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Fast zehn Millionen Soldaten starben im Ersten Weltkrieg. Wer ihn überlebte, war für immer gezeichnet. So auch der Vater unseres Autors: In Briefen und Postkarten an seine Familie schilderte er das Grauen, das er als Feldhilfsarzt erlebte.
Es ist Spätherbst 1916. Immer wieder geht Mutter Katharina, Witwe eines Bijouteriefabrikanten, hinaus in den Garten bei ihrem Haus im Schwarzwaldstädtchen Neuenbürg und lauscht in den Wind. Weht er von Nordwesten her, raunt er vom Tod. Über 200 Kilometer trägt er dumpfes Grollen mit sich: Kanonendonner von der Westfront. Dort, mitten im Inferno, weiss sie ihre beiden Söhne. Manchmal im Abstand weniger Tage schreiben sie ihr Briefe oder Karten, dann wieder eilt sie vergeblich zum Briefkasten. Sosehr sie sich über die Post freut, die Angst bleibt ihr im Nacken. Sie weiss nicht, während sie das Geschriebene liest und wieder liest, ob der Absender noch lebt.
Davon, dass neben Katharinas Sohn Arthur auch dessen Bruder den Krieg durchstand, hing für mich alles ab. Der junge Mann, der aus dem Krieg heim an sein «Mutterle» schrieb, war nämlich mein Vater, Donald Roeck (1893–1978). Einige hundert Briefe und Feldpostkarten hat er hinterlassen. Sein Schicksal teilten Unzählige.
Fast zehn Millionen Soldaten und annähernd sechs Millionen Zivilisten kostete der Weltkrieg das Leben. Man vergisst leicht, was sich hinter solchen monströsen Zahlen verbirgt. Sie stehen für gestohlene Jugendjahre; für Träume, die über den Schlachtfeldern verwehten; abgeschnittene, wenigstens umgeleitete Leben, bunte, komplizierte, traurige, schöne. Jedes dieser Leben hat ein Recht darauf, erinnert zu werden – und so auch die Geschicke des jungen Mannes, von denen hier zu berichten ist. Manche der Bilder, die unser Echolot aus tiefer Vergangenheit und Vergessenheit aufsteigen lässt, könnten aus Kriegen der Gegenwart kommen. Wieder ist ja Blutland mitten in Europa, wieder kauern Männer zwischen Leben und Tod in Unterständen, heben Schützengräben aus, und wieder türmen sich die Toten.
Ich will möglichst wenig über den Briefschreiber sagen. Dazu stand er mir zu nahe. Es geht nur darum, zu zeigen: das Gesicht des Krieges, die Fratze der Schlacht, soweit Worte das überhaupt vermögen.
Der Abend einer Epoche
Im August 1914 war Roeck, damals Medizinstudent, als Freiwilliger in ein Ulanenregiment eingetreten. Patriotische Begeisterung herrschte damals nicht so allgemein, wie lange behauptet wurde. In bürgerlichen Mittelschichten, denen unser Autor entstammte, war sie indes verbreitet und hatte auch ihn infiziert.
Dabei war ein Albtraum der deutschen Aussenpolitik Wirklichkeit geworden: Nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger hatten die Bündnismechanismen einen Zweifrontenkrieg herbeigeführt. Im Osten ging es mit Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich gegen Russland, im Westen gegen Frankreich und England. In den Schlachten von Tannenberg und an den Masurischen Seen gelangen den Deutschen Befreiungsschläge. Operationen im Raum blieben möglich. Im Westen kam der deutsche Vormarsch an der Marne zum Halt. Die Kämpfe erstarrten zum Stellungskrieg.
Ein vergilbtes Foto zeigt Roeck und Kameraden vor dem Aufbruch an die Ostfront, nahe der Kaserne in Ludwigsburg bei Stuttgart. Es ist ein sonniger Märztag des Jahres 1915. Die Männer haben Abschied genommen; Blumensträusschen schmücken Helme und Uniformen. Von unterwegs gingen erste Briefe in die Heimat. «Wir sind noch stets vergnügt und freuen uns darauf, zeigen zu dürfen, wie Schwaben fechten!», schrieb Roeck, gerade hatte der Zug die Grenze zu Russisch-Polen passiert. Im Vorüberfahren bemerkte er erste Spuren des Krieges: zerstörte Häuser und Brücken, Soldatengräber. Kinder bettelten um Brot. «Überall war die Freude gross, dass deutsche Truppen kamen.»
