Freitag, April 25

Ein deutscher Unternehmer will in den ehemaligen Ilford-Werken in Marly Fotofilme herstellen. Er könnte Erfolg haben – dank dem Comeback der analogen Fotografie.

Im Halbdunkel tastet Mirko Böddecker nach dem Lichtschalter. Als er ihn nicht findet, ruft er seinen Mitarbeiter: «Meinrad!» Dieser ist zwei Stockwerke weiter oben beschäftigt und kann uns nicht helfen. Doch das macht nichts: Böddecker hat den Schalter jetzt gefunden. Er knipst das Licht an, in dem gekachelten Raum wird es heller und heller.

Während mit einem Klirren die Leuchtstoffröhren angehen, blinzelt Böddecker und sagt wie zu seiner Verteidigung: «Das mit dem Licht hier drin, das ist noch einmal eine eigene Geschichte.»

Vorerst bleibt er aber bei der eigentlichen Geschichte, deretwegen wir hier sind. Anfang 2014 hat Mirko Böddecker mit seiner Firma Adox eine Maschine aus der Konkursmasse des Freiburger Fotochemie-Konzerns Ilford übernommen. Damit lässt sich Folie oder Papier hauchdünn mit Gelatine-Emulsion beschichten. Allerdings ist die Maschine sehr anspruchsvoll zu bedienen.

Mirko Böddecker hat schon in den Neunzigern gegen den Zeitgeist gewettet. Auf «Maschine E» produziert er nun neuen Schwarz-Weiss-Film.

Böddeckers Mitarbeiter, Meinrad Schär, hat zehn Jahre damit verbracht, die Maschine zu studieren. Jetzt kennt er sie genauer als jeder andere und ist bereit, damit im Frühling seinen ersten Schweizer Schwarz-Weiss-Film herzustellen.

Dass in den früheren Ilford-Werken in Marly bei Freiburg wieder Fotomaterial produziert wird, ist der einstweilige Höhepunkt dieser Geschichte. Doch Böddecker studiert schon an ihrer Fortsetzung herum: Adox könnte für den fotochemischen Markt wichtiger werden, als es Ilford unter Schweizer Führung je war. Und das mit bloss zwei Angestellten in der Schweiz und einer Maschine, die vor 50 Jahren für Testzwecke gebaut wurde.

Um zu verstehen, wie das gehen soll, muss man ganz vorn beginnen.

Cibachrome macht Marly zur «Hauptstadt der Farbe»

Am Anfang dieser Geschichte steht der Grössenwahn des Basler Chemieunternehmens Ciba. Die Direktion glaubt Anfang der sechziger Jahre, dass mit fotochemischen Produkten viel Geld zu verdienen sei. Ciba kauft in Marly 500 000 Quadratmeter Land, baut Forschungsanlagen und übernimmt das britische Unternehmen Ilford.

Hunderte junge Chemiker und Laboranten werden eingestellt. Einer von ihnen ist Meinrad Schär. Er zieht 1972 im Alter von 24 Jahren aus Zofingen nach Marly und ist sofort begeistert von seinem neuen Arbeitsort: Die Labore sind neu und ausgestattet mit dem Besten, was die Industrie zu bieten hat.

Wenige kennen den Gebäudekomplex der einstigen Ilford-Werke in Marly so genau wie er: Meinrad Schär arbeitet seit 1972 hier.

Schär erinnert sich: «Die Stimmung unter den Angestellten war gleich sehr kollegial. Wir hatten gute Gehälter und arbeiteten gern hier.» Am Ende jedes Jahres werden neue Laborgeräte bestellt, um das Budget aufzubrauchen. Aus Basel fliesst scheinbar immer neues Geld.

Cibachrome, ein Papier für Farbabzüge, ist das Flaggschiff in der Produktepalette von Ilford. Meinrad Schär arbeitet an der Verbesserung der Katalysatoren, um die Entwicklungsprozesse zu beschleunigen. Weltbekannte Fotografen wie Werner Bischof setzen auf ihn und Cibachrome.

