Sonntag, Februar 23

Alpine Bräuche, Sagen und Trachten inspirieren derzeit auffallend viele Modedesigner. Mit kitschiger Alpenromantik haben ihre Entwürfe wenig zu tun.

Es ist einfach, sich im Landesmuseum in Zürich zu verlieren, mit seinen Erkern und grandiosen Hallen. Aber wenn man etwa siebenmal nach rechts geht und dreimal nach links, auf dem Weg zweimal nachfragt, einmal vom Zimmer mit den vielen Fingerringen abgelenkt wird und dann aus dem ersten Stock 32 geschwungene Treppen hochgeht, landet man in einer anderen Welt. An einem Ort, an dem die übliche Eintönigkeit der Schweizer Mode von prächtigen Ornamenten und gibeligelben Hosen abgelöst wird.

Dort, im «Turm», sind hinter Glaswänden die Trachten der Schweiz ausgestellt. Appenzeller Silberschaufeln baumeln vom Ohr einer Schaufensterpuppe. Edelweiss schlängelt sich über ein wollenes Hemd. Und: Es kommt einem alles seltsam bekannt vor. Nicht von Geschichtsbüchern oder Volksfesten. Sondern vom Laufsteg.

Keine Dirndl in Neonfarben

Man könnte es Alpenromantik-Revival oder Folklore-Fetisch nennen, was gerade passiert. Aber das wäre überhöht. Es sind keine Dirndl in Neonfarben (zum Glück), und auch keine Accessoires mit Souvenircharakter (meistens, zumindest). Der Einfluss der alpenländischen Kultur auf die aktuelle Mode ist subtiler. Er macht sich in Mustern spürbar und in Mythen, die auf den Moodboards von Designerinnen und Designern landen.

«Alpine Florals», heisst es plötzlich in verdächtig vielen Pressemitteilungen und Produktebeschreibungen. Die Diavolezza aus dem Bernina-Massiv, die laut einer Sage so etwas wie eine Schweizer Sirene war, beeinflusst die Meerjungfrauen-ähnliche Silhouette eines hochgelobten Bally-Jupes. Bilder aus Geschichtsbüchern über die bayerische Volkstracht schleichen sich in Instagram-Feeds. Charivaris und Loden tauchen in den Kollektionen von Luxuslabels und Designstudentinnen auf.

Die originale Anti-Fashion

Dabei standen Tracht und Mode im Alpenraum lange auf Kriegsfuss. Als 1926 in Luzern die Schweizer Trachtenvereinigung gegründet wurde, dann vor allem, um das «Kleid der Heimat» angesichts angesagter «Modetorheiten à la Bubikopf» zu schützen. Wenn Mode die ständige Veränderung war, war Tracht Beständigkeit. Die originale Anti-Fashion, ab dem 19. Jahrhundert in Büchern niedergeschrieben und bis heute fast unverändert. Das machte und macht sie zum Bollwerk der Identität. Während des Zweiten Weltkriegs war sie in der Schweiz Teil der geistigen Landesverteidigung, gross präsentiert an Ausstellungen. In Deutschland nutzten die Nationalsozialisten die bayerische Tracht derweil zu Propagandazwecken; gegen die jüdische Bevölkerung wurden Trageverbote verhängt.

«Null», war darum die Münchner Designerin Barbara Baum an der Tracht ihrer Heimat interessiert, als sie in den neunziger Jahren ihre Ausbildung machte. Zu nah sei die Nachkriegszeit gewesen, erzählt sie, und zu belastet die traditionelle Kleidung. Hinter ihr hängt ein ledernes Mieder von einem Antiquitätenmarkt wie ein tragbares Kunstwerk an der Wand. Denn als Baum 2020 nach dreissig Jahren im Ausland – Italien, Kenya, Grossbritannien, die USA – nach München zurückkehrte und ihr eigenes Modelabel gründen wollte, waren andere Zeiten angebrochen.

Die Debatte um kulturelle Aneignung durch westliche Modedesigner war an ihrem Höhepunkt angelangt. «In den achtziger, neunziger und nuller Jahren haben sich Modefirmen ohne mit der Wimper zu zucken an der Ästhetik anderer Kulturen bedient, vor allem aus dem globalen Süden», erklärt Baum, «ich konnte und wollte das nicht tun.»

Das passt in eine grössere Bewegung, wie sie die Kulturerbe-Konservatorin Marie-Charlotte Calafat beschreibt, die 2023 am Mucem in Marseille die Ausstellung «Fashion Folklore» mitkuratierte. Es gebe aufgrund der Konversation um kulturelle Aneignung eine «Verlagerung hin zu co-konstruierten Kollektionen, in denen die Referenzen explizit sind und die spezifische Handwerkskunst hervorgehoben wird», so Calafat.

Von einem Heimatmuseum zum nächsten

Also nahm sich Baum ihrer eigenen Kultur an. Sie klapperte ein Heimatmuseum nach dem anderen ab, von Garmisch bis Mittenwald, von Unterschleissheim bis Regensburg. Die Entwürfe für ihr Label Bara Bara leitet sie sachte von ihren Entdeckungen ab. Die Form ihres gehäkelten Charivari-Kragens etwa kommt von einem Kropfbandl, diesem glamourösen Halsband mit unglamourösem Hintergrund: Es stammt aus dem Salzburgerland, wo Frauen ihre durch Jodmangel entstandenen verdickten Schilddrüsen – den Kropf – damit abdeckten. Mit der Zeit wurde es zum Teil der örtlichen Tracht.

