Mittwoch, Januar 15

Die Kirchen schrumpfen. Moderne Missionare kämpfen dagegen an – doch das ist ein schwieriger Job.

Gitarre, Geige und Schlagzeug erfüllen den Raum. Die jungen Leute halten ihre Augen geschlossen, manche haben ihre Arme angewinkelt und ihre Handflächen nach oben gedreht. Sie lächeln selig und singen: «Mach mich vo inne use neu, Herr, schänk du mir es Herz, wo grächt isch, dich ehrt.»

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Man könnte sich in einer freikirchlichen «Celebration» wähnen – wären da nicht der barocke Prunk, stünden in der Kirche St. Anna nicht eine Ordensfrau und ein Priester. Es ist ein Lobpreisabend der jungen katholischen Bewegung Adoray in der Stadt Zug. Adoray für «adore» (Anbetung) und «pray» (Lobpreis).

25 junge Frauen und Männer sind an diesem sommerlichen Abend gekommen. Als sie die Kirche betreten, bekreuzigen sie sich und knien vor dem Altar nieder, auf dem Kerzen flackern. Nachdem sie gemeinsam gesungen haben, auf Schweizerdeutsch, Englisch oder Französisch, gibt es einen «Impuls» durch einen der Gläubigen. Er spricht von der Dankbarkeit, die er empfindet, weil er Teil dieser Gemeinschaft sein darf.

«Jemand von aussen versteht wohl nicht, wie es ist, von der Liebe Gottes berührt zu sein, von diesem Gefühl, in dem man am liebsten ewig verharren würde», sagt der junge Mann. Dann trägt der Priester die Monstranz zum Altar. Alle knien nieder, versinken im stummen Gebet. Die Hülle bei Adoray mag modern wirken, der Inhalt ist traditionalistisch, Rom-treu.

Die Musik ist modern, der Glaube alt: Junge Katholiken beim Adoray-Lobpreisabend in Zug.

Mission als Erfolgsmodell

Die Bewegung verfolgt das Ziel, «in Freundschaft die Freude des Evangeliums kennenzulernen, zu leben und weiterzuschenken». Oder wie es die Adoray-Präsidentin Eliane Elmiger ausdrückt: «Wir wollen die Welt etwas heller machen.» Es geht also auch um Missionierung. Und damit um eine Aufgabe, die für die Kirche seit ihren Anfängen zentral war und die sie historisch so erfolgreich gemacht hat. Jesus soll gesagt haben: «Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen.»

Es ist aber auch eine Aufgabe, der sich die Landeskirchen heute höchstens noch verschämt widmen. Der frühere Jugendbischof Marian Eleganti hat dieses Desinteresse an einer Neuevangelisierung in einem Gespräch mit dem konservativen Onlinemedium «Swisscath.ch» kritisiert: In den offiziellen Strukturen der Katholiken dominiere ein Toleranz- und Pluralitätsverständnis, wegen dessen man nicht missionieren wolle.

«Der Begriff hat dort den negativen Beigeschmack von Aufdringlichkeit, Besserwisserei, Arroganz oder kultureller Intoleranz und Lernunfähigkeit.» Die «Berufskatholiken» seien vom eigenen Glauben nicht mehr so recht überzeugt, erklärt Eleganti.

Hingegen seien die «Graswurzelbewegungen der Glaubenserneuerung» – dazu dürfte Eleganti auch Adoray zählen – durchaus missionarisch und kreativ. «Man hat dort keine Berührungsängste mit dem Begriff ‹Mission›, der paradoxerweise in der säkularen Welt im Marketingbereich hemmungslos eingesetzt wird.»

Es droht nicht mehr der Märtyrertod

Wer missioniert, ist überzeugt, den Weg ins Paradies zu kennen. Und will andere an diesem Glück teilhaben lassen. Anders als ihre Glaubensgenossen in der Antike oder im frühen Mittelalter müssen evangelisierende Christen heute zwar nicht mehr damit rechnen, als Märtyrer zu enden – zumindest in Europa nicht. Trotzdem ist die Verbreitung des Glaubens eine schwierige Sache geworden.

Die Schweiz wird zur Glaubenswüste. 2022 haben die Konfessionslosen die Katholiken überholt. Zwar sind immer noch 58 Prozent der Einwohner Mitglied einer Kirche, aber diese Zahl sagt wenig über die Intensität ihrer Glaubenspraxis aus.

