Früher war Lokomotivführer ein Traumberuf. Heute ist der Nachwuchs rar. Eine neue Software soll mit flexibler Dienstplanung die Zufriedenheit und Motivation der Lokführer steigern.
Wer die Wünsche der Lokführerinnen und Lokführer in den Dienstplänen berücksichtigt, kann sie besser bei Laune halten – und Loyalität gegenüber ihrem Arbeitgeber fördern. Denn Berufsfrust ist gerade im Güterverkehr keine Seltenheit: Statt Fahren heisst es immer wieder Warten. Zum Beispiel, weil der Zug, den man übernehmen soll, erst in ein paar Stunden kommt oder grosse Verspätung hat. Oder das Signal auf dem Überholgleis der stark befahrenen Strecke steht fast permanent auf Rot.
Auf wenig Begeisterung stossen auch die sogenannten «Gastfahrten» per Bahn oder Auto zu weit entfernten Einsatzorten. «Lokführer fahren heute oft nur 30 bis 40 Prozent ihrer Arbeitszeit tatsächlich Lokomotiven», sagt Maria Leenen, Geschäftsführerin des Eisenbahnberatungsunternehmens SCI-Verkehr. «Da ist viel Luft nach oben.»
Über den wenig effizienten Personaleinsatz klagen auch die Bahnunternehmen. Viele Güterbahnen setzen ihre Hoffnungen zur Verbesserung der Situation in die Digitalisierung. Bahndienstleistung durch Algorithmen und Automatisierung per Mausklick.
«Unser Kernproblem: Die Daten jedes einzelnen Auftrags beschäftigten bei uns fünf oder sechs Abteilungen, von der Disposition bis zur Lohnbuchhaltung», sagt Manuel Peschel, Produktionsleiter der Havelländischen Eisenbahn (Hvle). «Mit der Digitalisierung konnten wir diesen Prozess verschlanken und den Arbeitsaufwand deutlich minimieren.»
Das Ziel auf Neudeutsch: ein «Workforce Management». Dazu gehört auch, den Frust über lange, leere Wartezeiten abzubauen und die Mühsal des rollenden Arbeitsplatzes mit ständigen Ortswechseln zu erleichtern. «Wir müssen die Attraktivität der Lokführerberufe steigern – sie sind interessant, abwechslungsreich und gut bezahlt», sagt Fabian Stöffler, Chef des Berliner Startups Menlo79.
Dort arbeitet ein Team von IT-Experten mit Bahnexpertise: Sie haben bei der Deutschen Bahn an der Digitalisierung getüftelt, bevor sie unter die Gründer gingen. Einer von ihnen hat gar Erfahrung als Lokführer. Der Mathematiker Stöffler sagt: «Wir verstehen nicht nur Digitalisierung, wir sprechen auch die Sprache der Bahn und wissen, wie sie funktioniert.»
Die Plattform von Menlo79 heisst «Wilson», eine Hommage an William Wilson. Er war der britische Lokführer, der 1835 mit der in Grossbritannien gebauten Lokomotive «Adler» die erste deutsche Eisenbahnlinie von Nürnberg nach Fürth eröffnete.
Das Produkt stammt aus der Gegenwart: eine cloudbasierte Software zur Personaleinsatzplanung, die auf einem lernenden Algorithmus basiert. Sie kennt die Schicht- und Dienstpläne des Fahrpersonals und die individuellen betrieblichen und fachlichen Qualifikationen ebenso wie Tarifverträge, Krankheits- und Urlaubsstände. Das komplexe Puzzle der wöchentlichen Dienstplanung wird im Dialog am Bildschirm einfach und schnell gelöst. Auch Personalausfälle, Fahrplanänderungen und Betriebsstörungen lassen sich mit wenigen Klicks verwalten – auf Basis des komplexen Regelwerks des Bahnbetriebs mit seinen hohen Sicherheitsanforderungen. Die Kommunikation aller Beteiligten erfolgt per Smartphone, Tablet, Laptop oder PC.
Bei der Güterbahn Hvle wurde die Plattform im Rahmen eines von der EU und dem deutschen Bundesverkehrsministerium geförderten Projekts an die Anforderungen der Bahn angepasst. «Die Branche braucht dringend eine intelligente Personaleinsatzplanung, um ihr hohes Anlagevermögen optimal zu nutzen», sagt der Produktionsleiter Peschel. Man sei zwar noch nicht so weit, aber auf dem richtigen Weg.
Branchenlösung oder Eigenentwicklung?
«Früher haben wir die Schicht- und Personalplanung mit Excel-Tabellen gemacht. Mit dem System von Wilson wollen wir unsere Prozesse effizienter gestalten und die Fehleranfälligkeit minimieren», ergänzt Alexander Kaas-Elias, Sprecher des Fernzugbetreibers Flixtrain.
Die in den vergangenen fünf Jahren entwickelte Plattform bedient inzwischen knapp zwanzig Bahnunternehmen, vor allem Güterbahnen und Bahnlogistiker – darunter auch vier kleinere Schweizer Unternehmen. Staatsbahnen wie DB und SBB gehören nicht zu den Kunden. Sie setzen auf Eigenentwicklungen oder andere IT-Dienstleister.