Es zeugt davon, wie diese Kleidung aufs Intimste mit der Geschichte verwoben ist und wie aus Alltäglichem Ornamentales entstehen kann. «Die Idee des einfachen Lebens, unterbrochen von der Opulenz besonderer Festlichkeiten», beschrieb der österreichische Designer und Künstler Helmut Lang einmal seine Kindheit in der Steiermark. Er sah seine Arbeit stets davon geprägt. In New York City, heisst es heute, verliebte er sich, weil ihn die Wolkenkratzer an die Berge erinnerten.

Die gelegentliche Opulenz, sie taucht auch in der Arbeit von Simone Bellotti auf, dem gegenwärtigen Chefdesigner der Schweizer Traditionsmarke Bally. Der Italiener verliert sich bei der Recherche gerne in den Sagen und Trachten des Landes. Die Schweiz, die er zeichnet, ist darum intuitiv und häufig absurd, zumindest auf den ersten Blick. Sie ist ein wenig abergläubisch und besessen von Details. Sie sammelt Blümchen in extra dafür vorgesehenen Lederpochetten.

Sie ist ein Punk, der Appenzeller Messingbeschläge und Bilder des Fotografen Karlheinz Weinberger mischt. Für Frühjahr/Sommer 2025 ist sie ein Dadaist, wie der Schriftsteller Hugo Ball es war. Und immer wieder sind da Kuhglocken, die Taschenformen beeinflussen oder an adretten Mary-Janes bimmeln. Sie seien «ein ironisches Element, um ein wenig Spass in die Kollektion zu bringen», so Bellotti. Und sowieso: Ihr Geräusch sei sehr entspannend.

Subtile Zitate an die Heimat

Dass internationale Influencerinnen nun an den Modewochen Handtaschen herumtragen, die mit unzähligen Schellen versehen sind, hat mit seiner Zweckentfremdung selbst etwas Dadaistisches. Dasselbe gilt für die kostbaren, mit Blumen bestickten Wollwesten des Pariser Labels Rier, die derzeit auffällig viele modebewusste Oberkörper schmücken. Denn: Sie sehen verdächtig wie die Uniform der Kastelruther Spatzen aus.

Das liegt an dem Designer der Westen, dem Südtiroler Andreas Steiner, der nach vielen Jahren bei Labels wie Prada und Louis Vuitton 2019 sein eigenes gründete. Die Zitate aus der Kleidung seiner Heimat sind meist subtiler als bei seinen von Trachten inspirierten Westen. Sie zeigen sich etwa in Walkloden, der zum knitterfreien Alleskönner erklärt wird, oder in dunkelgrün glänzenden Lederhosen, die in einer Stadt nicht deplatziert wirken.

Fetisch für das Sinnliche

Steiner lässt fast ausnahmslos in Südtirol produzieren; es waren die dortigen Handwerksbetriebe, die ihn erst zu Rier inspirierten. Auch 079, das temporäre, umstrittene Modelabel der Schweizer Telekommunikationsfirma Swisscom, setzt bei seinen folkloristisch angehauchten Seidenfoulards, Strickwaren und Jacken betont, wenn auch nicht ausschliesslich, auf Schweizer Herstellung.

Handwerk sei denn auch der Schlüssel zu dieser allmählichen modischen Wiederentdeckung des Alpenraums, sagen Mathias Renner und Andreas Koller. Die beiden gründeten im Jahr 2023 das «Service Magazine», das die Alpen als kreatives Sprungbrett nutzt und unter anderem mit Schweizer Kreativschaffenden wie Walter Pfeiffer, Lukas Wassmann und Ursina Gysi zusammenarbeitet.

Nach einer Dekade, in denen Labels wie Balenciaga und Yeezy mit ihrer Streetwear-inspirierten Kleidung dominierten, zeichne sich eine Rückbesinnung auf Handwerkliches ab, sagen die beiden: «In der Mode hat dies vielleicht weniger mit einer rückwärtsgewandten Lust am Folkloristischen zu tun», so Renner und Koller, «als mehr mit einem wiedergewonnenen Fetisch für das Barocke und das Sinnliche.»

Die letzten ihrer Art

Und mit dem Seltenheitswert, den das Handwerk im Alpenraum zunehmend hat. Während Bally die verstaubt gewordene Swissness umdreht und neu interpretiert – nicht zum ersten Mal in der 174-jährigen Geschichte, aber sicherlich am geschmackvollsten – entfernt sich die Marke selbst zunehmend von ihrem Ursprungsland. Letztes Jahr wurden laut SRF 65 Angestellte am Tessiner Produktionsstandort in Caslano entlassen, nachdem Bally an einen neuen, amerikanischen Besitzer überging. Überhaupt wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Textilfirmen im Alpenraum geschlossen, von der Glarner Textildruckerei Mitlödi bis hin zur Spinnerei der Firma Linz im österreichischen Landeck.

Wenn man die Betriebe und Kunsthandwerker betrachtet, mit denen die Designer heute zusammenarbeiten, wiederholt sich ein Prädikat wie ein Refrain: Sie seien die letzten ihrer Art.

Exit mobile version