Sonntag, November 24

Der Ruf des Goldes bedroht die Existenz der Indigenen. Seit einem halben Jahrhundert sind sie den Goldsuchern ausgeliefert.

Im Februar 1965 kam der Missionar Carlo Zacquini nach Boa Vista. Die nördlichste Stadt Brasiliens mitten im Regenwald war damals noch ein Dorf mit 5000 Einwohnern am Ufer des mächtigen Río Branco. Dort sollte der 28-Jährige für den katholischen Consolata-Orden eine Berufsschule für Indigene aufbauen. Die Anfang des 20. Jahrhunderts in Italien gegründete Mission wollte die Urvölker zum Evangelium bekehren.

Zacquini begegnet in der Mission den ersten Indigenen. Er ist fasziniert – und neugierig. Zwei Jahre später bringt ihn eine Propellermaschine zu einem Missionsbruder in den Regenwald an der Grenze zu Venezuela. Schnell ist er überfordert. Mit den Menschen kann er sich kaum verständigen. Es gibt wenig zu essen. Er hat ein Gewehr dabei, um zu jagen. Die Beute wird geteilt. Das verschafft ihm Zugang zur verschlossenen Gemeinschaft.

Als Monate später das Flugzeug kommt, um ihn abzuholen, ist er vor Hunger und Krankheit so geschwächt, dass er kaum einsteigen kann. Er verbringt zwei Monate im Krankenhaus von Boa Vista. Er beginnt, die Evangelisierung als Missionar zu hinterfragen.

Eine Strasse verändert alles

Als er entlassen wird, fliegt er am nächsten Tag wieder in den Regenwald. Erst Jahre später erfährt er, dass es Yanomami sind, die er nun immer besser kennenlernt. Fast ein Jahrzehnt braucht er, um ihre Sprache zu lernen. Besser: die Sprachen. «Seine» Yanomami sprechen drei verschiedene Idiome. Es gibt Wörter, deren Doppelbedeutung sie ihm, dem «Nicht-Yanomami», vorenthalten.

Aber sie öffnen sich. Sie respektieren ihn mehr und mehr. Sie erzählen ihm von ihrer Weltanschauung, von ihrer Religion. «Ich selbst habe nie über meine Religion gesprochen», sagt Zacquini im Gespräch in Boa Vista. «Ich wollte, dass sie irgendwann selbst fragen.»

Doch dazu kommt es nicht mehr. Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, ist es vorbei mit der Idylle. Die Militärregierung lässt 1973 eine Strasse durch den Regenwald bauen. Sie soll Fortschritt bringen. Die Indigenen kommen mit den Bauarbeitern in Kontakt. Sie sind fasziniert von der neuen Welt, die sich ihnen eröffnet. «Plötzlich sprachen sie vom lieben Gott im Himmel.»

Innerhalb weniger Monate grassieren im Regenwald Masern und schwere Grippeinfektionen. «Ich wurde Arzt, Krankenpfleger», erinnert sich Zacquini. «Es war eine Tragödie, ein Massaker.» Er macht tagelange Fussmärsche zu weitgehend isolierten indigenen Gruppen. In kurzer Zeit sterben halbe Dörfer. Die Schamanen sind verzweifelt, weil ihre Heilkunst versagt.

Doch der Strassenbau ist nur der Vorbote von Schlimmerem. Über die Urwaldpiste folgen die Goldsucher, die Garimpeiros. Die Flüsse der Region sind reich an dem Edelmetall. Tausende von Glücksrittern kommen in den Regenwald. Die ersten Fotos der mittelalterlich anmutenden Gold-Claims mit den lehmverschmierten Goldsuchern des Fotografen Sebastião Salgado gehen um die Welt. Zum ersten Mal nimmt die Weltöffentlichkeit das Drama wahr, das sich im Regenwald abspielt.

Schweizer Fotografin hält den Untergang der Yanomami fest

Das liegt auch an den Bildern, welche die Schweizer Fotografin Claudia Andujar weltweit in renommierten Medien veröffentlicht. Sie fotografiert die Yanomami immer wieder. Der Genfer Ethnograf René Fürst hat Andujar auf die Yanomami und den italienischen Missionar, der ihre Sprache spricht, aufmerksam gemacht.

Andujar heisst eigentlich Claudine Haas, geboren in Neuenburg. Sie kommt 1955 24-jährig nach Brasilien. Ihr Vater war ein ungarischer Jude, der mit einem Grossteil seiner Familie im Konzentrationslager ermordet wurde. Ihre Schweizer Mutter und sie konnten sich retten. Zuerst in die USA, dann nach Brasilien.