Schon nach wenigen Wochen war aller Enthusiasmus Ernüchterung gewichen. Briefe aus Masowien berichten von endlosen Ritten auf Gaul «Priska», schlechtem Schlaf in Scheunen oder auf blankem Acker. Noch war kein heisser Krieg. «Wir liegen hier in diesem Saunest fest und kämpfen stets, aber nur gegen die Läuse», klagte der Briefschreiber. «Habe Sehnsucht, aus diesem schmutzigen Lande herauszukommen und wieder die Annehmlichkeiten der Civilisation zu geniessen.»
Ende April erlebte er erste Zusammenstösse mit russischen Truppen. Jetzt wie später versuchte er sich an dem Spagat, zu berichten, was geschah, dabei aber «das liebe Mütterlein» nicht zu beunruhigen. «Hier tobt den ganzen Tag das Gefecht», verlautete aus Przasnysz. «Neben uns platzen die Schrapnells, aber ganz ungefährlich, sie gelten unserer Artillerie.» Wenig später konnte Entwarnung gegeben werden. «Wir leben hier wie in der Sommerfrische!»
Roeck zog in die Kämpfe im Osten wie ein Krieger alter Zeit. Er wusste, dass über seinem Ritt das Abendlicht einer Epoche lag, die Mensch und Pferd in kentaurischer Symbiose kannte: «Kavallerie ist eine Waffe der Vergangenheit, wir sind nicht mehr recht zu gebrauchen.» Im Herbst wurde die Division, in der er diente, nach Serbien verlegt. Im November wurde er beurlaubt, um die medizinische Vorprüfung abzulegen. Ärzte brauchte die im Westen verblutende Armee – die Front erstreckte sich von Flandern bis zur Schweiz – nicht minder dringend als Kanonen und Granaten. Nach bestandenem Examen und Ernennung zum Feldhilfsarzt fand sich unser Mann im Oktober 1916 beim Württembergischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 248 ein.
Der Krieg zeigte sich als schauerliches Panorama. «Das solltet ihr mal sehen, dieses Bild. Im Morgengrauen bewegen sich einige graue Gestalten über ein über und über mit Granatlöchern bedecktes Gelände. Kein Meter, der nicht die Spuren eines Einschlags zeigte. Die Umgebung ist trostlos. Lauter abgerissene Bäume, die alle verbrannt und geschwärzt sind, im Talgrunde einige Pferdekadaver und zerbrochenes Gerät, Gewehre, Granaten und Granatkörbe, hin und wieder eine Leiche.» Im Dezember 1916 wurde das Regiment an einen Ort versetzt, dessen Name in der Weltgeschichte einen ähnlich düsteren Klang hat wie Waterloo, Stalingrad oder künftig wohl auch Mariupol oder Butscha: Verdun.
An der Westfront
Verdun markierte den Übergang in eine «neue Wirklichkeit des Schlachtfeldes», wie der Historiker Jörn Leonhard resümiert. Artilleriefeuer bisher unbekannten Ausmasses – drei Millionen Granaten in den ersten achtzehn Tagen – hatte die Schlacht Ende Februar 1916 eröffnet. Der Weltkrieg zeigte sich als der erste moderne Krieg. Nicht Muskeln und Mut sollten ihn am Ende entscheiden, sondern Material – Maschinengewehre und Panzer, Flugzeuge und U-Boote. Vor Verdun kämpften die Soldaten mit Flammenwerfern und Phosgengas, Stahlhelme verdrängten lederne Pickelhauben. Plan der Armeeführung war gewesen, durch Eroberung der Festung Verdun den Feind zum Gegenangriff zu zwingen und ihm dann massive Verluste zuzufügen. Doch Frankreichs Front hielt stand.
Als Roeck Mitte Dezember 1916 vor Verdun eintraf, war gerade ein letzter Grossangriff auf die deutschen Stellungen erfolgt. «Nun wissen wir wieder, was Krieg ist. Die letzten Stunden im Waldlager waren sehr ernst», schrieb er. «Ich suchte die Umgebung ab nach Platz. Dabei trat ich in eine Baracke. Beim Aufblitzen meiner Laterne standen 2 Särge vor mir. Das hat nicht wesentlich zur Hebung der Stimmung beigetragen.» Beim Weitermarsch zu einem Unterstand blitzte am Horizont Geschützfeuer auf. «Dazu immerfort rollender Geschützdonner, den ja auch ihr hören müsst aus der gleichen Gegend wie früher, als wir zusammen darauf gehorcht haben während meines Urlaubs.»