Zu den Extras der Wilson-Software gehört ein Übernachtungsmanagement für das fahrende Personal. «Die Hotelbuchung ist mit der Schichtplanung verknüpft und steht dem Personal jederzeit zur Verfügung», sagt Gerrit Koch to Krax von Menlo79. Auch wenn der Dienst ausserplanmässig statt in Mannheim in Fulda ende, erfolge die Umbuchung und Abrechnung stressfrei und komfortabel über das System.
Etabliert hat sich zudem ein Angebot, mit dem die Bahnen für eine gemeinsame Produktivität zusammenrücken. «Wilson Share» bietet unternehmensübergreifende Personaldisposition – nicht nur für Lokführer, sondern auch für händeringend gesuchte Wagenmeister (sie prüfen die bereitgestellten Züge, machen Sicherheitschecks und dokumentieren Schäden und Mängel) und Rangierer.
Im Mittelpunkt steht ein digitaler Marktplatz, beschreibt Gerrit Koch to Krax: «Unternehmen können nach zusätzlichen Personalkapazitäten suchen und Anfragen mit kurzen Vorlaufzeiten mit zertifizierten Dienstleistern und Partnern teilen. Alternativ können freie Personalkapazitäten angeboten werden, um auf Engpässe zu reagieren.»
Nach Pilotprojekten soll das System im kommenden Jahr serienreif sein. «Fahrzeuge und Personal poolen: Das kommt zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt und kann die Zusammenarbeit der Bahnen auf eine neue Basis stellen. Es wird helfen, die dringend gesuchten Effizienzreserven zu heben», sagt die Beraterin Leenen von SCI-Verkehr.
Verschiedene Bahnunternehmen werden vernetzt
So erproben Güterbahnen auf den grossen Rennstrecken bereits mit Wilson Share die Arbeitsteilung. Sie bringen freie Personalkapazitäten und den Bedarf an Zugleistungen über das eigene Unternehmen hinaus in der gemeinsam genutzten Software zueinander. Das freut das Lokpersonal: Der Leerlauf zwischen zwei Zügen wird kürzer.
Ein anderes Beispiel: In einer Partnerschaft teilen sich die Bentheimer Eisenbahn (BE) und das Bahnunternehmen BELog Lok und Personal. Der Eisenbahnlogistiker aus der Bauindustrie transportiert Kies aus dem Bundesland Sachsen-Anhalt in Ganzzügen (die vom Start- zum Zielbahnhof ohne Änderung der Zusammensetzung verkehren) mit bis zu 3000 Tonnen Ladung in die Niederlande. Auf der letzten Etappe steigt die BE ein.
Buchstäblich: Der bisherige Lokführer hat Feierabend. An Bord klettert der Lokführer von BE. Mit der BELog-Lok fährt er den Zug über die Hausstrecke der BE ins niederländische Coevorden zu einem Werk, das Betonfertigteile herstellt. Der Kollege aus Sachsen-Anhalt schläft derweil im Bahnhofsgebäude von Bad Bentheim. Dort, am deutschen Grenzbahnhof zwischen Berlin und Amsterdam, hat die BE ein Hostel für Lokführer eingerichtet und für ihn ein Zimmer reserviert. Am nächsten Morgen übernimmt er seinen Zug wieder für die Fahrt nach Hause.
Wilson Share ist «noch ein zartes Pflänzchen, aber theoretisch mit jeder unserer Güterbahnen machbar», sagt der BE-Vorstandsvorsitzende Joachim Berends. Durch die Kooperation muss die BELog keinen Lokführer zum Schichtwechsel ins ferne Niedersachsen schicken. Kostensparend ist auch, dass auf der letzten Etappe der Lokwechsel von einer Bahn zur anderen entfällt.
Berends und sein Unternehmen, das dem Landkreis Grafschaft Bentheim gehört, setzen schon lange auf Wilson: «Wir machen die Personaldisposition für den Güterverkehr, aber auch für unseren Schienennahverkehr komplett digital über die Plattform.» Als einer der ersten Kunden habe man das System mitentwickelt. «Wir gewinnen enorm an Produktivität und sichern damit unser Geschäft wirtschaftlich ab.»
Zu den Besonderheiten des Arbeitsmarktes für die nicht ganz 40 000 männlichen und weiblichen Lokführer in Deutschland gehört mit steigender Tendenz, dass Zeitarbeitsfirmen Fachkräfte in Teilzeit an die Bahnbranche überlassen. «Das Risiko krankheitsbedingter Ausfälle trägt die Zeitarbeitsfirma, und bei geringerem Personalbedarf kann flexibel reagiert werden», sagt Peter Bosse. Er ist Vorstand des Zeitarbeitsneulings Fair Train, einer Genossenschaft, hinter der die Lokführergewerkschaft GDL steht. Mehr als 30 Personaldienstleister nutzen die Plattform bereits für die Arbeitnehmerüberlassung.
Der Menlo79-Chef Stöffler sagt: «Generell wächst der Markt sehr stark. Wir haben Kunden, die ihre Mitarbeiterzahl in den letzten zwölf Monaten mehr als verdoppelt haben.» Er schätzt, dass bereits 10 bis 15 Prozent der Lokführer auf dem deutschen Bahnmarkt bei Zeitarbeitsfirmen angestellt sind. «Und es werden sicher noch mehr, denn die Dienstleister locken mit attraktiven Konditionen und der Möglichkeit, bei mehreren Bahnen zu arbeiten.»