René Fürst kauft bei den Yanomami Ausstellungsstücke für europäische Museen. Mit Zacquini hat er sich angefreundet. «Von ihm habe ich viel über Ethnologie gelernt», sagt Zacquini. Andujar kommt Anfang der 1970er Jahre zum ersten Mal in den Regenwald. Sie fotografiert die Yanomami in ihrer damals noch unberührten Natur. Es sind Bilder wie aus dem Paradies.

Zacquini und andere sorgen dafür, dass ausländische Ärzte zu den Yanomami kommen. Andujar fotografiert die Indigenen in Schwarz-Weiss, damit die Ärzte sie identifizieren können. Die Fotos berühren in ihrer Unschuld. «Marcados» wird sie die Serie später nennen. Markiert – zum Sterben?

Mit dem Bau der Strasse und dem Zustrom der Goldsucher verändern sich Andujars Fotos: Sie zeigen Indigene mit Schutzhelmen der Baufirma. In zerrissenen Hemden der Goldsucher. Mit getrübtem Blick in heruntergekommenen Holzbaracken. Auch diese Bilder gehen um die Welt. Wie im Zeitraffer hält Andujar in ihren Fotoserien den Untergang eines Volkes fest. Sie sind heute in den grossen Museen der Welt zu sehen.

Das Militär weist die Ärzte aus. Die Indigenenbehörde verbietet Andujar den Aufenthalt im Reservat. Zacquini darf bleiben, wird nicht wie andere Missionare von der Militärregierung ausgewiesen. Doch der Druck aus dem Ausland wächst. Die Weltöffentlichkeit fordert Schutz für die Yanomami. Andujar tritt im Ausland auf, wirbt für Unterstützung.

Zacquini zeichnet mit Mitstreitern die Grenzen eines möglichen Schutzgebietes. Die Armee hat ihm geheime Karten zugespielt. Die Yanomami leben im Grenzgebiet zu Venezuela. Die Militärs befürchten, dass ausländische Mächte unter dem Vorwand des Regenwaldschutzes das Amazonasgebiet besetzen könnten. Der französische Präsident François Mitterrand schlägt 1989 vor, Brasilien solle im Interesse der Umwelt auf die Souveränität über das Amazonasgebiet verzichten. Pop-Stars wie Sting treten gemeinsam mit brasilianischen Indigenen auf und fordern deren Schutz.

Per Dekret entsteht das grösste Indigenenreservat der Tropen

1992 schliesslich findet in Rio de Janeiro die Uno-Konferenz für Umwelt und Entwicklung («Erdgipfel») statt. Fernando Collor, der erste direkt gewählte Präsident der jungen Demokratie Brasiliens, sieht einen Ausweg, um den Druck auf das Land in der Umwelt- und Indigenenfrage zu verringern: Er erklärt kurzerhand ein Gebiet von der Grösse Portugals zum Indigenenreservat der Yanomami.

Es ist bis heute das weltweit grösste indigene Schutzgebiet in den Tropen. Dort leben 30 000 Indigene, die grosse Mehrheit sind Yanomami. Jenseits der Grenze in Venezuela könnten es noch einmal 6000 bis 7000 sein, schätzt Zacquini.

Er empfängt auf dem weitläufigen Gelände der Mission Consolato, inmitten von Mangobäumen und Bananenstauden. Früher lag die Mission auf dem Land, heute liegt sie nahe dem Zentrum von Boa Vista am Fluss. Das Dorf ist zur Hauptstadt des Gliedstaates Roraima geworden. 450 000 Menschen leben nun hier. Auf dem zentralen Platz steht das Denkmal eines Goldsuchers mit seiner Schürfwanne, in Gedenken an die Pioniere. Jeder Taxifahrer und Kellner kennt den Tagespreis für eine Unze Gold.

Zacquini hat in der Mission ein indigenes Dokumentationszentrum eingerichtet. Zuletzt war er vor zwei Jahren im Yanomami-Reservat, zum 30-Jahre-Jubiläum der Gründung. Der 87-Jährige ist hellwach, präzise, uneitel und verfolgt das anhaltende Drama der Yanomami aus nächster Nähe. Ihre tragische Geschichte scheint sich in einer Endlosschleife zu wiederholen.

Kampf gegen die Goldsucher

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte im Januar 2023, nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt, den Gesundheitsnotstand für die Yanomami ausgerufen. Im Reservat verhungerten Indigene und starben an Malaria. Die Hälfte der indigenen Kinder litt an schwerer Unterernährung. Pausenlos flogen Militärmaschinen in den folgenden Wochen Kranke aus dem Reservat nach Boa Vista. Die Bilder der abgemagerten Babys und Mütter sind die Fortsetzung von Andujars tragischer Chronik. Heute fotografiert und dokumentiert sie nicht mehr. Die 93-Jährige ist krank und lebt in São Paulo.