Ganz nah war die Gefahr in der Gegend um die Ornes-Schlucht, die der Briefschreiber «Tal des Todes» nannte. «Tag und Nacht geht über uns der Feuerkampf hinweg. Es dröhnt und kracht aus allen Himmelsrichtungen, hin und wieder schlagen Geschosse überall in der Nähe ein. Heute Nacht hatten wir starke Verluste. Wie das Stöhnen der armen Teufel schlaucht, könnt ihr Euch gar nicht vorstellen. Kann denn dieses furchtbare Verbrechen nicht endlich selbst in Blut ersaufen?» Der Unterschied zum Feldzug im Osten erschien im Rückblick dramatisch. «Das ist eine Kriegführung, da war Russland doch 1000 mal schöner, das war frischer Krieg, hier ist es Scheusslichkeit, erstarrtes sich anwidern.»
Weihnachten 1916 beging Roeck mit Kameraden vor einem mit Lichtern besteckten Bäumchen. Der Versuch, «Stille Nacht» zu singen, wurde von Heimweh erstickt. «Mir gegenüber sass ein alter Leutnant, der Frau und Kinder zu Hause hat, nie werde ich das zuckende Gesicht vergessen, das mühsam die Tränen niederkämpfte.» Während der kommenden Wochen hatte Roeck alle Hände voll zu tun. Ständig wurden ihm Verwundete in den Unterstand gebracht. «Das sind Augenblicke, die man nie mehr vergisst. Diese armen Teufel, die in ihrem Blut schwimmen, die Kleider über und über mit Schlamm bedeckt, zitternd vor Kälte. Heute früh ist eine Granate in eine Gruppe von 4 Leuten hineingefahren, 3 davon waren sofort tot.»
Er erlebte jetzt den Krieg, wie er schrieb, «in seiner widerlichsten Form»: Tote Pferde lagen herum, noch gesattelt. «Die Bäume sehen aus wie riesenhafte in den Boden gesteckte Besen, und sind fast alle angebrannt. Liebes Mutterle, es ist eine harte Schule, durch die man hier geht, sie wird gut und heilsam sein, wenn man alles gut überlebt. Der Tod hier ist scheusslich, man liegt noch wochenlang im Schlamm, eh’ das Artilleriefeuer ein Begräbnis gestattet und dann holt eine einschlagende Granate manchmal die Leiche wieder aus dem Boden.» Er bat um Übersendung einer Tabakspfeife. Warum, verriet er der Mutter lieber nicht. Andere Quellen verraten den Grund: Ihr Rauch überduftete den schweren, süsslichen Hauch von Verwesung, der über den Schlachtfeldern lag.
Angst, Abscheu, Mitleid
Von Verdun wurde das Regiment Nr. 248 in die Champagne verlegt. Anfangs war es dort ungewohnt friedlich. «Die Artillerie schiesst zwar ein wenig, aber für einen Verdun-Soldaten ist es hier völlig ruhig.» Das änderte sich bald. «Der Horizont ist eine Kette von Blitzen, die Luft stinkt nach Explosionsgasen, fortwährend steigen Leuchtkugeln auf, es ist ein schaurig prächtiger Anblick.»
Als es ans Aufsammeln der Verwundeten ging, hatte Roeck ein Erlebnis, das sich tief einbrannte in seine Erinnerung. Er war in einen zerstörten Unterstand hinabgeklettert, um darin vermutete Verwundete zu bergen. Es war stockdunkel, er entzündete die Lampe. «Auf dem Boden bemerkte ich zunächst nur Zeitungen etc., bis ich plötzlich dazwischen Menschen erkennen konnte. Direkt vor meinen Füssen lag ein Kopf, das Gesicht in blaulichem Ton – die fürchterliche Gewissheit, dass hier alles zu Ende war.» Die übrigen, ein Leutnant und Telefonisten, waren verschüttet worden. «Sie mussten einen grauenhaften Tod erlitten haben. Ich stieg nun wieder hoch, denn bereits begann sich mir der Gasgeruch auf die Nerven zu legen, es wurde mir so bang und eng.»
In Angst und Abscheu mischte sich Mitleid. «Das ist kein Krieg mehr, es ist eine ununterbrochene Reihe von Scheusslichkeiten, ein Zusammenbruch aller Menschenwürde. Ich möchte mal wieder einige Stunden im inneren Haus sein und Augen und Ohren verschliessen gegen den Krieg, man ist doch auch nur ein Mensch, und die wahllose Ernte des grossen Würgeengels trifft den Mediziner als Mensch doppelt.» Der Artilleriebeschuss hielt an, Tag um Tag. «Man hat oft manchmal so genug, nicht nur vom Krieg, auch vom ganzen Leben, wenn man z. B. gestern 2 blutige Leichen gebracht erhält, lauter Väter von Kindern oder Söhne einer Mutter. Die Achtung vor dem Menschenleben ist längst vorbei, man trommelt in den Gräben die Kultur eines Jahrtausends mit Geschäftsgeist zusammen.»