Der Religionssoziologe Jörg Stolz von der Universität Lausanne hat kürzlich in einer Studie aufgezeigt, dass die Zahl der regelmässigen Teilnehmer an religiösen Ritualen zwischen 2008 und 2022 von 894 000 auf 824 000 zurückgegangen ist, dies bei stark gewachsener Bevölkerung.

Die treuen Kirchgänger machen nun weniger als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus: Die Entfremdung der Menschen von den religiösen Institutionen ist offensichtlich schon weit vorangeschritten. Und nun wollen Leute wie Eliane Elmiger sie wieder zurückholen. Mission als «mission impossible»?

Starke Konkurrenz

Elmiger ist 28 Jahre alt und Sekundarlehrerin. Sie sagt, in ihrem Beruf, aber auch im Privaten merke sie, wie stark existenzielle Fragen die Menschen umtrieben: Was will ich auf dieser Erde? Sind wir nur ein Zufall der Schöpfung? Was kommt nach dem Tod? Elmiger weiss, dass es auf dem Sinnstiftungsmarkt viele Optionen gibt, von der Psychotherapie bis zur Esoterik.

«Aber nichts lehrt so gut wie die Bibel, dass Wunden zum Leben gehören und wie wir mit diesem Leiden umgehen.» Dafür stehe auch das Kreuz, das sie um den Hals trägt. Elmiger sieht in der Schule, wie stark die junge Generation unter einem Leistungsdruck stehe. Und sieht den Glauben als eine alternative Perspektive. «Gott nimmt dich an, wie du bist. Es braucht keine Perfektion, wie sie etwa in den Social Media suggeriert wird.»

Adoray betreibe die Missionierung nicht strategisch, sagt Elmiger. «Doch wir wollen, geführt vom heiligen Geist, so durchs Leben gehen, dass wir die Freude am Evangelium ausstrahlen.» Wenn jemand Interesse am Glauben signalisiere, lade sie diese Person zu einem Lobpreisabend ein – oder zu einem Adoray-Sporttag, wenn ein Gebetsabend eine zu hohe Dosis Religiosität wäre. Einmal im Jahr gibt es ein grosses Festival. «In der Mission geht es darum, meinem Gegenüber zuzuhören und mich so auf eine echte Begegnung einzulassen», sagt Elmiger.

Dass die Missbrauchsskandale, das rückständige Image und gewisse Dogmen des Vatikans kaum dabei helfen, hierzulande neue Gläubige zu finden, bestreitet Elmiger nicht. Die Lehre der Kirche möge für Jugendliche teilweise schon befremdlich wirken. «Doch wenn man sich vertieft damit auseinandersetzt, kann man einen reichen Schatz an Weisheit finden.»

Zum Leben gehört nicht nur das Licht, sondern auch das Leiden. Dafür steht das Kreuz von Eliane Elmiger.

Kurs für den Religionseinstieg

Auch die Protestanten haben den Kampf um die Seelen der Schweizerinnen und Schweizer noch nicht ganz aufgegeben. «Die meisten reformierten Kirchgemeinden vermeiden zwar sowohl den Begriff ‹Evangelisation› wie auch ‹Mission›, weil diese Begriffe historisch besetzt und missverständlich sind», sagt Stephan Jütte, Sprecher der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Viele Kirchgemeinden würden aber im Rahmen der Erwachsenenbildung Kurse und Thementage anbieten, die auch religionsfernen Menschen einen Zugang zum Christentum eröffneten.

Eines dieser Werbemittel heisst Alphalive. Es ist ein Kurs über die Grundlagen des christlichen Glaubens. Entwickelt hat ihn eine anglikanische Gemeinde in London, seit den Neunzigerjahren breitet sich das Konzept weltweit aus. Martin Stoessel, der die Alphalive-Kurse in der Schweiz eingeführt hat, erklärt, die Inhalte seien darauf ausgerichtet, eine persönliche Gottesbeziehung zu entwickeln. «Alpha steht für einen Anfang, dafür. Es geht noch nicht darum, die ganz grossen theologischen Fragen zu beantworten, sondern dass wir miteinander über den Glauben ins Gespräch kommen.»

