als 4 Millionen Deutsche.

Am liebsten fuhr man ans Wasser: an die Adriaküste bei Rimini und Riccione, an den Gardasee, ans Ligurische Meer oder an die Amalfiküste bei Neapel. Am Strand konnten die Deutschen den Nachkriegsalltag hinter sich lassen. Endlos in der Sonne brutzeln, die Zehen im Sand vergraben, den Wellen zuschauen. Vielleicht ein paar Runden im Wasser drehen: eintauchen, wieder auftauchen. Fast ein neuer Mensch.

Überhaupt, das Leben im Freien. Wegen des mediterranen Klimas spielt sich in Italien vieles draussen ab, bis spät in den Abend ist es mild, und man kann auf der Piazza sitzen. Warm sind auch die Farben der Häuser: ocker, beige, braun, rostrot. Dazu die Patina an den Wänden. Die Deutschen machten in Italien eine neue Erfahrung: Spuren an den Häusern bezeugten nicht zwangsläufig Krieg und Zerstörung, sondern konnten auch für historische Tiefe, Authentizität und Charakter stehen.

Reichhaltige Küche, begehrte Männer

Hinzu kam natürlich das Essen. Spaghetti und Pizza, Cappuccino und Prosecco standen auf dem Tisch. In Italien konnten die Deutschen nach Herzenslust schlemmen, war die Küche dort doch so viel reichhaltiger als in den mageren Jahren der Lebensmittelknappheit. Und noch etwas war anders: In Italien war Essen mehr als blosse Nahrungsaufnahme. Es war ein Ritual, das mit Genuss und Geselligkeit verbunden war.

Über allem stand der Flirt. Wegen des Krieges waren Männer in Deutschland Mangelware, und die, die von der Front zurückgekehrt waren, waren versehrt. Das neue Ideal war der Italiener. Im «Stern» konnte man 1960 in einer Reportage lesen: «Wir sind das eigentliche Reiseziel der Millionen Urlauberinnen aus dem Norden, sagen Italiens Männer. Denn wir sind die leidenschaftlichsten Liebhaber, die feurigsten Verführer und die männlichsten Männer.»

Wieder zu Hause, versuchten die Deutschen, ein Stück Italianità in den Alltag zu retten. Sie hörten Schlager, die «Capri-Fischer» oder «Im Hafen von Adano», oder sie sahen Filme, «Ein Herz und eine Krone» oder «Das süsse Leben», die idyllische Landschaften und verliebte Paare vor der Kulisse malerischer Küsten und romantischer Städte zeigten. Bald öffneten Auswanderer nördlich der Alpen die ersten italienischen Restaurants: in der Schweiz 1954 die «Pizzeria Napoli» an der Zürcher Sandstrasse, in Deutschland 1952 das «Sabbie di Capri» in Würzburg.

Über die Vergangenheit wird geschwiegen

In Italien selbst war die Liebe der Deutschen zum eigenen Land aber mit gemischten Gefühlen verbunden. Die Touristen brachten zwar Geld, doch mit ihnen kamen bei den Einheimischen auch die Erinnerungen an die Besatzungszeit und die Massaker der Wehrmacht wieder hoch. Die Deutschen hatten diese Verbrechen auch nicht vergessen, doch sie verdrängten sie.

Beide Seiten beschlossen, diese Zeit nicht anzusprechen. Es habe «so etwas wie einen schweigenden Konsens [gegeben], das Gestern einstweilen ruhen zu lassen», schrieb der Historiker Jens Petersen. Schon 1951 wunderte man sich in Bonn über das «erstaunlich rasche Vergessen der bösen Erfahrungen, die Italien mit Nazi-Deutschland gemacht hat».

Heilung und Erneuerung sind nahe

Wurden die Deutschen den Italienern mit ihrer Liebe gerecht? Wahrscheinlich nicht. Wie so oft speiste sich die Sehnsucht nach etwas Fremdem aus Verklärungen, die der Realität nicht standhielten. Für Aussenstehende mag es so gewirkt haben, als habe der Alltag der Italiener aus süssem Nichtstun bestanden; dass oft Arbeitslosigkeit der Grund dafür war, sahen sie nicht. Und dass man sich selbst und seine Probleme mitnimmt, auch wenn man ins schönste Land der Welt fährt, ist auch Teil der Wahrheit.

Aber Träume sind erlaubt. Nur ein paar Stunden Richtung Süden, schon war man im Paradies, in Italien, wo vielleicht ein ganz anderes Leben möglich schien.

Literatur: Wenn bei Capri die rote Sonne . . . Die Italiensehnsucht der Deutschen im 20. Jahrhundert. Hg. von Harald Siebenmorgen. Karlsruhe 1997.

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