Sonntag, September 29


Trend-Accessoire

Mit den «Bayonetta Glasses» ist eine neue Nerd-Brille am Trendhimmel erschienen. Doch hat das Konzept nicht längst ausgedient?

Man kennt sie als Last-minute-Lesebrille aus der Drogerie. Oder als jahrelanger Albtraum von Teenies, die die weisse Kreide auf der Wandtafel nur noch verschwommen wahrnahmen und widerwillig zum örtlichen Optiker schlurften. Sie ist eckig, schmal, und manchmal bunt. Und sie soll laut Publikationen wie «Teen Vogue» die Trendbrille des Jahres sein. Bella Hadid, Julia Fox und Billie Eilish tragen sie und dank einem beliebten Tiktok-Filter plötzlich auch eine breite Masse. Wenn auch nur virtuell – und korrekturlos.

Die Rede ist von der Brille, die man heute «Bayonetta Glasses» nennt, nach der brillentragenden Hauptfigur des gleichnamigen, 2009 lancierten japanischen Videospiels. Neben Vintage- und Secondhand-Funden steht im Zentrum des aktuellen Trends das Modell «Alba» (141 Franken) von Lexxola. Das Londoner Brillenlabel lancierte es im Oktober 2023 und bezeichnet es als sein «gefragtestes Gestell aller Zeiten»; bis auf eine der vier Farben ist es derzeit ausverkauft. Aber sogar Specsavers, der britische Durchschnittsbrillenhändler, preist auf seiner Website die «‹It-girl› Bayonetta Glasses» an.

Für Nerds und It-Girls

Als ultimatives Stilvorbild des Trends gilt das Supermodel Gisele Bündchen in ihrer Minirolle in «Der Teufel trägt Prada» (2006). Doch das mag nicht über die wahre Identität dieser Brille hinwegtäuschen: Sie ist eine Nerd-Brille. Ihre berühmteste Trägerin ist nicht Bündchen, sondern «Ugly Betty» aus der gleichnamigen Serie der nuller Jahre. Oder Mia Thermopolis im Film «Plötzlich Prinzessin» (2001), gespielt von Anne Hathaway. Sie geht erst als Adelige durch, nachdem sie sich ihrer Brille und ihres krausen Haars entledigt hat. Auch auf der Nase von Neurowissenschafterin Amy Farrah Fowler in der nerdigsten TV-Serie überhaupt, «The Big Bang Theory», sass ein solches Brillenmodell.

Die nicht endende Verherrlichung der nuller Jahre spielt bei den «Bayonetta Glasses» mit, keine Frage. Hinzu kommt die auf Tiktok grassierende Faszination für kaum bürotaugliche Bürolooks unter dem Begriff «Office Siren»: Die Generation Z spielt so mit der Idee einer modisch strikt reglementierten Arbeitswelt, die sie selbst nie erlebt hat. Trotzdem: Warum kommen wir nicht vom Konzept der Nerd-Brille los?

Ein Sehfehler und ein bisschen Ahnung

Den Höhepunkt ihrer Beliebtheit feierte die Nerd-Brille um 2012: Damals war sie übergross mit dicken schwarzen Rändern und ein wichtiger Bestandteil der Hipster-Uniform. Ihr Aufstieg geschah zeitgleich mit der Lancierung vieler neuer Brillenmarken mit «direct to consumer»-Modell wie Ace & Tate, Warby Parker und hierzulande Viu. Brillentragen wurde plötzlich mit Erfolg als cool und stilbewusst verkauft, sein Modell holte man sich in einer grossen Stadt oder online. Die einstige Nerd-Brille wurde mit der Zeit schlicht zu der Brille, die man trug, wenn man ein bisschen Ahnung und (vielleicht) einen Sehfehler hatte.

Sie kombinierte die guten Eigenschaften eines Nerds – Fleiss, Intelligenz – mit der ironischen Aneignung seines aus der Zeit gefallenen Brillenstils. 2012 berichtete die «Washington Post» darüber, dass Angeklagte auf Anweisung ihrer Anwälte für ihre Gerichtstermine vermehrt zu unkorrigierten «Hipster-Brillen» griffen, um seriös zu erscheinen. Die «Nerd-Verteidigung», nannte es ein Anwalt im Artikel. Er empfehle sie all seinen Klienten, denn sie sei sehr effektiv.

Ein Name mit einer Beleidigung

Ausserhalb von Gerichtssälen liegt der Reiz von Nerd-Brillen auch im Kokettieren: Man ist so cool und so schön, dass man sogar diese eigentlich uncoole Brille tragen kann. Damit ist sie emblematisch für den Modezyklus selbst, dieses ewige Hin und Her, das auch die etwas langsamer funktionierende Brillenwelt nicht verschont. «Ekel in Verlangen verwandeln», beschreibt es die Autorin Natasha Stagg. Die Nerd-Brille ist das beste Beispiel dafür, und sie trägt es im Namen.

Dass dieser auf einer Beleidigung basiert, ist nur deshalb weiterhin akzeptabel, weil «Nerd» gleichzeitig ein Kompliment ist. Es sind die Nerds, die unser Leben besonders seit der Digitalisierung zu grossen Teilen prägen. Sie haben schlicht Wichtigeres zu tun, als sich um Mode zu kümmern, so die Idee.

Die wahre Nerd-Brille

Doch die berühmtesten Nerds der Welt tragen selbst längst keine Brillen mehr, die man als Nerd-Brillen beschreiben könnte. Elon Musk trägt bevorzugt Piloten-Sonnenbrille, Jeff Bezos auch. Mark Zuckerberg trägt seit Jahren gar keine Brille mehr.

Schliesslich ist es auch eher ein Gadget, das der Tech-Milliardär uns als Nächstes verkaufen möchte: die Smart Glasses mit eingebauter Kamera, Lautsprechern und Livestreaming-Funktion. Sie ist vielleicht die einzig wahre Nerd-Brille. Da kann auch nicht dran rütteln, dass sie von Ray-Ban designt wurde.

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