Die Farbbrillanz und die Lichtbeständigkeit des Papiers sind ungeschlagen, Marly bekommt den Spitznamen «Hauptstadt der Farbe». Ilford spielt mit Kodak und Fujifilm in der obersten Liga.

Tränen in Marly, Händereiben in Berlin

Cibachrome ist hervorragend, aber teuer – und steht damit sinnbildlich für Ilford unter Schweizer Führung. Wirtschaftlich kommt das Unternehmen nämlich nicht vom Fleck. Zeitweise arbeiten in Marly mehr als 1000 Personen, aber über einen Marktanteil von etwa 2 Prozent kommt Ilford nicht hinaus. Kodak dominiert die Branche mit einem Anteil von 50 Prozent.

Meinrad Schär erkennt früh, dass es seinem Arbeitgeber nicht gut geht: «Unsere Forschung war Weltklasse, aber Geld haben wir damit nie verdient. Meines Wissens waren wir nur ein einziges Jahr lang profitabel.»

1989 zieht Ciba die Notbremse und verkauft Ilford an ein amerikanisches Unternehmen. Schär wechselt die Abteilung. Danach wird der Standort Marly noch einige weitere Male verkauft, aber Schär bleibt Ilford und Marly immer treu. Bis die Maschinen im Dezember 2013 endgültig abgestellt werden.

Meinrad Schär erinnert sich noch lebhaft an den letzten Tag von Ilford: «Das war ein Donnerstag im Dezember. Viele Kolleginnen und Kollegen sind in Tränen ausgebrochen.» Es ist das Ende einer Ära, das sie beweinen.

Während in Marly geweint wird, wittert der Deutsche Mirko Böddecker eine Chance.

Er wettet gegen den Zeitgeist – und hat Erfolg damit

2003 wurden weltweit 960 Millionen Rollen Film verkauft. Es ist der Höhepunkt der fotochemischen Industrie. Von da an geht es steil bergab.

Als professionelle Spiegelreflexkameras wie die Nikon D3 mit einem digitalen Sensor ausgeliefert werden, der so gross ist wie ein 35-mm-Negativ, gilt analoges Fotografieren endgültig als überkommen. 2009 werden nur noch 20 Millionen Rollen Film verkauft. Sogar Kodak muss in die Insolvenz.

Das Ende von Ilford scheint zum Zeitgeist zu passen.

Doch Mirko Böddecker hat von Anfang an gegen diesen Zeitgeist gewettet. Seit den frühen neunziger Jahren führt er in Berlin-Mitte den Fachhandel Fotoimpex und verkauft dort ausschliesslich analoges Material. Daran ändert sich auch in den Krisenjahren der Industrie nichts.

2005 meldet Agfa Insolvenz an. Böddecker sichert sich Maschinen und Material des deutschen Traditionsbetriebs. In Brandenburg fertigt er damit künftig eigene Filme und Papiere. Als Marke benutzt er «Adox», den ältesten noch aktiven Markennamen in der Fotobranche. Die Markenrechte hat er bei anderer Gelegenheit erworben.

Damit wird Böddecker zum Lieferanten seines eigenen Ladens. Und nicht nur das – weil zu jener Zeit diverse Hersteller Lieferschwierigkeiten haben, nehmen auch andere Händler die Produkte von Adox in ihr Sortiment auf. Adox steigt zur zweckmässigen Alternative zu den grossen Herstellern auf. Und mausert sich dann zum ernsthaften Konkurrenten.

Was auf den Markt kommt, ist gleich ausverkauft

Plötzlich liegt analoges Fotografieren wieder im Trend. Die Pandemie und soziale Netzwerke befeuern die Rückkehr von mechanischen Fotoapparaten und chemischen Filmen. 2022 kündigt Leica eine neue Kamera für 35-mm-Film an. Um sich Zugang zu vergessenem Know-how zu verschaffen, sucht Leica nach pensionierten Technikern. Es sind, wenn man so möchte, die Meinrad Schärs von Wetzlar.

