Freitag, Oktober 25

Der Schriftsteller Clemens Böckmann lässt in seinem formidablen Romandebüt Wahn und Wirklichkeit der DDR noch einmal gegenwärtig werden.

Noch ein DDR-Roman? Ja, aber was für einer! Die Geschichte einer Frau, die das Leben liebt und damit in einem lebensfeindlichen Staat über die Runden zu kommen versucht. Während zwischen Zwickau und Karl-Marx-Stadt rentnerbeige Muffigkeit herrscht, will sie Spass, will alles Schöne, und deshalb heisst Clemens Böckmanns erstaunliches, melancholisch-anrührendes Debüt auch: «Was du kriegen kannst».

Viel gab es nicht in der ostdeutschen Provinz der siebziger Jahre, von denen hier erzählt wird. Mit ihrer Freundin Gisi sitzt die junge Möbelverkäuferin Uta Lohtner abends oft in der Zwickauer Wohnung. Vom Erkerfenster aus hat man den Eingang der Astro-Bar im Blick. Nähern sich gepflegte Männer, ist man bereit für ein kleines Abenteuer. Man lässt sich Getränke spendieren.

Wenn man Glück hat, sind die Männer sogar aus dem Ausland. Amerikaner, die versuchen, Geschäfte anzubahnen. Industrieanlagenmonteure aus Frankreich, die ein paar Monate im Land verbringen und sich über Gesellschaft freuen. Aus ihrer Heimat bringen sie bald Geschenke mit. Strümpfe, Parfums, Handtaschen. Nichts grosses, aber hier geht es auch nur um ein kleines Glück.

Moralische Doppelbödigkeit

Uta, Gisi und noch ein paar Freundinnen mehr sind nicht wählerisch. Die langen Nächte lassen sich in beidseitigem Einverständnis erotisch noch verlängern. Am nächsten Tag bereut man nichts, weil es noch viele weitere Tage geben wird, an denen man mit dem Gedanken aufwacht, nichts bereuen zu wollen.

Aus diesen Sachverhalten hätte sich eine chansonhafte Geschichte machen lassen. Verrauchte Bars, viele Drinks, Leichtfüssigkeit in Stöckelschuhen. Ein bisschen VEB Möbelkombinat. Clemens Böckmann, der die Muthesius Kunsthochschule in Kiel im Bereich Sprache und Gestalt abgeschlossen hat, will aber mehr, und das gelingt ihm auf faszinierende Weise. Sein Roman stellt die moralische Doppelbödigkeit eines Privatlebens neben die des Staates. Gefühlsleben neben DDR-Raison. Das Spannende daran: in der Geschichte der Uta L. ergänzt sich schliesslich beides aufs Beste.

Die Polizei und das Ministerium für Staatssicherheit werden bald aufmerksam auf die Vorgänge rund um die Zwickauer Bar. In den amtlichen Protokollen über die jungen Frauen heisst es: «Alle Genannten werden als männertoll eingeschätzt.» Das stört die Stasi wenig. Sie nimmt Kontakt zu Uta auf und ermuntert sie mit dem üblichen politischen Druck, ihr Verhalten zum Nutzen des Gemeinwohls einzusetzen. 1973 wird die junge Frau unter dem Decknamen «Anna» Mitarbeiterin der Behörden. Sie soll internationale Gäste bei der Leipziger Messe ausspionieren oder unzuverlässige Kader.

Erzählt wird das in «Was du kriegen kannst» multiperspektivisch. Da ist die Gegenwart, in der ein Ich mit der mittlerweile gealterten Ex-Alkoholikerin Lohtner auf den Schauplätzen ihres Lebens unterwegs ist. Aus ihrer Geschichte soll ein Buch werden. Dann gibt es noch die Stasi-Protokolle über die politische Prostituierte und auch noch die von ihr selbst verfassten Berichte.

Was ist Wirklichkeit?

Man liest ein Drama zerstörter Hoffnungen, einen grossen Desillusionierungsroman. Clemens Böckmann erzählt von einer Familiengeschichte, in der die Heldin das Idyll des Erzgebirges gegen die entzauberte Wirklichkeit der Stasi-Arbeit tauscht. Was als Suche nach Nähe begann, kann dem stählernen Griff der Macht nicht mehr entkommen. Ist Uta L. Opfer oder Täterin?

Der Roman verwandelt das Modell des überwachungsstaatlichen Ausspähens in einen erzählerischen Trick. Durch diesen wird die Tristesse des DDR-Alltags genauso sichtbar wie die verzweifelte Suche nach einem Lebenszweck und ein bisschen Unterhaltung.

Mit den Beobachtungen aus Utas Protokollen dringt man in die Wohnungen vermeintlicher Staatsfeinde ein. Das dortige Inventar wird genauestens beschrieben und daraufhin geprüft, ob es zum beruflich möglichen Lebensstandard des Betroffenen passt. Offenkundiger Luxus wäre verdächtig. Nicht viel weniger verdächtig ist allerdings unauffälliges Verhalten. Wer könnte da noch sagen, was die Wahrheit ist?

Kaleidoskophaft setzt sich in Clemens Böckmanns Roman eine DDR-Wirklichkeit zusammen, die von Paranoia geprägt ist. Diese Überschärfe der Wahrnehmung wird auch zum Stilmittel des Romans. Manche Passagen erinnern an den Hyperrealismus eines Alexander Kluge, aber wie es so ist mit dem Hyperrealismus: Man sieht alles und damit am Ende auch wieder nichts. Clemens Böckmann inszeniert dieses Dilemma ganz bewusst. Die Frau, die er beschreiben soll, scheint sich unter den Wörtern, die er für sie finden will, zu verflüchtigen. Sie ist wie der Staat, mit dem sie zusammengearbeitet hat: der Schatten eines Schattens der Geschichte.

Clemens Böckmann: Was du kriegen kannst. Roman. Hanser-Verlag, München 2024. 416 S., Fr. 35.90.

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