Normalerweise besteht der Kurs aus einer Reihe von rund zehn Abenden, die jeweils einem Thema à la «Wie führt uns Gott?» oder «Wie widerstehe ich dem Bösen?» gewidmet sind. Die Teilnehmer treffen sich bei jemandem zu Hause oder in einem Café, sie essen zusammen zu Abend, bevor sie ein Video zu einem theologischen Thema schauen oder einen Vortrag hören. In Kleingruppen vertiefen sie anschliessend die Diskussion.

Während der Pandemie kamen jedoch auch Online-Angebote für Alphalive auf. So wie bei einer Schweizer Freikirche: An einem Winterabend treffen sich zwölf Frauen und zehn Männer im Videochat, die Leiterin Elodie empfängt sie. Zuerst legt Regine ein Zeugnis ab und berichtet, wie sie zum Glauben gefunden hat.

Sie heisst, wie alle Teilnehmer des Kurses, eigentlich anders: Die Anonymität ist eine Bedingung dafür, dass sie einen fremden Beobachter akzeptieren, wenn sie über etwas so Intimes wie ihre Spiritualität, ihr Hoffen und Bangen sprechen. Als das Programm technische Probleme macht, betet Hans dafür, dass es weitergehen möge. Bald ist Petra zurück auf dem Bildschirm.

Sich als lebendiges Opfer darbringen

Es folgt ein knapp 30-minütiger Alphalive-Film, Episode 12: «Wie mache ich das Beste aus meinem Leben?» Nicky Gumbel tritt auf, der Gründer von Alphalive. Der anglikanische Pastor sagt, Gott zu dienen sei die vollkommene Freiheit. «Bringt euch ihm als lebendiges, heiliges Opfer dar!» Doch er warnt auch: Zu Jesus zu stehen, habe seinen Preis. «Wenn dich jemand am Montag im Büro fragt, wo du am Wochenende warst, und du antwortest: in einem christlichen Kurs – dann lachen sie dich vielleicht aus.» Doch es gebe auch eine gute Nachricht: «Sie werden dich nicht umbringen.»

Sieben Minuten Pause, dann geht’s in den Kleingruppen weiter. Chatraum 3, sieben Frauen und zwei Männer, vor allem Schweizer, aber auch einige Deutsche. Moderator Jure will wissen, was die anderen vom Film mitgenommen haben. Marion sagt, die Aussage vom «lebendigen Opfer» habe sie sehr bewegt. «Ich möchte das total gerne. Aber ich merke auch, dass ich Angst davor habe, loszulassen und alles, was ich bin, Jesus zu geben.» Dies würde bedeuten, dass er der absolute Herr in ihrem Leben wäre, im Beruf, in der Beziehung. «Das ist schwierig, obwohl ich genau weiss, dass es Gott nur gut mit mir meint.»

Abrupt endet die Kleingruppe, alle sind zurück im Plenum. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Erkenntnisse durch die Kleingruppenleiter und einem weiteren Gebet endet der fromme Abend im Cyberspace.

Religion bloss verschüttet?

Kursleiterin Elodie findet, die Online-Veranstaltungen gingen geistlich tiefer: Würden sich die Leute persönlich treffen, sprächen sie häufiger über Belangloses. Sie sieht die grosse Stärke des Alphalive-Konzepts darin, dass die Teilnehmer nicht bevormundet, sondern ernstgenommen würden in ihrer Skepsis und in ihrer Neugier. «Es ist nicht wie bei der Strassenevangelisation, wo man den Passanten einfach ein Traktat in die Hand drückt und ein paar wenige Worte wechselt.»

Der evangelische Theologieprofessor Thomas Schlag von der Universität Zürich ist überzeugt, dass die Religion bei vielen Menschen nicht verschwunden, sondern bloss verschüttet sei. «Man kann sie revitalisieren», sagte er. Aus Studien sei bekannt, dass es bei Jugendlichen bloss einen «Trigger» brauche, und dann würden sie loslegen mit religiösen Fragen. Können also Projekte wie Adoray oder Alphalive Gott in eine gottlose Gesellschaft zurückbringen?

Die Zahlen sind ernüchternd. Adoray hat laut Präsidentin Elmiger rund 700 aktive Mitglieder. Etwas mehr Leute erreichen die Alpha-Livekurse, oft dank Mundpropaganda. Pro Jahr gibt es in der Schweiz über 300 Veranstaltungen, mit leicht steigender Tendenz. Jeder dritte Teilnehmer findet danach gemäss einer Schätzung der Alphalive-Verantwortlichen Anschluss bei einer Kirche.