Im gleichen Jahr stellt Kodak in den USA 300 neue Chemiker ein und schreibt weitere 300 Stellen aus, um der «explodierenden» Nachfrage nach analogem Film gerecht zu werden. Ende 2023 gewinnt mit «Oppenheimer» ein Blockbuster den Oscar, der auf eigens entwickeltem Schwarz-Weiss-Film im Imax-Format gedreht wurde.

Analog ist zurück.

Rotes Licht heisst: «Labor besetzt». Im Sitzungszimmer erklärt Böddecker sein Geschäftsmodell.

Auch bei Adox läuft das Geschäft. Egal, ob Chemie für die Dunkelkammer, Fotopapiere oder hochauflösende Schwarz-Weiss-Filme. Was Böddecker auf den Markt bringt, ist in der Regel sofort ausverkauft. Mirko Böddecker sagt: «Es gibt nur noch Kodak, die neu sortierte Ilford-Gruppe. Dann kommen schon wir.»

Böddeckers Frau ist die Influencerin Lina Bessonova. Bei Instagram postet sie Inhalte über analoge Fotografie für 60 000 Follower. Bei Adox ist sie eigentlich für das Marketing verantwortlich, aber Böddecker hat ihr ausdrücklich verboten, zu viel Werbung zu machen: «Wir schüren sonst Erwartungen, die wir nicht erfüllen können», sagt er.

Über den neuen Schwarz-Weiss-Film, den Adox nun im Frühling in Marly herstellen will, dürfen wir noch nichts schreiben. Böddecker will erst darüber sprechen, wenn es den Film auch wirklich gibt.

2019 wurden weltweit insgesamt 26 Millionen Rollen Film verkauft, unterdessen werden es noch mehr sein. Theoretisch, sagt Böddecker, könnte er in Marly 7 Millionen Filme pro Jahr herstellen. Das würde ihm einen Marktanteil von 25 Prozent bescheren.

Aber noch bleibt er vorsichtig: «Das sind nur hypothetische Zahlen.»

Das Gebäude ist um die Maschine herum gebaut

Als Mirko Böddecker in dem gekachelten Raum den Lichtschalter gefunden hat, erläutert er, was wir vor uns haben. Der Raum mit dem versteckten Lichtschalter ist Anfangs- und Endpunkt von «Maschine E», einem elektromechanischen Ungeheuer von 1969. Es ist diese Maschine, die Böddecker 2014 aus der Konkursmasse von Ilford gerettet hat, von der die Zukunft von Adox abhängt.

Zehn Jahre hat Meinrad Schär gebraucht, um «Maschine E» zu verstehen. Jetzt braucht er keine Anleitungen mehr.

«Maschine E» wurde ursprünglich für Tests gebaut. Ilford stellte damit Proben mit neuer Emulsion her und schickte das Resultat an Fotografen. Serienproduktionen waren auf der 50 Millionen teuren Anlage nicht möglich.

Die schwere Arbeit erledigte Ilford im sogenannten «Tunnel 4», damals eine der grössten und modernsten Beschichtungsmaschinen in ganz Europa. Sie war einst der Stolz von Ilford, brachte aber kein Geld: Die Kapazitäten in «Tunnel 4» waren derart gross, dass die Anlage rund um die Uhr auf Hochtouren hätte laufen müssen, um rentabel zu sein. Wegen der ausbleibenden Aufträge wurde «Tunnel 4» aber zusehends zur Last. Allein das Aufstarten der Maschine kostete Tausende von Franken – so viel Energie verbrauchte die 1000 Meter lange Trocknungsanlage.