Krieg, das waren Stunden mit Angst ums Leben, mit Artilleriefeuerwerk, pfeifenden Schrapnellen, Krachen der Granaten. Dann wieder flossen die Wochen ereignislos dahin. Krieg, das war auch Langeweile. In einem Stollen, zehn Meter unter der Erde, verbrachte er eine ganze Woche. «Dort dringt nie ein Sonnenstrahl hinein, man sitzt immer und ewig beim Licht der Petroleumlampe» – ungewaschen, von Ratten umzingelt, von den unvermeidlichen Läusen geplagt.
Auf die Zeit in der Champagne folgten nochmals harte Tage vor Verdun. Dann ging es nach Flandern. Ende des Jahres 1917 wurde Roeck in das Lazarett eines Artillerieregiments versetzt. «Meine Tätigkeit hier ist so aufreibend wie traurig. Ich habe in den letzten Tagen so viele Beine abschneiden müssen», berichtete er Ende Juli 1918. Ursache war meist Gasbrand, eine äusserst gefährliche, durch Bakterien verursachte Wundinfektion. Eine Serie alliierter Offensiven hatte inzwischen ihren Anfang genommen. Der letzte Akt der Tragödie begann.
Der Krieg ist nicht vorbei
Einer der letzten Briefe aus dem Feld, verfasst in einem Dorf irgendwo bei Le Cateau-Cambrésis nahe der belgischen Grenze, erreichte die Mutter Mitte Oktober 1918. Die Lage der deutschen Armee gestaltete sich aussichtslos. Roeck berichtete aus einer Welt, die aus den Fugen brach. Seinen Glauben an einen guten Gott hat ihm der Krieg genommen. «Das wäre ja eine jämmerliche Schlappheit, bei so etwas 5 lange blutige Jahre zuzusehen», schrieb er. Am Schluss des langen Briefes diskutierte er die Frage nach der Verantwortung für die Katastrophe. Als Hauptschuldige machte er «unsere in feudalen Korps oder dito Kavallerieregimentern vordressierten Salonlöwen aus», also den Adel, der Diplomatie und Heeresleitung prägte.
Die Novemberrevolution von 1918 warf ihre Schatten voraus. Sie sollte mit Ausrufung der Republik das Ende des wilhelminischen Kaiserreiches herbeiführen. «Die Sache mit der Demokratie kann nicht fort und fort mit ärgerlichem Achselzucken behandelt werden», gab der Briefschreiber zu bedenken. Seine Schlussfolgerung war eindeutig. «Ich hoffe, dass wir jetzt durch diese blutig harte Schule gehen, um gründlich mit demokratischen Ideen durchsäuert zu werden.»
Er hat die Lehre beherzigt. Seine Haltung war und blieb die eines liberalen Bürgers, der die Ideen von 1848 hochhielt. Von den Nazis sollte sich Roeck, nach dem Kriegsende und der Promotion als Arzt in Augsburg tätig, fernhalten. Die meisten seiner Kollegen vor Ort hielten es anders. Die kalte Distanz, mit der der Autor und Westfrontveteran Ernst Jünger dem Schrecklichen begegnete, widerte ihn an. Um die «Stahlgewitter» (Jünger) bewundern zu können, hatte er zu viele entstellte Leichen, zu viele blutverschmierte, verdreckte, verstümmelte Körper gesehen. Und er dachte an die Ängste und Sorgen von Abermillionen lange vergessenen Opfern seines Krieges: die Mütter. Was sie – wie Mütter zu allen Zeiten – ersehnten, waren keine stählernen Söhne, sondern lebende.
Kein Krieg ist vorbei, wenn der letzte Schuss gefallen, der Friedensvertrag unterschrieben ist. Auch der Erste Weltkrieg war es nicht. Die, die überlebten, konnten nicht vergessen. Vater Roeck rauchte Pfeife bis ins hohe Alter, obwohl es nirgendwo mehr nach Leichen stank. Wann immer es ging, strebte er in den Wald, zu den Bäumen, ins satte Grün – fort von Bildern verbrannter Baumgerippe bei Verdun oder verschlammter Schützengräben.
Vom Grauen zu reden, half, es zu bewältigen. Er erzählte mir von Amputationen, die er ohne Betäubung vornehmen musste; sprach von den letzten Worten eines namenlosen englischen Soldaten, der unter seinen Händen starb; von den leeren Augen der Toten. Wenn der Schriftsteller Ludwig Harig über seinen Vater, ebenfalls einen Erstweltkriegsveteranen, schrieb, ein guter Teil von dessen Leben sei vor Verdun und an der Somme vergraben, dann galt das auch für meinen.
Bernd Roeck ist emeritierter Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich.
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