Rund 20 000 illegale Goldsucher hielten sich Anfang Jahr nach Schätzungen der Regierung illegal im Reservat auf. Lula machte dafür seinen Vorgänger Jair Bolsonaro verantwortlich. Dieser vertrat die Interessen der Goldsucher und vernachlässigte die Institutionen zum Schutz von Umwelt und Indigenen. Seit der Goldpreis 2019 zu steigen begann und sich seither verdoppelt hat, strömten die Goldsucher ungehindert in das Reservat.

Seit Anfang des Jahres macht die Regierung Lula nun Druck. Sie schickte Nilton Tubino, ihren Mann fürs Grobe, nach Boa Vista. Im fernen Brasilia nennt man ihn «Lulas Indiana Jones». Er soll die Goldsucher aus dem Reservat vertreiben. Tubino hat eine Task-Force aus Militär, Polizei, Umweltbehörden, Drogenfahndern und Indigenenexperten zusammengestellt. Mit ihnen zieht er systematisch die Schlinge um die Goldsucher zu.

Der 63-jährige joviale Technokrat setzt bei der Logistik an: «Wir kappen die Nachschublinien der Goldsucher.» Wenn der Preis für das Schürfen den Ertrag übersteige, suchten sich die Goldsucher neue Claims, sagt er und zeigt in seinem Büro in Boa Vista die Karte. Mit symbolischen Flugzeugen sind zahlreiche illegale Landepisten rund um das Schutzgebiet markiert. «Wir zerstören eine Landebahn nach der anderen», sagt er. «Und zwei Tage später sind wir wieder da und sorgen dafür, dass sie nicht repariert wird.»

Im Reservat ist es genauso: Dort verbrennen seine Truppen die Flugzeuge und Helikopter, die Maschinen, die Generatoren. 45 Baggerschiffe haben sie versenkt, 90 Starlink-Schüsseln für Satellitentelefone zerstört. Widerstand gibt es nie. Die Goldsucher verstecken sich im Wald, wenn sie einen Helikopter oder ein Flugzeug hören. Die Flüsse ins Reservat sind mit Stahlseilen versperrt.

Trotzdem hat sich die Situation für die Indigenen nicht verbessert. Lulas Ministerin für indigene Angelegenheiten schätzt, dass zurzeit noch 7000 Goldsucher im Reservat sind. Im vergangenen Jahr starben 300 Indigene an Krankheiten, die Hälfte von ihnen Kinder unter vier Jahren. Gewalt und Hunger nähmen zu, heisst es. Paradoxerweise auch, weil die Goldsucher verschwinden: Sie gaben den Yanomami Arbeit, Reis und Bohnen. Jetzt fehlen sie.

Der Yanomami-Schamane Davi Kopenawa ist in diesen Tagen in Europa unterwegs. Er kritisiert die Regierung Lula. Der Kampf der brasilianischen Regierung gegen die Goldsucher sei gescheitert, sagt er in der «Zeit». Er fordert, dass der Luftraum über dem Reservat gesperrt wird. Er will Militär im Reservat.

Die Yanomami werden immer staatlichen Schutz brauchen

Tubino sieht das anders. Er sieht Fortschritte. Die sechs Gesundheitsstationen im Schutzgebiet seien wieder geöffnet. Lebensmittelpakete würden verteilt. Aber auch er weiss: «Das Reservat wird immer unseren Schutz brauchen. Die Goldgräber warten ab. Sie werden sofort wiederkommen, wenn wir nicht mehr da sind.»

Noch läuft sein Mandat bis Ende 2026, bis zum Ende der Regierung Lula. Tubino weiss, dass er in Boa Vista sehr unbeliebt ist. Sicherheitshalber meidet er die Öffentlichkeit. Er rät, sich in Boa Vista besser nicht als Journalist zu erkennen zu geben. «Die mögen euch hier nicht.»

Es muss etwas mit dem Glauben zu tun haben, dass der Missionar Zacquini nach fast 60 Jahren, in denen er die Yanomami begleitet und ihren stetigen Niedergang miterlebt hat, nicht völlig frustriert ist. Was macht ihn zuversichtlich? «Ich setze grosse Hoffnungen in die jungen, neuen Führer der Yanomami. Davi Kopenawa ist ein Vorbild. Wir müssen die neue Generation stärken, damit sie ihr Volk verteidigen kann.»

Auch im eigenen Interesse, räumt der Missionar ein. Schliesslich sei dies vielleicht die letzte Chance auch für die katholische Kirche zu zeigen, dass sie nicht blind sei und ihren Fanatismus bei der Missionierung indigener Völker abgelegt habe. «Hier könnte das noch funktionieren», meint er.

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