«Maschine E» ist nur ein Zehntel so gross, funktioniert aber gleich wie «Tunnel 4». In der einen Ecke des gekachelten Raums wird transparente Folie aus Polyethylen in einen Schlitz eingeführt, in der anderen kommen 1500 Meter fertiger Fotofilm heraus.

Dazwischen liegen, auf drei Stockwerke verteilt, Hunderte Sensoren, Ventile, Pumpen und Schläuche. Wenn die Anlage läuft, macht sie saugende und schmatzende Geräusche, poltert und stampft.

Ihr Herzstück ist ein unscheinbarer Giesskopf aus Chromstahl im dritten Stock. Ihm gilt Meinrad Schärs volle Zuwendung, er ist das heikelste Teilchen der Maschine. Der Giesskopf hat ungefähr das Format einer italienischen Espressomaschine und trägt sechs Schichten Fotoemulsion gleichzeitig auf die Folie auf. In der Nähe des 88 Meter langen Tunnels, in dem der fertige Fotofilm mit heisser Luft getrocknet wird, donnern die Ventilatoren wie ein Propellerflugzeug.

Eine schematische Darstellung und die realen Dimensionen von «Maschine E». Der Giesskopf ist das Herzstück der Anlage.

Weil die Fotoemulsion lichtempfindlich ist, müssen all diese Arbeitsschritte im Dunkeln passieren. Darum ist der Lichtschalter im gekachelten Raum so schwierig zu finden. Schaltet man versehentlich das Licht an, ist die Produktion ruiniert. Mirko Böddecker lacht verschmitzt, als er das erklärt. Dann sagt er lakonisch: «Es ist alles ziemlich kompliziert hier drin.»

Aber Schär und er haben es geschafft. Sie haben die Maschine so umgebaut, dass damit nun Serienproduktionen mit nur einem Maschinisten möglich sind. Sie haben das Ungeheuer gebändigt.

Wenn die Herstellung Fahrt aufnimmt, dann könnte Böddeckers Adox wichtiger für die Branche werden, als Ilford es unter Schweizer Führung war.

Mehr als doppelt so viele Arbeitsplätze wie noch 2013

«Maschine E» ist in einem Gebäudeblock eingemauert, doch davon abgesehen braucht Adox fast keinen Platz. In die anderen Industriebauten aus Ilford-Tagen sind seit dem Konkurs 2013 Dutzende Startups und andere Unternehmen eingezogen.

Angeworben hat sie alle Jean Marc Métrailler. Dieser war 2013 Finanzchef bei Ilford und versuchte, den Konkurs des Unternehmens abzuwenden. Doch die Lage war aussichtslos und Métrailler musste einsehen, dass Ilford nicht zu retten war. «Das war mir damals mir extrem peinlich», sagt Métrailler heute.

Vielleicht deshalb hat er sich als Co-Direktor des Marly Innovation Center um die Wiederbelebung des Standortes bemüht. Mit dem Zwischenresultat nach zehn Jahren ist er schon einmal zufrieden: Heute arbeiten 700 Personen auf dem alten Ilford-Gelände. Das seien vier Mal so viele wie 2013, rechnet er vor.

Und bald sollen es noch mehr werden: «Wir möchten den Campus zu einem attraktiven neuen Quartier von Marly entwickeln. Menschen sollen hier wohnen, leben und arbeiten können.»

Von seinem Fenster aus überblickt Métrailler eine Baustelle, wo derzeit ein Vier-Sterne-Hotel entsteht. Ein brandneues Schwimmbad, mehrere Wohnblöcke und eine Kindertagesstätte stehen bereits. Eine Klinik und ein Fotografiemuseum befinden sich in Planung.

Wenn alles nach Plan läuft, dann erinnert bald nichts mehr an die Vergangenheit. Der einstige, 500 000 Quadratmeter grosse Campus, den Ciba errichtet hat, wird zu einem Quartier von Marly.

Aber dank Mirko Böddecker und Adox wird Marly im Geheimen die «Hauptstadt der Farbe» bleiben.

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