Das wären vielleicht 1000, 1500 Personen. Nichts im Vergleich zu den mehr als 100 000 Menschen, die 2023 aus den beiden grossen Landeskirchen ausgetreten sind. Kircheneintritte gibt es schweizweit ein paar Hundert pro Jahr. Der Religionssoziologe Stolz sagt trocken: «Alphalive ist, wie andere Evangelisierungsbemühungen, ein riesiger Aufwand für wenig Ertrag.»

Der Beichtstuhl kommt an diesem Abend nicht zum Einsatz, aber sonst ist unverkennbar, dass Adoray eine katholische Bewegung ist.

Der Glaube an ein Revival

Dennoch meinen manche Kirchenvertreter die zarten Anfänge eines neuen christlichen Aufblühens zu erkennen. Dies wohl auch, weil ein überzeugter Christ gar nicht anders kann, als an die Möglichkeit besserer Tage zu glauben. Aber nicht nur.

Als Erklärungsmodell für das Funktionieren der Welt hat die Religion zwar schon lange ausgedient, verdrängt durch die Naturwissenschaften. Auch als Instrument, um ein materiell sorgloses Leben zu erreichen, ist sie in den reichen Gesellschaften Europas weniger relevant – anders als etwa in Südamerika, wo das sogenannte Wohlstandsevangelium besonders erfolgreich ist. Doch die Sinnfrage bleibt immer aktuell.

«Die Sehnsucht nach Spiritualität ist dem Menschen inhärent, und die Bibel kann diese Sehnsucht stillen», sagt Peter Schneeberger, Präsident des Verbandes der Schweizer Freikirchen. Er glaube deshalb an das Revival der Kirchen. Gerade angesichts der Weltlage.

Die Religionswissenschaft geht davon aus, dass sich die Menschen in fundamentalen Krisen vermehrt religiösen Gruppen zuwenden. Und an Krisen mangelt es in diesem Jahrzehnt nicht: Pandemie, Ukrainekrieg, Gazakonflikt oder Klimawandel. Doch reicht das für eine neue Erweckungsbewegung?

Sinnsuchende abholen

Bei Leuten mit einem rationalistisch-wissenschaftlichen Weltbild, die mit ihrem Leben einigermassen zufrieden sind, dürften Missionierungsbemühungen kaum fruchten. Erfolgreich sein können sie bei Menschen, die ohnehin auf einer Sinnsuche sind. So wie viele Teilnehmer des Online-Alphalivekurses, die früher in der Esoterik Antworten gesucht, sie dort aber nicht gefunden haben. Oder die junge Frau, die buddhistisch aufgewachsen ist und nun bei Adoray glücklich ist, weil sie hier die Präsenz Gottes spüre.

Als der Priester in Zug die Gebetszeit beendet hat, sagt die Ordensfrau: «Wir wollen uns auch an die Muttergottes wenden.» Die jungen Katholiken stimmen eine poppige Version von «Ave Maria» an. Dann ist der Lobpreisabend vorbei, der gemeinsame «Chillout» beginnt. Die Adoray-Mitglieder machen im Vorhof der Kirche Smalltalk oder vertiefen sich in theologische Debatten. Und Eliane Elmiger erzählt von ihren Grosseltern.

Für diese habe die Gottesfürchtigkeit und der Besuch des Gottesdienstes früher zum Alltag gehört: Man machte es so, weil man es eben so machte. Die persönliche Gottesbeziehung sei wohl weniger im Zentrum gestanden, sagt Elmiger. Ganz anders als für sie und ihre Adoray-Freunde. «Wir mögen noch wenige sein. Aber wir sind nicht hier, weil wir müssen. Sondern weil wir uns dafür entschieden haben.»

Der Religionssoziologe Stolz sagt: «Evangelisierung ist nicht unmöglich, aber sie wird schwieriger, wenn die Personen in der Gesellschaft immer weniger christlichen Hintergrund mitbringen.» Doch das kann man auch ganz anders sehen.

Zuweilen sei es schwieriger mit Leuten, die aus gläubigen Familien stammen, über Gott zu sprechen, hat Adoray-Präsidentin Elmiger beobachtet. «Manche haben negative Assoziationen zur Kirche und wollen mit dieser nichts mehr zu tun haben.» Kirchenfern aufgewachsene Personen hingegen seien häufig offener. Und neugierig auf eine Lebenswelt, die ihnen zunehmend exotisch vorkommt.

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